Sonntag, 26. April 2015

Arno Geiger: Selbstportrait mit Flusspferd (2015)



»Niemand mag dich, wenn du zweiundzwanzig bist«



Sagt Julian zu Judith. 
Zweiundzwanzig zu sein, das klingt je nachdem eher begehrenswert oder eher anstrengend. Der Schule und dem Elternhaus entronnen, genießt man die knackig frische Freiheit des Lebensfrühlings als Erwachsener – und dann bläst es einem kühl um die Nase, weil der Wege so viele sind und es eine ganze Menge richtige Partys gibt. Nur welche ist meine? Und was will ich eigentlich? Bei Geiger klingt das so:
»Zu diesem Zeitpunkt bin ich zweiundzwanzig. Der Umstand, erwachsen zu sein, gefällt mir außerordentlich. Aber ich weiß in Wahrheit überhaupt nicht, was ich will, einmal in diese Richtung, dann in die andere, einmal alles, einmal nichts. Und immer fühlt es sich absolut richtig an. Und so vieles ist neu. Und so vieles ist … massiv. Manchmal erwischt mich das Neue auf dem falschen Fuß. Und manchmal haut mich die Massivität von etwas um. Meine Unerfahrenheit und meine Neigung, mir Hoffnungen zu machen, bringen zwei unterschiedliche Grün zusammen, eine Mischung, eine ziemlich produktive Mischung: der Treibstoff der Jugend.« (10)
Julian ist also zweiundzwanzig und er kann sich nicht entscheiden. ist Judith nun diese vielbeschworene Frau fürs Leben oder sollte er die Langeweile ernst nehmen, die sich zwischen ihnen breit macht, wenn er Zeit mit ihr verbringt? Wer gibt ihm die Garantie, die er so gerne hätte, dass er im Falle einer Trennung wieder so eine wie sie findet? Denn fesch ist sie ja, das bestätigen ihm alle um ihn herum. Und so lebenstauglich und zugewandt. Was fehlt, ist die Vergleichsmöglichkeit. Sie macht alle gegenwärtigen Freuden ein kleines bisschen verdächtig. Ist da nicht noch mehr da draußen? Was Anderes? Besseres? Darf ich meinem Gefühl trauen? 

Julians Verhältnis zu Judith spielt bis zuletzt eine große Rolle, schließlich deckt der Roman gerade mal einen Sommer ab und Judith ist für Julian »der erste fremde Mensch […], der mich ganz genau angeschaut hatte«  und der ihm »das Gefühl gegeben hatte[n], zu leben und beachtenswert zu sein« (285). Das ist schön gesagt, und es führt vor Augen, welches Gewicht die erste Liebesbeziehung für das Selbstbild und Lebensgefühl haben kann. 

Dann passiert das Unvermeidliche: Die beiden trennen sich – und Julian bereut.

***

Während Julian am Mutmaßen ist, wie es mit ihm und seiner Liebe zu Judith so weit kommen konnte und wie es nun ohne sie weitergehen soll, läuft ein Flusspferd durchs Bild. Und in sein Leben. Im Schlepptau des mächtigen Tieres sind ein emeritierter Professor, schwerkrank und verdrossen, und dessen sperrige Tochter. Es entsteht eine Inselsituation. Julian nimmt einen denkbar seltsamen Ferienjob an, der mit seinem Leben so gut wie nichts zu tun hat. Und dann entwickelt sich aus dem fremden Haus mit Garten und Flusspferd ein neues Universum mit ganz neuen Mustern und Rollen. Die Insel ersetzt die Reise, die in den meisten Bildungsromanen die Basis der Persönlichkeitsentwicklung darstellt (siehe die schöne ZEIT-Rezension).

Die sperrige Tochter ist Aiko und ich mochte sie vom ersten Moment an. Eine großartige Figur. Sie ist einige Jahre älter als Julian und hat das Zeug dazu, jeden Mann in Schwierigkeiten zu bringen – ohne Worte.
»Aiko ging zweimal am Tag laufen oder schwimmen. Wenn wir im Haus oder im Garten aufeinandertrafen, machte ich ihr Platz, und sie ging geübt vorbei, meist ohne meinen Gruß zurückzugeben. Sie begegnete mir mit einem Ausdruck wachsamen Argwohns, und wenn ich es wagte, ihr eine Frage zu stellen, sagte sie bei erster Gelegenheit, sie habe keine Zeit für sinnloses Gerede.« (47)
Rums. In den ersten Tagen und Wochen holt sich Julian nichts als solche kommunikativen Kinnhaken ein, was ihn zwar von Judith ablenkt, aber eine andere Sorte blaue Flecken hinterlässt. Und während sich Aiko erfolgreich zur femme fatale kapriziert, wickelt Julian seine abgetakelte Beziehung mit Judith ab, deren neuer potenzieller Freund in seinem Kopf größer und mächtiger ist als er selbst. Was ist nur los mit ihm?

Der Roman ist sehr unterhaltsam und bietet viel Identifikationspotenzial. Nicht dass Julian einem sympathisch wäre. Mir ging er furchtbar auf die Nerven mit seiner Lahmarschigkeit, seiner Passivität und seinem Selbstmitleid, dauernd möchte man ihm ins Hemd treten oder ihm Beine machen. Aber man versteht ihn auch, fühlt mit ihm mit, hofft darauf, dass er einen der vielen Gordischen Knoten zerschlägt. Weil man schließlich selber mal zweiundzwanzig war und das Leben nicht nur Jubel, Trubel, Heiterkeit war, weil Schnapszahl und tralala, sondern eben auch abgründig und existenziell und tief. 

Julian muss lernen, mit Unsicherheiten umzugehen und sich auf mehrere Versionen von Zukunft einzustellen, weil sie nicht nur von ihm abhängen. Gewissheiten gibt es nur wenige und unter den Freunden und Bekannten fehlen ihm die role models. Da ist Nikki, seine WG-Partnerin in Wien, deren Daseinsform ihm ein Graus ist, da ist die lebenstüchtige Judith, deren Vitalität ihm suspekt ist, da ist der großmäulige Tibor, der seine Freundin auflaufen lässt. Das kann es nicht sein. Die Eltern sind keine Heimat mehr, dann schon eher derÜbungsraum, in dem er Karate trainiert, eine Art Refugium mit überschaubaren regeln und Ritualen. das ist etwas zum Festhalten.


***

Und da ist dieses Flusspferd, welch eigentümlicher MacGuffin, der Stein, der alles ins Rollen bringt, ohne in irgendeiner Form plausibel und welthaltig zu sein. Man darf ja schon mal fragen, wie viele Flusspferde man in seinem Leben schon in herkömmlichen Privatgärten gesichtet hat. So steht im Titel dieses Romans ein vielsagendes Bild. Das Ungewöhnliche, nein, das Ungewöhnlichste kann es sein, das der Beginn deiner Zukunft ist.

Arno Geiger: Selbstportrait mit Flusspferd. Hanser Verlag, München 2015. 288 Seiten.

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