Donnerstag, 14. April 2016

Juli Zeh: Unterleuten (2016)




Jeder gegen jeden in Brandenburg 

»Mit dem Dorf stimmt was nicht. Ganz massiv.« (434)
Sagt Mirjam, die 18-jährige Tochter des Kfz-Mechanikers Schaller, der seit einem schweren Verkehrsunfall zwei Jahre zuvor unter einer Teilamnesie leidet und sich am wohlsten fühlt, wenn er alleine und ungestört an kaputten Autos arbeiten kann, der Duft von Motorenöl in der Nase. Doch alleine zu leben ist ein frommer Wunsch. Jeder hat ökonomische Bedürfnisse, Nachbarn, eine Geschichte – gerade in einem abgelegenen Dorf, in dem oft schon die jeweiligen Großeltern miteinander zu tun hatten. Wenn dann noch die Routine gestört wird, zum Beispiel durch Neuzuzüger oder in Form eines geplanten Windparks, gerät das soziale Gefüge in Bewegung, Bündnisse kommen auf den Prüfstand, Risse treten zutage, Leichen im Keller erweisen sich als Untote.

Juli Zehs 6oo-seitiger Roman über die brandenburgische Gemeinde mit dem programmatischen Namen Unterleuten erzählt von der Schwierigkeit eines friedlichen Zusammenlebens auf Dauer. Das Personal besteht aus rund einem Dutzend Figuren, deren Familiennamen am Beginn eines Kapitels jeweils ankündigen, aus wessen Optik das Folgende erzählt wird: Gombrowski, Kron, Franzen, Seidel, Schaller etc. Literarische Vorbilder für dieses Erzählverfahren sind z.B. ›Manhattan Transfer‹ (Dos Passos, 1925) oder ›Tauben im Gras‹ (Koeppen, 1951) und wie dort besteht der Mehrgewinn darin, dass wir viele Ereignisse und Geschichten mit unterschiedlichen Wertungen und Färbungen erfahren. Den spezifischen Blickwinkel, das individuelle Biotop, das jede Figur darstellt, kommen mehr zu ihrem Recht. Das Gesamtbild schillert und changiert, was die Lektüre bereichert und auch anspruchsvoller macht.

Die Abwechslung, die daraus folgt, mag nebst dem Namen der Autorin einer der Gründe dafür sein, warum ich mich mit einem Roman befasse, dessen Schauplatz mich erstmal gar nicht interessiert. Aber so richtig gar nicht. Warum ich mir also in epischem Breite von den üblichen Belanglosigkeiten eines durchschnittlichen Kaffs erzählen lasse.

Ein zweiter Grund ergibt sich durch die Wahl des Personals. Hier ist es bestimmt kein Zufall, dass meine Favoriten die beiden Berliner Paare sind, die aus ganz unterschiedlichen Motiven aufs Land gezogen sind. Denn eins ist klar: Berlin und Unterleuten sind zwar geografisch gesehen bloß 70 km weit voneinander entfernt, de facto aber müsste man die Differenz zwischen der Hauptstadt und dem brandenburgischen Hillibillycountry so beschreiben, wie ich es einmal in einem (ansonsten leider schlechten) Sci-Fi-Film ganz grandios formuliert gehört habe und in dem sich eine amazonenhafte Schöne von einem sie anhimmelnden Jüngling abgegrenzt hat. Das klang etwa so: ›Wenn dein Universum explodierte, würde es Lichtjahre dauern, bis ich in meinem Universum etwas davon mitbekäme‹.

In den Augen der alteingesessenen Unterleutnern  ist eine Stadt wie Berlin allenfalls »eine Ansammlung von haushoch gestapelten Heimatlosen« (249). sagt der bärbeißige Gombroski, und übrhaupt verhandelt Juli Zeh dieses dankbare Konfliktpotenzial zwischen Stadt und Land auf sehr humoristische Weise. In diesem wie auch in anderen Bereichen gibt es bedeutend mehr zu lachen als in ihrem letzten Roman ›Nullzeit‹ (2012).

Zurück zu den vier Stadtmenschen: Da ist Linda Franzen, eine 25-jährige geschäftstüchtige Pferdeflüsterin: burschikos, ehrgeizig,  gescheit, scharfe Kanten, ein »Mover« (264), um es in der Terminologie Ihres Lieblingsratgebers Mein Erfolg zu sagen, den die Erzählerin mehrfach und zwar sarkastisch zitiert – Buch wie Autor sind übrigens erfunden und von Zeh aufwendig virtuell inszeniert worden. Ihr Partner Frederik Wachs ist – es genügt der Name – ein Computernerd mit dem Spezialgebiet Spiele-Software, langhaarig und unpraktisch veranlagt, er »sah nett aus und ein bisschen albern, typischer Wahl-Berliner, mit ausgelatschten Turnschuhen, künstlerischen Ambitionen und dem festen Entschluss, lieber zu sterben als erwachsen zu werden.« (174)

Der geschäftlich enorm erfolgreiche Frederik hat sich nicht aus bloßer Liebe darauf eingelassen, seinen Techniktempel in die Pampa zu verlegen, sondern aus schierer Alternativlosigkeit. Einschlägigen Internetforen, in denen sich betroffene Partner sogenannter »Rossfrauen« austauschen, verdankt er die Erkenntnis, dass eine solche, von einem Gangster vor die Wahl gestellt, ganz bestimmt den Mann und nicht ihr Pferd opfern würde.
»Dass die Teilnehmer ›man(n) muss wissen‹ schrieben, nervte Frederik nicht weniger als das weibliche Pendant ›frau weiß nie‹ in feministischen Quasselgruppen. trotzdem hatten seine Schicksalsgenossen recht mit ihrer Analyse. Der Kern des Problems bestand darin, dass ›man(n)‹ mit einer fremden Spezies konkurrieren musste, Man(n) konnte von Natur aus nicht größer, schneller, behaarter, muskulöser sein als ein Pferd. Jede Form von Wettkampf war chancenlos. (137)
Die Autorin hat hier ein hübsches Paar kreiert, von dem man aufgrund gewisser Untiefen wirklich gespannt ist, wie es sich im Nahkampf des Brandenburgischen Dschungels weiterentwickelt. Spektakulär ist auch die Szene, wenn eine Frau vom Kaliber einer Linda Franzen mit dem 6o-jährigen, selbstgefälligen Geschäftsmann Meiler (!) aus Ingolstadt die Klingen kreuzt, und zwar im Berliner Adlon. Eine meiner Lieblingszenen.

