Samstag, 6. April 2013

Life of Pi


USA 2012
Regie: Ang Lee
Mit: Irrfan Khan etc.


Der Gott des Erzählens und der Tiger in dir

Ein Schiffsunglück. Ein indischer Junge rettet sich auf ein Rettungsboot und treibt wochenlang durch den Indischen Ozean, gemeinsam mit einem Zebra, einer Hyäne, einem Orang-Utan und einem Tiger. Die Tiere gehörten seinem Vater, die Familie wollte mitsamt ihrem Zoobestand nach Kanada auswandern, doch Vater, Mutter und Bruder sind ertrunken. Pi Patel, der Junge mit dem titelgebenden Namen, ist nun ganz auf sich, seinen Erfindungsgeist und seinen Überlebenswillen gestellt. Der Tiger ist nicht dein Freund, hatte der Vater den Jungen gelehrt. Nun teilen sich Tiger und Pi das Boot. Wie kann das gutgehen?
Wer sich nur für den Filminhalt und dessen Beurteilung interessiert, soll einige Abschnitte runterscrollen (›Das Tier in mir‹) – beginnen möchte ich mit einigen eher philosophischen Überlegungen. Sie drehen sich um jenen Aspekt, der mich am meisten an ›Life of Pi‹ interessiert, weil er etwas betrifft, das mich schon seit einigen Jahren beschäftigt und auch weiterhin beschäftigen wird. Nein, nicht die Sache mit Gott, wenigstens nicht direkt, und falls doch, dann mit dem Gott des Erzählens oder diesem Gott in mir und dir.

Die Gnade der Verdrängung

Wir erzählen uns unser eigenes Leben so, wie wir es vermögen. Das heißt, wir erzählen es uns, soweit es unsere Erinnerung zulässt, die sich stark vom tatsächlich Erlebten unterscheiden kann, wie der berühmte amerikanische Psychologe Daniel Kahnemann anschaulich dazustellen vermag (hier ein Video dazu). Wer sich schon mal bewusst die Mühe gemacht hat, eine konkrete Erinnerung wachzurufen, wird feststellen, wie löchrig dieses Gewebe ist und wieviel Einbildungskraft es erfordert, die Lücken zu füllen, um ein ungefähres Bild zu erhalten. Ferner erzählen wir es uns so, wie wir unser Leben gerne gelebt hätten, wie wir es verstehen können – oder auch, wie wir es ertragen. Gewisse wichtige Dinge blenden wir beim Erinnern gerne aus, bewusst oder unbewusst, obwohl sie uns sehr geprägt haben, weil es Momente sind, die uns verletzt, versehrt, traumatisiert haben. 

Wer den Prozess der Verdrängung nur negativ als Selbsttäuschung und Schwäche abtut, leugnet oder unterschlägt den Umstand, was für ein Segen sie darstellt, genauso wie das Vergessen und die Erfindungskraft. Gnade uns Gott, wenn wir alle Verletzungen und Enttäuschungen noch abrufen könnten, die sich in den vielen Jetzts unseres Lebens bereits angesammelt haben. Wozu sollte es gut sein, sich dieser alle noch zu erinnern? Das erklärt, um ein Beispiel zu nennen, das mich sehr beeindruckt hat, wieso ein adoptierter achtjähriger Junge bei seiner Rückkehr in die Ukraine feststellt (oder vorgibt), dass er seine Muttersprache komplett vergessen hat, die er nur zwei Jahre zuvor im Heim noch fließend gesprochen hat.

Die Erinnerung: ein Smoothie

Wenn wir uns erinnern, wenn wir uns unser Leben erzählen, erfinden wir in der Regel ziemlich viel dazu. Wir verknüpfen unsere vermeintlich historischen Gefühlskonserven mit erinnerten Bildern, subsumieren unbewusst eine Vielzahl von Situationen zu einer prototypischen zusammen oder schließen von einem tatsächlich nur einmaligen Erlebnis auf ganze Zeitabschnitte oder Beziehungsmuster etc.. ›Die Welt ist meine Vorstellung‹, um es mit Schopenhauer zu sagen. Oder – in Anlehnung an Pippi Langstrumpf: ›Ich mache mir die Welt, wide-wide-wie sie mir gefällt.‹

