Samstag, 11. August 2012

Juli Zeh: Nullzeit (2012)


Ein Vexierspiel zwischen Schein und Sein

Juli Zeh hat es mit den Dreiecksgeschichten. In ihrem Erstling Adler und Engel (2001) erzählt der Jurist Max von seiner Liebe zu der verstorbenen Jessie, die ihrerseits einem schönen Perser namens Shersha verfallen war. In Spieltrieb (2004) laviert die düsterzynische Schülerin Ada zusehends zwischen dem impotenten Alev, einem Altersgenossen und Seelenverwandten, und dem naiven verheirateten Lehrer Smutek, der sich in eine Erpressung verwickeln lässt. In Schilf (2007) ist der Familienvater Sebastian eingeklemmt zwischen Maike, seiner bodenständigen Frau, und seinem langjährigen Busenfreund Oskar, einem snobistischen Quantenphysiker. In Corpus Delicti (2009) findet die Dreiecksbeziehung auf ideologischer Ebene statt: Mia Holl muss sich zwischen der regierungskritischen Position ihres verstorbenen Bruders Moritz und dem Chefideologen Kramer entscheiden.
In Nullzeit (2012) ist es nun ein deutscher Tauchlehrer, der sich auf eine Affäre mit seiner Kundin einlässt.

Der Roman spielt von A bis Z auf einer Insel im Atlantik, Kanaren oder Azoren, und ist vorwiegend aus der Perspektive von Sven Fiedler geschrieben. Er verließ Deutschland nach seinem bestandenen Juraexamen fluchtartig, weil er es in dem »Kriegsgebiet« nicht mehr aushielt. Kriegsgebiet?
»Ich hatte Deutschland verlassen, weil ich das Leben in einem allumfassenden Netz aus gegenseitigen Beurteilungen nicht länger ertrug. Urteilende und Beurteilte befanden sich im permanenten Kriegszustand, und jeder füllte, je nach Situation, die eine oder andere Rolle aus. Alle, was meine Kunden von zuhause erzählten, waren Berichte von der Urteilsfront […]« (S. 35f.)
Ein Zivilisationsflüchtling also, und ein ideologischer Epigone Rousseaus dazu. Statt der deutschen Rechtspraxis hat er sich dem Meer verschrieben. Das Tosen der Brandung nährt ihn, das Wasser ist sein Element und die Tauchgänge sind für ihn Heimspiele. Dort kommen ihm schon mal absonderlich klingende Gedanken:
»Ich wollte mich auf den Grund setzen, mir Kiemen wachsen lassen, um frei atmen zu können. […] Die Barrakudas hätten bestimmt nichts dagegen gehabt, es gab Platz genug für alle. […] Ich konnte hier heimisch werden. Schließlich wusste ich, wie das Leben unter Wasser funktionierte.« (S. 229)
Ganz abgeschieden lebt er allerdings nicht vom verdorbenen Menschengeschlecht. Zum einen sind da die zumeist deutschen Kunden, die jeweils mit erwartungsfrohen Urlaubsgesichtern ankommen, selig, ihrer bellizistischen Heimat entronnen zu sein, ferner einzwei Freunde aus derselben Branche – und dann ist da noch Antje, seine Lebensgefährtin. Sie ist zehn Jahre jünger als er und in ihn verliebt, seit sie denken kann. Umgekehrt – nicht. Als er vierzehn Jahre vor Einsetzen der Romanhandlung seinen Abschied aus Deutschland ankündigte, schloss sie sich ihm an (er hatte sie nicht gefragt) und seither betreiben sie gemeinsam die Tauchschule, Antje am Schreibtisch, Sven im Neoprenanzug.  Man hat allerdings rasch verstanden, dass ihre Beziehung eher geschwisterlicher Natur ist. Keine Leidenschaft. Nirgends. Sven hat diese besondere, diese gefräßige Form der Liebe noch nicht entdeckt, und sie wäre von ihm unentdeckt geblieben, hätte sie sich ihm offenbart, und zwar in Form von Jola. Es knistert bereits bei der ersten Begegnung und Berührung in der Begrüßungsszene am Flughafen, die in wenigen Worten thematisch vieles vorwegnimmt und auf den Punkt bringt:
»Dann drückte ich die Frau. Sie war schmiegsam wie ein Stofftier. Für einen Augenblick glaubte ich, sie würde zu Boden fallen, sobald ich sie losließe.« (S. 9)
Verbotene Früchte schmecken besonders süß. Und Kunden resp. Kundinnen sind für einen Tauchlehrer verbotene Früchte, besonders wenn sie in Begleitung erscheinen. Das ist schlecht für den Ruf und damit schlecht fürs Geschäft. Deshalb ist Sven von Anfang an bemüht, sich die attraktive Jola vom Leibe zu halten. Jola heißt eigentlich Jolante Auguste Sophie von der Pahlen, und der Name ist Programm. Sie ist nicht aus irgendeiner Familie und sie ist keine beliebige Kundin, sondern sie ist umgeben von einer Aura, die sagt: nimm mich wahr, sieh mich an. Eine klassische Femme fatale, so klassisch, das es schon fast wieder kitschig ist. Zuweilen hört sich der Erzähler Sven wie der Voice-Over von Orson Welles in The Lady from Shanghai (1947) oder einem der anderen zahllosen Beispiele des Film Noir an, in denen der männliche Protagonist von seinem Schöpfer einer geheimnisvollen Schönen ausgeliefert und ihren Spleens, ihren Launen und ihren Obsessionen zum Fraß vorgeworfen wird. 
»Jola trug ein silbrigweißes Kleid, das, matt schillernd wie eine Flüssigkeit, auf die kleineste Bewegung reagierte. Die dunklen Haare hatte sie geflochten und zu einem Kranz um den Kopf gelegt. Sie war atemberaubend schön. Sie hatte dafür gesorgt, dass wir eine Viertelstunde zu spät kamen. Auf der Gangway nahm sie meinen Arm. An Bord verstummte das Gespräch. […]« (S. 194)
Seit Jahren ein Star der TV-Soap namens Auf und Ab, führt sie mit dem gut zehn Jahre älteren Schriftsteller Theo Hast eine reichlich undurchsichtige bis krude Beziehung und erhofft sich, mit dem zweiwöchigen Tauchkurs eine ideale Ausgangslage für ein Casting zu verschaffen für einen Film über das Leben der Taucherin Lotte Hass (Jahrgang 1928). Sie plant den großen Karrieresprung von der austauschbaren TV-Allerweltsware zum Großen Film.