Das zweite zugezogene Paar besteht aus dem Ex-Politologieprofessor und Neuornithologen Gerhard Fließ und seiner ehemaligen Studentin Jule Weiland. Zwischen ihnen beiden liegen nicht nur glatte 20 Jahre, sondern auch die Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Sophie sechs Monate zuvor. Während der bis in die Knochen politisierte Fließ sich ganz seiner Veranlagung gemäß umweltschützerisch verausgabt und sich mit seinen Briefen und behördlichen Drohgebärden im Dorf vor allem Feinde macht, ist die junge Mutter vor allem erstmal Mutter im fortgeschrittenen Hormonhoch:
»Sie begriff die Nichtigkeiten nicht mehr, mit denen sich andere Menschen beschäftigten. Die Welt bestand nur noch aus Leuten, die nicht in der Lage waren, Sophie angemessen zu behandeln. […] Gelegentlich erinnerte sich Jule daran, was sie vor der Geburt über Mütter gesagt hatte, die wie Affen an ihren Babys hingen. Das galt immer noch. Aber es waren eben andere Babys und nicht Sophie.« 120
Beide Paare sind als Neulinge noch Fremdkörper in Unterleuten, beiden droht Ungemach. Hier setzt die Romanhandlung an. Der militante Vogelschützer Fließ will alle baulichen Maßnahmen verbieten, die seine Vögel gefährden könnten, Franzen braucht Land für ihre geplante Pferdezucht. Wer aber die bestehenden Strukturen und Gepflogenheiten nicht kennt oder nicht kennen will, gerät so ungewollt wie unweigerlich auf Widerstand und betritt früher oder später das verminte Gelände einer alten Fehde zwischen den beiden dörflichen Widersachern Kron und Gombrowski. Deren Konflikt reicht Generationen zurück, hier spielt die DDR-Geschichte eine nicht unwichtige Rolle, und es ist einer der Spannungsbogen des Romans, wie sich dieser Erzählstrang entwickelt.

Den zweiten großen Spannungsbogen und das Handlungsmoment, das für die gesellschaftliche Ordnung einer Zerreißprobe darstellt, bildet der Einbruch der Realpolitik in Form eines Windparks. Der smarte Firmenherold namens Pilz, der in der Dorfkneipe die windbewegte Zukunft des Dorfs rosa ausmalt, tritt mit dem Selbstbewusstsein desjenigen auf, der weiß, dass der Entscheid bereits gefallen ist und sich einzig noch die Frage stellt, wer daran verdienen will und wird.

Mit dieser Frage ist der Roman endgültig lanciert. Verteilkampf und Grabenkrieg, Gerüchteküche, üble Nachrede und und fliegende Lagerwechsel. Wer hat die Finger im Spiel, wusste schon vorher davon und hat was mit wem vereinbart? Man erfährt immer mehr über die Vergangenheit der einzelnen Individuen und Familien, und je mehr man über sie erfährt, desto weniger weiß man, wem man welches Schicksal gönnt oder wünscht, so unüberschaubar ist die Kette von unglücklichen Existenzen und Liaisons, geplatzten Träumen und verpufften Energien.

»Jeder sitzt auf seiner Beute und schlägt nach den anderen.« (Schaller, 354)

Getragen wird das Ganze zum einen von in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden luziden und inspirierenden Betrachtungen, zum Beispiel zur Opfer-Täter-Thematik in der rumorenden Nachwendezeit:
»Wer sich enteignet fühlte, nahm sich etwas anderes zur Entschädigung und erzählte über jenen, dem es gehörte, die schlimmsten Geschichten. Grundsätzlich waren die eigenen Kinder nicht aus Dummheit, sondern aus politischen Gründen durchs Abitur gefallen. Berufliches Scheitern taugte plötzlich als Beweis für geleisteten Widerstand gegen das Unrechtssystem, so dass die größten Versager mit geschwellter Brust umherstolzierten und den Erfolgreichen vorwarfen, sie hätten auf den Schößen der Bonzen gesessen.« (438) 
Oder über die tiefere Wahrheit der gerne idealisierten Hilfsbereitschaft:
»Jeder geleistete Gefallen stellte eine Investition in die Zukunft dar. Denn so lautete die Definition von Macht: die Möglichkeit, in Zukunft von einem anderen etwas zu verlangen. Entsprechend groß war die Hilfsbereitschaft« (362) 
Zum andern lebt der Roman wie zuletzt ›Spieltrieb‹ (2004) von der sprachlichen Brillianz und Formulierungslust Juli Zehs, ihren schräschönen Vergleichen und zugespitzten Beschreibungen. Sie retten einen auch über das eine oder andere etwas längliche Kapitel, in dem sich eine Figur um sich selbst dreht.

