Freitag, 20. Juli 2012

Sibylle Berg: Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot (1997)




»Geschichten, die so beginnen, haben nie ein gutes Ende.« (S. 53)

Sämtliche zehn Figuren dieses Romans leben und lieben konsequent aneinander vorbei. Vera und Helge sind bereits zu lange verheiratet und haben sich nichts mehr zu sagen. Während er als frustrierter Barpianist im Marriott routinemäßig einsame angetrunkene Geschäftsfrauen beschläft, in narkotisiertem Zustand und gegen Bezahlung, flieht sie – wider bessere Ahnung – mit einem viel zu jungen Möchtegern-Rockstar nach USA, auf der Suche nach Zerstreuung und dem Ereignis, das ihrer Wahrsagerin, die sie erst auf diesen Gedanken brachte, die Sprache verschlug. Ihr erschrockenes Gesicht scheint Vera eher anzuspornen als davon abzuhalten, dieser selffulfilling prophesy nachzugehen.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, macht sie es damit ihrer 17jährigen magersüchtigen Tochter Vera nach, die auf einer Reise in die Selbstentfremdung an einem trostlosen spanischen Küstenstrich herumirrt, dessen äußere Wüstheit mit ihrem Inneren korrespondiert: »Jeder kann mich haben. Es macht mir nichts. Es ist besser, als alleine zu sein.« Sie übergibt sich vorübergehend einem genauso verlorenen Teenager namens Thomas, der sich in seinem pechschwarz angemalten Keller dem Sadomasochismus verschrieben hat.
Was Vera auch nicht weiß: der verkappte Jaggerverschnitt namens Pit, ein Rohrkrepierer von Flirt, war – ausgerechnet – die neue große und unglückliche Liebe ihrer besten Freundin Bettina, einer Kulturjournalistin im Einsamkeitstaumel. Die Tochter einer Alkoholikerin und Selbstmörderin hat sich vom Glauben an den Märchenprinzen verabschiedet. Umso verzweifelter ist sie dazu bereit, sich komplett aufzugeben und dem grobschlächtigen Pit in die verschränkten Arme zu werfen:

»Wir sind die Generation der Beschissenen. Ich weiß nicht von wem und von was. Vielleicht weil sie uns die Unschuld genommen haben. Den Glauben an einen Sinn. […] Noch nicht mal Liebe ist ein Geheimnis. Da wissen wir, daß es um Hormone geht, um die Paarung, um Evolution. […] Ich merke genau, daß die ganzen Männer, die ganzen Leidenschaften, austauschbar sind. Aber ändern kann ich es auch nicht. Jedesmal glaube ich an die Erlösung von was?« (46)

Gleichzeitig mit den Irrfahrten seiner beiden Frauen entdeckt der Familienvater Helge seine Homosexualität in – ja, wo wohl? – in Venedig. Man ahnt es auch ohne Thomas Manns Novelle zu kennen (Der Tod in Venedig, 1912), der Ausreißer wird nicht zu seinem Besten enden, und dennoch anders als im Falle des todessehnsüchtigen Leistungsasketen Gustav von Aschenbach.



Sibylle Berg stellt diese und noch einige weitere Figuren unterschiedlichen Alters in die Mitte von Lebenskreuzungen mit jeder Menge Sackgassen und wir sehen ihnen dabei zu, wie sie halbbewusst den falschen Weg wählen. Was sie verbindet, ist die Neigung, ihrer jeweiligen Intuition, Sehnsucht und Laune zu folgen, zumeist gegen besseres Wissen, und damit treffsicher die falschen Entscheidungen zu treffen. Wie angezählte Wespen in einem geschlossenen Bierglas taumeln sie immer wieder nach unten, in die tiefe Orientierungslosigkeit ihres Selbst.
In ihnen steckt der Tod, wie der Titel bereits verrät. Er wartet, bis er zuschlagen kann. Die Angst vor dem drohenden Ende eines nichtausgeschöpften Lebens äußert sich in Gewaltexzessen, vorgestellten wie realen. Im Titel steht aber auch etwas vom Lachen. Und tatsächlich: In dem düsteren Roman steckt jede Menge Humor, schwarzer, derber wie subtiler. Der folgende Auszug, der beides illustriert, spielt sich in Bettinas Kopf während einer Vernissage ab, als sie sich von einer anderen Frau mit Blicken angefeindet fühlt:

»Sie hat wirklich extrem häßliche Fesseln. Ich schau die Fesseln an. Seh mich langsam zu Boden gehen. In die Fesseln beißen. Die Strumpfhose zerfetzen. Ihr Stücke davon in den Mund schieben, mit dem, was nicht in den Mund paßt, im Gesicht rumreiben. Die Schminke gut in die Haut einarbeiten. Ein paar Schritte zurückgehen, Anlauf nehmen. Mit einem Sprung mit meinen Schenkeln ihren Hals umspannen. Die Schenkel gut straffen, das Gesicht wird rot. Mit zwei Fingern lässig in die Nasenlöcher, die dann weiten. Beim Absteigen ihr teures Kleid zerlegen. Die Fetzen in ihren Gesäßfalten verstauen. Ein Lied anstimmen. Sie nackig nehmen, wie sie ist, wegen der Strumpfhose und der Schminke und sie zum Büfett ziehen. Drauf rumwälzen. Kleine Gurken in ihre Ohren pressen. Hühnerkeulen unter die Achseln. Die Arme dann runterdrücken wie Schwengel, zermalmen Hühnerbeine. Dann weggehen. Grußlos. Unten auf ihren PKW springen, Dellen rein. Tür eintreten. PKW anzünden.« (S. 59)



Immer wieder offenbart uns Sibylle Berg den Blick in solche tiefschwarzen Abgründe ihrer Figuren, die einem leidtun, über die man lacht, die einen anwidern, von denen man sich distanziert, die man zu kennen glaubt, denen man sich verwandt fühlt. Sie hat bereits in ihrem Erstling ihre eigene Sprache gefunden, den Berg-Sound, in Ermangelung einer anderen Kategorie nenne ich ihn hier mal expressionistische Gebrauchsprosa, kurzatmig, phantasievoll, kompromisslos unverblümt, mitleidslos und makaber, bis es weh tut. Die mal explizite, mal verfremdete Darstellung von Innenwelten, das experimentelle Spiel mit einer fragmentierten Syntax, die Überzeichnung und immer wieder das Groteske scheinen mir von der Prosa von Döblin, Grass und Jelinek inspiriert:

»Kalt wird es in der Wüste des Nachts, wenn da keiner lebt und alles zehn Stunden weit weg ist. Nichts können zwei Männer da machen als sich ein wenig Mut. Dass sie morgen loslaufen können, wenn es hell ist, durch die Hitze in der Wüste, den Sand und die Dornen. Und vielleicht anzukommen, wo einer lebt, bevor der Mensch stirbt, wenn er drei Tage kein Wasser bekommt. Einige Wüstentiere hatten ein paat Tage später viel Spaß dabei, die beiden Männer verblöden zu sehen, beim Verdursten.« (S. 180)

Was den Roman trotz seines für gewisse Menschen sicherlich schwer verdaulichen Inhalts zur kurzweiligen Lektüre macht, ist seine Gliederung in kleine Häppchen: kurze Kapitel sind jeweils einer Figur und deren Perspektive zugeordnet. Die Montage dieser zwei, drei Seiten langen Abschnitte, die den Leser zwingt, unregelmäßig alternierend die Welt aus verschiedenen Augen zu sehen und zu erleben, sorgt für Abwechslung und eine hohe Erzähldichte. Das Verfahren hat Tradition, berühmte Vorbilder sind Stadtromane wie Manhattan Transfer von John Dos Passos (1925) über das New York der Depression, Mrs Dalloway (1925) von Virgina Woolf über eine Handvoll Figuren in London oder Tauben im Gras von Wolfgang Koeppen (1951) über das zerbombte München an einem einzigen Februartag sowie Sansibar oder der letzte Grund von Alfred Andersch (1957).

Traurig, brutal, zynisch, geistreich, lustig. Ein sehr anregendes Buch.



Quellenangaben:
Berg, Sibylle: Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot. Reclam Taschenbuch Nr. 21577. Stuttgart 2008.
Erstausgabe 1997

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