Je fragmentarischer unsere Erinnerungen sind, desto weniger verlässlich und desto phantastischer wird der Film, der in unserem Inneren abläuft. Aber ein Film wird es so oder so, unabhängig von dem Regieteam namens Bewusstes&Unbewusstes, das so mysteriös ist, weitaus mysteriöser, als es die vermeintlichen Wachowski-Brüder und Macher von The Matrix waren, bevor sie sich als Bruder und Schwester herausstellten. Oder, um es mal mit einem Vergleich zu versuchen: Während man gerne glauben will, die eigenen Erinnerungen seien wie ein selbst zubereiteter Obstsalat, dessen Einzelteile man beliebig herauspicken kann, gleichen sie viel mehr einem Smoothie, den man in einem halbbewussten Zustand aus dem Obstkorb mixt, den man nicht alleine gefüllt hat. Man hat einen bestimmten Geschmack im Mund, von dem man nicht mehr verlässlich weiß, welche Rolle die Einzelteile dazu beigetragen haben. Die Kontingenz hat ihre Hände im Spiel, das Vergangene entzieht sich der korrekten Wiedererweckung durch das Subjekt. 

Die Macht der Erzählung: Romantik, Nietzsche, Freud, Proust

Das ist nicht schlimm, es sei denn, man glaubt daran, dass die (rein hypothetische) korrekte Rekonstruktion und Einschätzung der vergangenen historischen ›Wahrheit‹ das alleinseligmachende Mittel zum Glück ist. Unser ›Selbstbewusstsein‹ (hier wörtlich zu lesen) kann sich eben dadurch generieren, dass wir uns unser Selbst durch unsere Ich-Erzählung erst erschaffen, das jedenfalls haben die Romantiker vor über 200 Jahren postuliert – und ihre Epigonen tun es bis bis heute. Sowohl Friedrich Nietzsche als auch Siegmund Freud glauben an die Kraft der kreativen Selbstschaffung durch das Mischen von fact and fiction. Für Nietzsche ist menschliches Leben ein Triumph, wenn man neue Beschreibungen für die Kontingenzen seiner Existenz findet. Und Freuds Gesprächstherapie läuft darauf hinaus, sich die Kontingenzen seiner Ichwerdung zusammenzureimen, sodass sie für einen einen Plot ergeben, den man als seinen Ich-Film akzeptieren, mit dem man leben kann. 
Marcel Proust beispielsweise hat sich in seinem Lebenswerk A la recherche du temps perdu mitunter an den Übeltätern seiner Kindheit und Jugend gerächt, indem er sie in seiner Selbsterzählung eingebaut und ihnen nach seinem Gusto eine Rolle zugeteilt hat. Indem er sich zum Herr seiner eigene Geschichte gemacht hat, hat er zum einen seiner Ohnmacht etwas entgegengesetzt, der er in der historischen Vergangenheit ausgesetzt war – und er hat zweitens die Erinnerung an die Stelle der historischen Ereignisse gesetzt, er hat die eigene Version als die bleibende fixiert. Wen kümmert es angesichts solch eines Kunstwerks noch, was sich wirklich zugetragen hat? 

Das Tier in mir

Die bilderstarke Fabel im Hauptteil von ›Life of Pi‹ erzählt auf eindrückliche Weise von einem Überlebenskampf auf einem Boot im Indischen Ozean, dem Kampf zwischen einem Menschen und einem Tig, und dem Kampf mit sich selbst, mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Der männliche Protagonist hat sich diese Fabel vermutlich nur zusammengereimt, um eine traumatische Erfahrung zu verarbeiten und in einer Weise zu bewahren, die ihm das Erlebte erträglich macht. Pi Patel musste lernen, damit zu leben, dass in ihm noch ein anderes Wesen, andere Züge stecken, die er nie in sich vermutet hätte, ein Wesen, das fürs eigne Überleben fast alle Werte über Bord wirft. Die Themen sind Mord, Kannibalismus und Schuld. Schuld besonders im Zusammenhang mit dem Tod der eigenen Mutter.
Pi Patel löst diese traumatische Erfahrung, indem er sein Ich in zwei Figuren aufspaltet und den unheimlichen, neuen Teil seines Selbst in einen Tiger namens Richard Parker projiziert. Hier der tapfer ums Überleben kämpfende Junge, der mit Verstand und Nächstenliebe versucht, die Situation auf gesittete Weise durchzustehen, dort die nur dem Instinkt gehorchende Bestie, Verkörperung eines ungezähmten darwinistischen Egoismus. Der Junge gerät im doppelten Sinne außer sich, er spaltet ein Teil von sich ab – und im Kampf gegen sein anderes Selbst verliert er um ein Haar jeden Rest von Kontrolle und Mitgefühl und übergibt sich ganz dem bedingungslosen Selbsterhaltungstrieb. 
Mindestens verstehe ich die Fabel so, es mag noch andere Lesarten geben. Was meine Lesart stützen mag, ist einerseits die Wahl des Zeitpunktes, in dem der Tiger erstmals eingreift, nämlich in genau dem Moment, als die Hyäne den Orang-Utan mit dem Leben bedroht, resp. der brutale Koch die Mutter des Jungen. Und andererseits der Umstand, dass er unvermittelt und wie aus dem Nichts auftaucht, nämlich aus dem verdeckten Teil des Rettungsbootes. der Tiger ist zwar schon seit Beginn an Bord, sozusagen als das Tier in dir, aber sie bricht sich erst Bahn, als das eigene Blut bedroht wird.