»Linda war das Gegenteil der Loveparade, und die Loveparade war tot.« (418)
»Dann sehnte er sich nach dem Holz- und Farbgeruch von Objekt 108 und nach Lindas Art, das Leben mit beiden Händen zu würgen – so wie er sich jetzt nach der Berliner Uneigentlichkeit sehnte.« (244)
»Das neue Wundergerät hatte Frederik bei einem Potsdamer Fachgeschäft bestellt, in dem über Kaffeesorten so blumig geredet wurde wie andernorts über moderne Kunst.« (296)
»Fließ holte tief Luft und bemerkte erstaunt, dass die Sprechmaschine keinen Nachschub lieferte.« (271)
»Die Worte ›gesundheitsschädlich‹ und ›Sophie‹ ließen Jules Verstand in den nächsten Gang schalten. Sie schaute sich im Saal um. es roch noch immer nach Bratenfett und war viel zu warm. Um sie herum saßen die Dörfler wie Vieh, das nicht wusste, ob es auf Schlachtbank oder Futter wartete. Vorne stand die Brillenschlange vor den Photos von Windmühlen im Sonnenuntergang.« (125)

Steht am Ende der Lektüre ein Erkenntnisgewinn über das trübe Dasein im brandenburgischen Land oder die Machenschaften in ländlichen Gefilden? Wohl kaum. Man konnte es sich so oder ähnlich vorstellen. Der Roman bietet eher ansprechende Unterhaltung auf gehobenem Niveau zum zwischenmenschlichen Allerlei mit Abstechern in die Psychologie und Sozialphilosophie.
Juli Zeh zu lesen, ist für mich immer ein Vergnügen, gerade auch wegen der Leichtigkeit und Schärfe ihres Tons. Und dass sie es schafft, dass man über mehr als 600 Seiten mühelos dran bleibt, spricht dafür, dass sie mich nach wie vor inspiriert und etwas zu erzählen hat, was andere so nicht erzählen.


Angaben:
Juli Zeh: Unterleuten.
Erste Auflage. 635 Seiten.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016.

Freitag, 8. April 2016

Robert Seethaler: Der Trafikant (2012)



Wien 1937, ein halbes Jahr, bevor Österreich Ostmark heißen wird. Franz Huchel, ein Junge vom Land mit Dreck an den Schuhen kommt in die große Stadt, um etwas zu werden, das er noch nicht ist, zum Beispiel ein Mann. Die Mutter hat ihn geschickt (ein Vater kommt nicht vor), schweren Herzens und unter der Bedingung, dass er sie auf dem Laufenden hält. Eine Karte pro Woche. Nicht mehr, nicht weniger.  Diese Korrespondenz zieht sich wie ein roter faden durch den Roman.

Nun arbeitet Franz in der Trafik (=Kiosk) des kriegsversehrten Otto Trsnjek. Schon bald lernt er Sigmund Freud kennen, der bei Trsnjek seine Zigarren und Zeitungen kauft und von ihm respektvoll mit ›Herr Professor‹ begrüßt wird. Und bei einem Besuch auf dem Prater begegnet er Anezka, einer drallen Böhmin mit der schönsten Zahnlücke der Welt – und einem Eigenleben.

Trsnjek lehrt Franz das Handwerk des Trafikanten, das darin besteht, die Zeitungen zu lesen, die abenteuerlichen Werbetexte der Zigarrenmarken auswendig zu lernen und die Wünsche der Stammkunden zu verinnerlichen. Außerdem lernt Franz von Otto, was eine Weltanschauung ist.

Von Freud lernt Franz, seine Regungen und Gefühle zu reflektieren und seinen Träumen mehr Ausfmerksamkeit zu widmen. Der alternde Psychiater genießt im Gegenzug die jugendlich unverstellte Frische seiner Erzählungen, die wie eine Frühlingsbrise seinen therapeutischen Alltagstrott durchlüften und ihn gleichzeitig herausfordern.

Und was lernt er von Anezka? – Cherchez la femme. Bei der ersten Begegnung sieht ihn die drei Jahre ältere zunächst an »wie eine Zoobesucherin ein vom Aussterben bedrohtes Tier« (52), um kurz darauf sein »scheenes Popscherl« zu loben. Auf seinem schönen Hintern lässt sie ihn dann allerdings erstmal sitzen. Willkommen in der anstrengenden Welt der Liebe – doch gut für Franz, dass er mit Freud einen kompetenten Bekannten hat, der dazu gerne einige schöne Sätze beisteuert – diesen Spaß lässt sich Seethaler nicht nehmen. Zum Beispiel diesen:
»Die richtige Frau zu finden ist eine der schwierigsten Aufgaben der Zivilisation. Und jeder von uns muss sie vollkommen alleine bewältigen. Wir kommen alleine zur Welt und wir sterben alleine. Doch gegenüber der Einsamkeit, die wir empfinden, wenn wir zum ersten Mal vor einer schönen Frau stehen, wirken Geburt und Tod geradezu wie gesellschaftliche Großereignisse.« (140f.)
Franz beginnt damit, seine Träume aufzuschreiben und irgendwann hängt er die kryptischen Traumzettel sogar an die Außenwand der Trafik, was den Roman um eine zusätzliche anregende Dimension bereichert, nicht unähnlich den Postkarten an die Mama – die beispielsweise irgendwann zur ›Mutter‹ wird.

Die Träume drehen sich nämlich nicht bloß um sein Liebesleben oder sein Heimweh nach der idyllischen Welt der unbeschwerten Kindheit auf dem Land, sie spiegeln auch durchwegs die gesellschaftspolitischen Veränderungen, die mit zunehmender Dauer immer mehr ins Blickfeld des Jungen und damit des Romans rücken. Impressionen der Mutter vom Land:
»Stell dir vor, sogar im Wirtshaus und in der Schule hängt jetzt der Hitler. Direkt neben dem Jesus. Dabei weiß man doch gar nicht, was die beiden voneinander halten. Leider ist das schöne Auto vom Preininger beschlagnahmt worden. So nennt man das heute, wenn Sachen verschwinden und irgendwo anders wieder auftauchen.« (168)
Dass die kleinen und großen Hitlers, die im Wien der Vorkriegszeit immer prominenter auftreten, nicht von Anfang an eine große Rolle spielen, ist als weitere Stärke des Romans zu werten. Nichts zu diesem Thema wirkt aufgesetzt oder gewollt, alles wird fein mit der Hauptfigur versponnen und so erzählt, dass es notwendig zum natürlichen Bestandteil der Entwicklung von Franz wird.