Allerdings gewinnt man aus Svens Perspektive bald den Eindruck, als wolle Jola den Urlaub mindestens zu gleichen Teilen dazu benützen, sich von dem zur Gewalt neigenden Theo zu trennen. Dabei scheint ihr der smarte und vertraglich gebundene und irgendwie vollumfänglich für ihr Wohlergehen zuständige Tauchlehrer gelegen zu kommen, jedenfalls wirft sie sich recht offensichtlich an Sven ran – und Theo lässt sie gewähren, nicht ohne seinen Rivalen vor ihr zu warnen, den er bald mal bloß noch »kleiner Scheißer« (S. 128) nennt.

Damit ist die Exposition für ein Beziehungsdrama ausgelegt, inmitten der rauhen atlantischen Atmosphäre. Im Zentrum steht Svens Überforderung und sein eroberungswilliger Blick auf die begehrenswerte femme fatale, seine Skrupel und die Nebenbuhlerschaft zu Theo. Ist Sven also Jolas Opfer? Na ja, it takes two to tango, wie man so sagt. Jedenfalls gerät er ganz schön in Teufels Küche, der Trieb will dem Kopf nicht folgen. Er gerät in ein mehrfaches Dilemma, weniger wegen Antje, bald auch nicht mehr wegen seines Rufs, sondern weil er Jola nicht durchschaut. Und wir tun es auch nicht. Und das, obwohl wir auch ihre Perspektive kennenlernen. Die Ich-Erzählung wird regelmäßig unterbrochen von kürzeren Auszügen aus Jolas Tagebuch. Das Reizvolle daran ist, dass man schon relativ früh feststellt, dass sie die Ereignisse in einem anderen Licht darstellt. Wer bewegt sich nun näher an der Wahrheit? Und was führt Jola im Schild?

Der krimiartig aufgebaute Plot ist recht konventionell erzählt und liest sich gefällig, es werden Spannungsbögen geschaffen, die wenigen Figuren geben dem Ganzen etwas Kammerspielartiges,  die klaustrophobische Stimmung in den zahlreichen Unterwasserszenen bleibt nicht ohne Wirkung. Dennoch entwickelt die Geschichte keinen rechten Zug, nimmt einen nicht so in Beschlag, wie ich es mir erhoffte, obwohl gut von der Autorin angelegt. Vielleicht liegt es daran, dass sich Juli Zeh sprachlich weiter zurückgenommen hat, der Duktus ist zwar nach wie vor geistreich und inspiriert,  aber sichtlich weniger bildergeladen und er lässt den für Zeh so typischen Humor vermissen, im Vergleich zu Schilf oder Corpus Delicti. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass man nicht so richtig Feuer fängt für den Erzähler, ein Problem, dem man schon in Corpus Delicti begegnete. Dreierkisten, gar eine ménage à trois, wie sie hier vorliegt,  können zwar spannend sein, dafür gibt es genügend Beispiele, aber man muss sich für die Figuren interessieren, sie müssen einem nahe kommen. Das geschieht hier nicht: Nicht nur ist einem der unterkühlte Tauchlehrer suspekt, zusätzlich ist die gesamte berichtartige Darstellung der Ereignisse durch den Blick durch seine Brille distanziert und unterkühlt.
Die letzten vierzig Seiten versöhnen einen, was die Spannung betrifft, mit den teilweise etwas zähen vorangehenden zweihundert, in denen mit dem ›Auf und Ab‹ von Sein und Schein gespielt wird, ein Vexierspiel, das im nachträglichen Blick zurück an Reiz gewinnt. Jedenfalls ist man nach Beenden der Lektüre versucht, noch einmal vorne zu beginnen und mit wachem Auge mindestens einzelne Passagen ein zweites Mal – und aufmerksamer – zu lesen. Und da ist ja nicht wenig, auch wenn der Roman nicht an Spieltrieb herankommt, den in meinen Augen gelungensten Roman dieser interessanten Autorin.

Angaben:
Juli Zeh: Nullzeit. Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt a.M. 2012.


2 Kommentare:

  1. Wirklich - Spieltrieb findest du den interessantesten Roman? (Habe den Rest nicht gelesen, weil ich Spoiler nicht mag…)
    Bin da ganz anderer Meinung. (Mir gefällt das Bosnien-Buch am besten, »Die Stille ist ein Geräusch«, und dann Corpus Delicti und Schilf).

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  2. ja, ehrlich, ich fand Spieltrieb vor allem beim zweiten Mal lesen frech und gewagt. Die Figuren zwar gnadenlos überjkandidelt, aber das gehört zur Form. Die Stille ist ein Geräusch kenne ich noch gar nicht, das muss ich demnach mal lesen, wie?

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