Der Feind, an dem man wächst

Abgesehen von dieser übergeordneten Ebene psychologischer Projektion des Animalischen in uns sind innerhalb der Bildebene noch weitere Lehren versteckt, die ich interessant finde. Eine klingt ziemlich christlich, hat aber nichts mit dem Christentum zu tun: Liebe Deinen Feind, der Kampf mit ihm hält dich wach und du kannst daran wachsen. Im Pi Patel verdankt sein Überleben vor allem der Angst vor dem Raubtier, sie hob seinen Adrenalinspiegel lange genug an, dass er bis zur Rettung durchhielt. Richard Parker, ob jetzt tatsächliches Gegenüber oder sein alter ego, war der unmittelbare Gegner, und der einzige, den er bekämpfen konnte, denn abgesehen davon konnte er nicht mehr tun als darauf zu hoffen, irgendwann gefunden zu werden oder an ein Land zu treiben. 
Während er also sein ferneres Schicksal nicht beeinflussen konnte und ihm ohnmächtig ausgeliefert war,  nahm er den Kampf mit dem Tiger auf und dieser Kampf wurde ihm zum Lebensinhalt, er lernte mit einem Feind und einer Kampfsituation zu leben. Wenn man die Metapher auflöst, könnte man das so verstehen, dass man die Auseinandersetzung mit den eigenen Abgründen suchen sollte, während man auf der Suche nach etwas anderem ist. Innerhalb der Bildebene bedeutet es, sich seinen Feinden zu stellen und für sich einzustehen. Das klingt mir nun aber selbst etwas zu esoterisch, um es hier weiterzuverfolgen.
Wie auch immer: Am Ende seiner Erzählung bedauert Pi Patel den grußlosen Abgang des Tigers, es ist ein Abschied von einem Teil seiner Selbst, dem er nachweint, die Szene, die mich am meisten berührte. Etwas stirbt in ihm, als die neue Lebensphase beginnt. 

Freedom of Choice

Ehrlich gesagt langweilte mich der Film über weite Strecken etwas. Erstens dauert die Einführung in die zentrale Situation des Films auf dem Boot mit 40 Minuten viel zu lange. Zweitens wähnt man sich zwischendurch in einem Familien- oder Naturfilm à la Mogli auf dem Meer, Nemos phantastische Freunde oder Flipper flippt aus. Die Bilder sind zum Teil wirklich phantastisch, das Schwarz des nächtlichen Meeres ist tief und die Lichteffekte darin umso bezaubernder. Doch Geschichten mit Tieren interessieren mich nur bedingt und die Isolation auf einem Rettungsboot bringt es mit sich, dass da andauernd nur einer redet.

Dann kommt der Schlussteil und mit ihm der Hinweis, dass man womöglich gerade vom Plot angelogen wurde, dass die Geschichte auf dem Rettungsboot sich womöglich viel brutaler zugetragen hat. Vielleicht war es nur eine Fabel – eine Fabel, die eine schlimme Geschichte erst erträglich hat werden lassen, weil sie sich nicht zwischen Menschen abspielt. Raffiniert, wie der erwachsene Pi Patel die Parallele zur Glaubensfrage und der Erkenntnis zieht (wer hat die nochmals als erster formuliert?), wonach man weder beweisen kann, dass Gott existiert, noch dass er nicht existiert – da man aber auf die großen Fragen (wieso ging das Schiff unter? resp. was ist der Ursprung menschlichen Lebens?) ja doch keine befriedigende Antwort findet (oder während man danach sucht), kann man sich die schönere der sich anbietenden Geschichten aussuchen, weil es sich mit ihr besser lebt. Die Geschichte mit dem Tiger ist eindeutig die schönere,  da besteht kein Zweifel.  

Im Lichte dieses raffinierten Endes mit seinen Deutungsabgeboten und Denkanstößen kann ich die tatsächliche oder drohende Langeweile während eines Großteils des Films problemlos vergessen, ich muss sie noch nicht mal verdrängen. 

PS Einige der Anregungen des ersten teils dieser Rezension verdanke ich meiner Lektüre des amerikanischen Philosophen Richard Rorty (1931-2007), insbesondere seinem Buch »Kontingenz, Ironie und Solidarität« (1989), das ich sehr empfehlen kann. 

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