Und doch hat der Höhepunkt des Romans mit Politik zu tun. Denn Franz erinnert sich an eine ziemlich resignative, nicht ganz leicht verständliche, aber jedenfalls interessante Aussage, die Freud in ihrem letzten Gespräch vor dessen Flucht aus Wien ihm gegenüber traf. Sie war teil seiner Reaktion auf Franz' Frage, in welche Richtung er sein Leben steuern soll.
»Wir kommen nicht auf die Welt, um Antworten zu finden, sondern um Fragen zu stellen. Man tapst sozusagen in einer immerwährenden Dunkelheit herum, und nur mit viel Glück sieht man manchmal ein Lichtlein aufflammen. Und nur mit viel Mut oder Beharrlichkeit oder am besten mit allem zusammen kann man hie und da selber ein Zeichen setzen.« (224)
Fazit: Ich habe den Roman und seine süffige Sprache sehr gerne gelesen, eine gediegene Mischung aus Fact und Fiction, tief, mit feinsinnigem Humor, mit Liebe zu den Figuren, ohne kitschig zu sein, und außerdem spannend.

Der Trafikant. Kein und Aber. Zürich/Berlin 2012/13. 250 Seiten.

Sonntag, 3. April 2016

Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal (2014)



Überwiegend Überwinder

»Eine Krähe wankte vorüber« (69)
Was für ein schönes Bild.
Ha!

Ich stelle mir jetzt mal eine gar nicht so rhetorische Frage. Warum lese ich eigentlich seit Jahren immer wieder Genazino? Jedes Mal, wenn ich mit einem seiner Romane durch bin, die alle gleich zu heißen scheinen und nahezu identischen Umfang haben (rund 150 Seiten), sage ich mir: so, das war's, genug von ihm, da kommt nichts Neues mehr.
Dann, an irgendeinem Tag, meistens ist es seltsamerweise Frühling und ich habe gerade noch fünf Minuten Zeit, bevor mein Tram kommt, fällt mir in einer Buchhandlung ein Taschenbuch von ihm in die Hand, das mir bekannt vorkommt. Um gleich darauf zu merken, dass Titel und Umschlag bloß einem älteren gleichen. Ich lese rein – und will es nicht mehr zurücklegen.
»Mein derzeit größter Wunsch war: Ich wollte einmal einen einfältigen Tag durchleben.« (5)
Das ist der dritte Satz dieses neuen Romans. Nun eben: Dieser Satz könnte genau so gut in jedem anderen seiner Romane gestanden haben, etwa in ›Abschaffel‹ (1977), in ›Die Obdachlosigkeit der Fische‹ (1994) oder in ›Das Glück in glücksfernen Zeiten‹ (2009). Kurz ein Kompliment einschieben: Genazinos Titel kommen gerne in surrealer Frische daher.
Antriebslose Müßiggänger und Flaneure bevölkern Genazinos Universum, melancholische »Modernitätsverweigerer« (81), die ihr Leben beschreiben, als würden sie es, eingesperrt wie in einem Käfig, zugleich führen und von außen teilnahmslos betrachten. Im Wesentlichen ist es seit vier Jahrzehnten immer wieder derselbe Mann, verteilt auf an die zwanzig Romane.
»Von Beruf war ich Rezeptionist, gelegentlich Barmixer, aber in letzter Zeit arbeitet ich überwiegend als Überwinder. Ich half Menschen, ihre zuweilen aufdringlichen oder dümmlichen Erlebnisse schneller als gewohnt zu vergessen.« (47)
Der prototypische Protagonist ist namenlos und um die vierzig, in irgendeine Ehe und irgendeinen Job verwickelt, die ihn wenig bis gar nichts angehen, und seine wesentliche Beschäftigung besteht darin, sich treiben zu lassen und nichts wirklich zu wollen. Vor allem, weil er alles Streben im Ansatz als vergeblich empfindet, als untauglichen Versuch, dem Leben einen dauerhaften Sinn abzugewinnen. Er gibt wenig auf sein Äußeres, bis hin zur Verwahrlosung, ist akademisch gebildet und zumeist ein Schwerenöter, jedenfalls eine sexuelle Wanderniere. Frauen sind ihm wichtig, zugleich ekelt er sich oft vor ihnen, ein Zug an ihm, den ich Genazino immer übelnehmen und nie verzeihen werde. Egal. Weiter.

Wenn dieser Mann sich immer und immer wieder durch das literarische Frankfurt begibt (Genazinos Muttererde), richtet er seinen Blick vor allem auf Kleinigkeiten und Allzumenschliches, auf Dinge also, die wir gerne ausblenden, weil sie uns genieren oder nicht aufregend genug erscheinen. Und er beschreibt sie auf solch außerordentlich befremdliche oder zutreffende Weise, dass sie erstaunlicherweise oft erzählenswert, ja gar spektakulär erscheinen.

»Weit oben am Himmel bohrte sich ein Flugzeug in die Ferne und ließ auf der Erde ein zärtliches Rumoren zurück.« (73) 
»Ich betrachtete junge Frauen mit frisch gefüllten Kinderwagen.« (81)
»Überall  saßen und standen Männer und Frauen, aßen etwas und blickten nervös umher. Viele von ihnen sahen aus, als warteten sie darauf, dass ihr Leben losbrandet, irgendwo, keinesfalls hier, sondern weit weg.« (97)
Genazinos Schreibe deshalb eine Schule des Sehens zu nennen, ist vielleicht etwas hoch gegriffen, aber er verführt einen dazu, sich über die Länge der Lektüre seiner Romane in der Muße zu verlieren, einen Müßiggänger beim permanenten Scheitern in seinem fremdgewordenen Leben zu begleiten, das – tadaa! – immer auch unserem Leben zu gleichen scheint. Zumindest scheint einem das Biotop, in der er sich bewegt, nolens volens vertraut.
Ihn zu lesen, heißt, eine Pause vom Sinnzwang und vom Streben zu nehmen, und zwar eine zumeist anregende, denn viele Betrachtungen und Überlegungen entspringen einer philosophischen Frage oder haben zumindest einen philosophischen Beigeschmack.
Das betrifft die Innerlichkeit der Hauptfigur, zum Beispiel wenn er wie im folgenden Zitat eine Epiphanie einer möglichen Zäsur in seinem Leben beschreibt:
»Ich ahnte in diesem Augenblick deutlich die Umbiegung meines Lebens in ein staubiges Drama, an dem ich eines Tages ersticken musste.« (104)
Oder wenn er seine Regung gegenüber Frauen beschreibt, die er meint, trösten zu müssen:
Diese Vorstellung war von meiner Mutter übriggeblieben. Sie war so verlassen wie ein ganzes Dorf, unbelebt, fast stumm, dabei freundlich, aber in Wahrheit eingeschüchtert von etwas, worüber sie nie sprach, auch im Alter nicht.« (90)
Abschließend etwas zur Handlung von »Bei Regen im Saal«: der Protagonist liebt Sonja, doch weil er sich nicht entschließen kann, sie zu heiraten, verlässt sie ihn und heiratet stante pede einen anderen. Daraufhin gerät er ins Straucheln, er vermisst sie sehr (was er sich kaum selbst eingestehen will), derweil bekommt er ein Jobangebot bei einem Regionalblatt. Die Stelle als Redakteur ist derart unwürdig, dass er sich schämt darüber zu sprechen, wenn er gelegentlich wieder mit einer alleinstehenden Frau anzubändeln versucht, was meistens zu nichts führt.
Und so weiter.
»Das musst du nicht lesen, es ist alles morsch, höchstens ein paar Mistkäfer interessieren sich dafür, aber die können nicht lesen, die glücklichen Käfer.« (80)
Nein, man liest Genazino nicht wegen der Handlung, sondern wegen des Genazino-Universums. Das zu empfehlen scheint mir eher problematisch, am besten probiert man es mal aus. Menschen mit depressiver Neigung könnten es ablehnen – oder aber sie finden Gefallen daran, so ähnlich wie Kirsten Dunst als Justine in Lars von Triers ›Melancholia‹, die ja auch ganz gut mit dem Weltuntergang leben kann.
Mir scheint, dass ich selbst derart gefeit gegen Antriebslosigkeit und Sinnlosigkeitsgefühle gefeit bin (zumindest weitgehend), dass mich Genazinos Jammertal eher bereichert denn bedrückt. Ich kann es lesen und mir sagen: Wahnsinn, so passiv, so trübe, so Opfer. Aber er bringt mich eben wirklich auch zum Lachen, weil die Welt nunmal grotesk ist und er das auf begnadenswert originelle Art und Weise beschreibt, geduldig, seit Jahrzehnten. So, dass ich in regelmäßigen Abständen wieder ein Buch von ihm lesen möchte.
»In diesen Problemruinen wandelte ich eine Weile umher …« (86)

Sonntag, 10. Januar 2016

The Big Short (USA 2015)



Regie: Adam McKay

Mit: Christian Bale, Ryan Gosling, Brad Pitt etc.


Traurige Geldkrieger

Subprimes, Swaps und C.D.O.s. Wer kein Kredithai ist oder vor dem Kinobesuch Michael Lewis' Vorlage gelesen hat, wird in diesem Film ganz viel erst mal nicht verstehen. Dafür hat der aalglatte Erzähler und Mitspieler Jared Vennett (Ryan Gosling mit diesmal ganz furchtbaren Haarschnitt) bereits in den ersten Filmminuten sehr viel Verständnis. Weshalb er sich in der Folge alle Mühe gibt, die für Nichtbörsianer obskuren Begriffe sowie die Prozesse, in denen sie eine Rolle spielen, vorbuchstabieren zu lassen,– zum Beispiel von einem Hotelkoch anhand von nicht mehr ganz frischem Kabeljau, an einem Black-Jack-Spieltisch (yep!) oder von einer blonden bombshell im Schaumbad. So weit, so genial.

A propos bombshell. Schon in den ersten Filmminuten wähnt man sich im Krieg, einem Krieg um Zahlen und deren Bedeutung. Die rasant montierten Informationen fliegen einem nur so um die Ohren. Man ahnt, dass das keine cineastische Kreuzfahrt wird, eher eine textdominierte Achterbahn. Was soll's. Anschnallen und los. Selten habe ich einen ganzen Film lang immer wieder damit gekämpft, so etwas wie eine Übersicht zu gewinnen. Das ist wohl Absicht.

Worum geht's? Es geht um die Entstehung der Finanzkrise 2008 und um die paar Nasen, die früher als alle anderen Lunte riechen: Es ist was faul auf dem Häusermarkt. Sie wollen das aber nicht etwa verhindern, sondern damit Geld verdienen.
Die dramatis persone ist insofern außerordentlich, als es keine wirkliche Identifikationsfigur gibt, kein gut und böse. Kaffee trinken möchte man mit keinem dieser Leute, es sei denn sie erklärten einem den Finanzmarkt so, dass für den Rest des Lebens keine Fragen mehr offen sind.

***

Der sehr starke und uneitle Christian Bale hätte das Zeug zum Helden. Wenn er denn auf der richtigen Seite stehen würde. Tut er aber nicht. Dort steht nämlich keiner der Beteiligten.
Bale gibt den freakigen Analysten Michael Burry, ein ehemaliger Arzt, der auf seinem Doktortitel besteht und am besten nachdenken kann, wenn er mit Kopfhörern Metal hört und dazu Schlagzeug spielt. Barfuß und in Turnhosen tappt er manchmal aus seinem Büro und malt Zahlen auf ein Flipchart.
Man soll ihn für sein offensichtliches mathematisches Genie bewundern (klappt), amüsiert sich über seine autistische Kauzigkeit, und findet ihn jedenfalls sympathischer als seinen wütenden Chef, der Angst um sein Geld hat. Aber um ihn zu mögen oder um ihn zu bangen, dazu fehlt zur fehlenden guten Absicht auch der Zugang zu seinem Wesen, er läßt einen nicht ran, gefangen in sich. Eine arme Sau ohne Privatleben. Vermutlich ist es genau das, was ihn einem sympathisch macht. Er lebt für seinen Job, aber ohne jede Gier. Er will nur Recht behalten mit seinen Analysen.

Mark Baum (Steve Carell) hingegen wächst einem im Verlauf des Films richtig ans Herz, obwohl oder gerade weil er am Tourette-Syndrom zu leiden scheint. Er scheint an der Verrücktheit des Geschäfts zu verzweifeln. Wie ein Berserker am Rande des Nervenzusammenbruchs flucht und schimpft er sich durch die Szenen. Dass der Mann massiv am Rad dreht und dass dahinter eine Tragödie steht, wird bald klar, seine Frau kümmert sich darum, dass er rechtzeitig in die Therapie kommt, aber auch er lebt – trotz Familie – ausschließlich in der Welt der Zahlen und Statistiken. Unglücklich, aber damit durchaus glücklich. Er geht wie der so eitle wie unsympathische Venett und Dr. Burry und alle anderen auch komplett im Business auf. Und alle wollen nur verdienen. Da gibt's eigentlich gar nichts zu bewundern.

Der Glamour fehlt komplett. Glücklich wirkt keiner dieser Protagonisten der Schlacht ums große Absahnen auf Kosten anderer. Das wurde mir so richtig erst einen tag später bewusst, und man empfindet es als ausgleichende Gerechtigkeit – wenn man sich das kriminelle Potenzial und die Unsummen vor Augen führt, das diese traurigen Geldkrieger aus dem Existenzverlust Tausender Menschen zu ziehen hoffen. Konsequenterweise sieht man sie in keiner einzigen Szene mal entspannen. Sie ruhen sich nie aus, haben kein Privatleben, sehen die meiste Zeit ungewaschen und kaputt aus. Außer Brad Pitt alias Ben Rickert, ein bekehrter Guru des Business, der nun nicht mehr alles über Zahlen wissen will, sondern über Bio-Produkte.
Rickert ist es dann auch, der zwei Gewinnern der Krise den Freudentanz verbietet. Er, der ihnen dabei geholfen hat. Nicht mehr als ein Feigenblatt für den vermeintlichen Softie.


Freitag, 1. Januar 2016

Victoria (D 2015)



Regie: Sebastian Schipper
Es spielen:
Laia Costa (Victoria), Frederick Lau (Sonne),
Franz Rogowski (Boxer), André Hennicke etc. (siehe hier


Der Charme der Freiheit

Sonne, Boxer, Blinker, Fuß. So muss man heißen, wenn Freundschaft mehr als eine Floskel ist und die Nacht erst dann zu Ende, wenn das Kollektiv es absegnet. Kraft durch Assoziation, gelebte Bande. Daneben verblassen all die netten und zuvorkommenden Michis, Thomis & Danis schon mal zu traurigen Pappkameraden mit zwei Jahren Blockflötenerfahrung und jetzt aber mal heim ins Bett.

Sonne ist eine Art Kopf der Viererbande, er ist es auch, der Victoria aufgabelt, die eigentliche Protagonistin. Die Spanierin hat sich in einem Club müde getanzt und will gerade aufbrechen, als sie von ihm ausgespäht und aufgegabelt wird. Sonne, schon mit leichter Schlagseite, macht seinem Namen alle Ehre, er strahlt sie an und wirbt mit radebrechendem Englisch um ihre Aufmerksamkeit. Dauernd will sie heimradeln, weil sie früh raus muss, und immer wieder will er ihr nur was zeigen, was das echte Berlin ist. Weil er und seine Kumpels sind doch echte Berliner und keine Zugezogenen, die sich nur Berliner nennen. Das wollen wir hier mal festhalten.

Und eh sie sich versieht, ist die mutige Victoria aufgenommen und wird mitgeschleppt, wie eine kleine Schwester, die mal mitdarf, wenn die Großen auf Tour sind. Sie spürt: bei denen bin ich gu aufgehoben, die wollen mir nicht an die Wäsche, die wollen nur Hier-und-Jetzt, und das möglichst lange. Jeder der vier Männer wollen ihr gefallen, sie beschützen, ihr was zeigen, jeder versuchts auf seine Tour, das elleine ist schon sehr sweet anzusehen.  

Der Charme der Freiheit ist sehr anziehend, auf die vor Erwartung leuchtende Victoria wie auf uns, wenn wir den fünf Mittzwanzigern dabei zusehen, wie sie einander auf den Arm nehmen und umarmen, wie sie einander umschwirren und anblaffen, denn Freunde schulden sich Direktheit ohne Fehl, besonders in Berlin. Die ganze Zeit wird geredet, alles ist dringend und muss jetzt gesagt werden, denn wenn man es jetzt nicht sagt, geht es womöglich vergessen oder man gerät in die Peripherie der kollektiven Aufmerksamkeit. Im Grunde verhandeln sie nichts Wesentliches, es ist mehr ein Gruppenflirt mit Sonne und Victoria im Zentrum. Solonummern sind allerdings verpönt und kaum haben sich die beiden mal kurz abgesetzt – der große Moment der Ruhe, der den Film in zwei Teile trennt – holen die anderen sie wieder ein.

Es gibt nämlich noch etwas zu erledigen, das sie Victoria verschwiegen haben. Boxer saß mal im Gefängnis und war dort auf den Schutz eines älteren Knastbruders angewiesen – nun soll er dem einen Gefallen erweisen. Wobei die Kumpels nicht fehlen dürfen.

Bei Victoria wirken die Dialoge und moves wie frisch von der Improbühne. So spontan, ungeplant bis chaotisch und mit viel Drive, wie sich die Nacht entwickelt, bewegt sich auch die Kamera, als würde sie der Gruppe angehören. Der Charme der Freiheit spielt eben auch auf dieser Ebene. Bei ganz vielen, eigentlich den meisten Filmen, die ich mir so ansehe, denke ich irgendwann: ah ja, so läuft das, klar, jetzt wird wohl … genau. Muss ich das wirklich zu Ende sehen? Und dann gibt es Filme, die erlebe wie diese Achterbahn im Europapark, die durchs Dunkel führt. Du weißt nicht, was als Nächstes kommt. Du bist nicht sicher, wo es dich durchführt und ob du das nun genießen darfst oder etwas fürchten musst. Sie mögen alte Geschichten erzählen, aber sie erzählen sie neu und anders. Das sind so Filme, die mich bewegen und die mir deshalb bleiben. 

Einen Haufen anderen Kram zum Film kann man beispielsweise hier erfahren:
BZ
SPIEGEL online
SPIEGEL online (Interview)
The Guardian

Sonntag, 27. Dezember 2015

Kitchen (Banana Yoshimoto, 1988)



Die junge Mikage lebt nach dem Tod der Großmutter ohne Orientierung. Letzte Zuflucht bieten ihr  Yūichi und dessen Mutter Eriko, die eigentlich sein Vater ist. In deren Wohnung kommt Mikage ein paar Monate unter, zwischen Sofa und Küche, ihren beiden Säulen des Trostes, kann sie versinken und sich vom ersten Schock erholen. Die lebenserfahrene, heitere Eriko sorgt derweil für Licht in ihrem Leben und in der Wohnung.

Auch Yuichi droht in Melancholie zu versinken. Beide Heranwachsende scheinen weder irgendein konkretes Ziel zu verfolgen noch sind sie alleine mit sich glücklich. »Glück bedeutet, nicht zu merken, dass man letztlich allein ist.« (77) Was sie einander sind, bleibt vorerst offen, aber dass da mehr sein könnte, liegt in der Luft. Immerhin begegnen sie sich einmal im Traum und man wähnt sich plötzlich und unverhofft im Universum Heinrich von Kleists.

Dass sie im Traum singen und Lust auf Nudelsuppe entwickeln, ist typisch für die Leichtigkeit und Heiterkeit, die trotz düsterer Stimmungen die in zwei Teile gegliederte Erzählung dominieren. Morbide Gedanken über die Schwere des Schicksals und der Einsamkeit als anthropologische Konstante werden mehr als aufgewogen durch Mikages Wachheit und Empfänglichkeit für Menschen, die leuchten und Kraft haben, für interessante Wolkenbilder oder ein herzhaftes katsudon.  Wer Essen derart sinnlich erfährt, hat bereits einen Grund überleben zu wollen gefunden: »[…] die knallroten Tomaten, die ich im Supermarkt fand, liebte ich so sehr wie mein eigene Leben.« (78)

Neugierig folgt man der Ich-Erzählerin durch ihr unstetes Treiben und Erzählen. Man lernt ihr fragiles Gemüt kennen, ihre wechselnden Stimmungen und scheint dadurch dem Leben und seinen Überaschungen und Enttäuschungen ähnlich ausgeliefert wie sie selbst. Die äußere Handlung steht im Hintergrund, im ersten Teil mehr als im zweiten Teil, einige Rückblicke gewähren bruchstückhaft Einblick in ihre Lebensgeschichte oder diejenige Erikos oder Yūichis. Im Vordergrund stehen poetische Beschreibungen und Wahrnehmungen, die Mikages Innerlichkeit in motion spiegeln.

»Still und transparent tropfte die Zeit dahin« (38)
»Diese andere Welt musste um ein Vielfaches blauer sein als der Ort, an dem ich war, es musste dort sein wie auf dem Boden des Meeres.« (114)
»In dieser Welt gab es keinen Platz für traurige Dinge. da war ich mir plötzlich ganz sicher.« (32)
»Die ganze Vergangenheit war mit einer irrsinnigen Gewalt an mir vorbeigezogen.« (43)

Diese Art des Erzählens, ziellos, episodenhaft und oft enigmatisch, hat nichts Maniriertes an sich, sie will sich nicht interessant machen. Sie ist vielmehr Ausdruck einer Suche, ein Fischen im beliebigen, das aber eine Wirkung ausübt, und sie weckt tatsächlich Neugier, sei es, weil man sich fragt, wie es mit ihr weitergehen wird oder weil man gespannt ist auf die nächste überraschene Wendung.

Ausgabe:
Banana Yoshimoto: Kitchen.
Diogenes, Zürich 1994.

Umfang: ca. 130 Seiten, d.h. Kitchen und Vollmond (Kitchen 2)

Samstag, 31. Oktober 2015

Dave Eggers: The Circle (2013)

Die Transparenzmaschine

»We all know we die. We all know the world is too big for us to be significant. So all we have is the hope of being seen, or heard, even for a moment.« (490) 

Wo E-Hippies und Nerds sich Gute Nacht sagen 

Supertransparente Architektur, Geräte nur vom feinsten, gepflegte junge Körper im Gewand trendiger Avantgarde, smarte Umgangsformen und Euphorie, wohin man sieht.
Das Gelände und die Räumlichkeiten der Internetfirma, die sich The Circle nennt, atmen den Turnschuh tragenden Geist von you can do it im Quadrat. Hier arbeiten ausschließlich progressive und findige Youngsters, die an die endlose Optimierung des Selbst und der virtuellen Gesellschaft glauben. Sie sind willens, ihr gesamtes geistiges Potenzial in die Waagschale zu werfen, um am Entwurf einer Welt mitzuarbeiten, die sich im Galopp verändert, sprich: verbessert.
Wer älter als dreißig ist, fällt auf.

Mae Holland ist Anfang zwanzig und ganz geblendet von so viel sprühender Zuversicht und sichtbarem Erfolg. Jeder Mensch, der ihr in den weitläufigen Hallen und Gängen der Firma entgegenkommt, heißt sie willkommen sie und gibt ihr das Gefühl, etwas Großem anzugehören. So viel Zukunft und Zuversicht auf einmal hat sie noch nie an einem Ort gesehen. Wo wenn nicht hier kann man sein wollen? 

Lebe vor, wofür wir stehen

Wie alle Newbies beginnt sie in der virtuellen Kundenberatung, die hier sinnigerweise ›Customer Experience‹ heißt. Sie bietet Ansporn durch ein optimiertes Feedbacksystem: Innert Sekunden erfährt die Beraterin, wie zufriedenstellend ihre Beratung vom Kunden wahrgenommen wurde. Ist die Beurteilung unter 100%, wird sofort nach dem Grund gefragt. 
Ein Belohnungssystem, das wie eine Droge wirkt, zumal die Zahlen dauernd und für alle sichtbar sind und hohe Aufmerksamkeit genießen. Ist der Durchschnitt über 95%, wird einem von überall her applaudiert, sinkt er ab, lernt man das Büro des Vorgesetzten kennen. Dann gibt's erstmal viele harmlose Fragen, einige gönnerhafte Worte und den einen oder anderen mahnenden Zeigefinger, was Einsatzbereitschaft und Systemtauglichkeit betrifft. Die Botschaft lautet: Du bist nicht allein – selbst wenn du es gerne wärst.
Beim Chef vorsprechen muss nämlich auch, wer das Intranet der Firma nicht ausreichend mit likes und Kommentaren bedient, um sich als Teil der Community zu erweisen und zu profilieren. Die Gretchenfrage, die rhetorische, lautet: Willst du denn nicht am Leben der anderen teilhaben und sie an deinem teilhaben lassen? Kannst du das vor dir selbst verantworten?

Zwischen zwei Fronten

Nach ca. 50 Seiten Lektüre zeichnet sich ab, dass nicht Mae, sondern die Firma im Zentrum steht, denn sie ist die treibende Kraft, Mae nur ihr Spielball. Der hohe Grad an sozialer Einbettung und Kontrolle – der spirit, auf den die Belegschaft eingeschworen wird – die dauernden Innovationen und Ankündigungen, die jeden Freitag in der Hall of Dreams präsentiert werden und deren Inhalt die immer hoffnungsfrohere Zukunft ist: Diese Verbindung aus Technologie und Ideologie ist die es, die den Plot vorantreibt, indem sie Mae vor immer neue Fragen und Aufgaben stellt. 

Das klingt durchsichtig, funktioniert aber erstaunlich gut, da sich parallel dazu Maes familiärer Hintergrund und ihre Geschichte entfaltet – das zweite Spannungsfeld des Romans. 

Da ist zum einen Annie, die beste Freundin aus Studienzeiten und mittlerweile in der Teppichetage der Firma angekommen. Ihr verdankt sie ihre Anstellung, und sie verkörpert das, was Mae anstrebt: eine selbstbewusste, erfolgreiche Geschäftsfrau, so elegant wie eloquent, so sexy wie busy.
Zu den Eltern, die irgendwo im Hinterland leben, pflegt Mae ein enges Verhältnis. Sie und ihr Ex, der Kunsthandwerker Mercer, repräsentieren eine Welt, die sie gerne hinter sich gelassen hat, weil sie ihr zu provinziell und analog ist. Dieser Konflikt stellt die andere Front in Maes Leben dar.
Und dann sind da noch Maes Männergeschichten. Sie sind so einfach wie intelligent konzipiert, da sie einander ergänzen und Maes Haltung gegenüber The Circle auf den Prüfstand stellen. 


Wohin geht die Reise?

Fazit: Bei aller Bestsellerdramaturgie und trotz sehr mediokrer Figurenzeichnung ist The Circle unterm Strich lesenswert. Eggers setzt an bei der wachsenden Verbreitung, Entwicklung und Bedeutung von Social Media im Leben einer stetig steigenden Zahl von Menschen und dem Wissen, wieviel Geld und Macht in diesem Geschäftsmodell steckt.
Das Netzwerk namens The Circle wächst rasch und hat viele Lösungen für real existierende Probleme parat. Und schafft dabei neue. Es kommt daher im Gewand eines Wolfs, der Kreide gefressen hat, man kann das glaubwürdig finden oder reißerisch, wer sieht schon nach vorne. Ob gesundheitliche Vorsorge, öffentliche Sicherheit oder selbstauferlegte Moralkontrolle: Die dystopische Entwicklung ist genretypisch grell gestaltet, wirkt verkürzt, ein Highway to Hell. Für manche sicherlich ein Grund, das Buch ärgerlich zur Seite zur Seite zu legen.
Andererseits: wer kennt einen Zukunftsroman aus dem letzten Jahrhundert, der Internet, Google und Instagram vorausgesehen hat? Irgendwann mal musste ja ein Buch erscheinen, das Orwells Erbe antritt, den über 70 Jahre alten Klassiker, dessen internetlose Welt so zur Gestrigkeit verdonnert ist.

Am interessantesten fand ich abgesehen von den genannten Zukunftsvisionen die Anregung zur Frage, wieviel Transparenz wir selbst anstreben und in Kauf nehmen, um wahrgenommen zu werden und uns am Leben fühlen – und wieviel Zeit wir dafür aufwenden wollen und können. Der Roman, in dem diese Frage im Zentrum steht, muss erst noch geschrieben werden. Weder die opportunistische weibliche Hauptfigur noch der arg missionarisch daherkommende kulturpessimistische Figur des Mercer kann diesem Anspruch nicht genügen.


Angaben:
Dave Eggers: The Circle (Erstausgabe 2013)
First Vintage-Open-Market-Edition.
Random House LLC, New York 2014.
500 Seiten