Freitag, 15. Mai 2015

Marie Heurtin (F 2014)



Regie: Jean-Pierre Améris



zum Weinen schön 


»Im Kino gewesen. Geweint.«
Ich auch, denke ich nach diesem Film, einigermaßen verblüfft über mich selbst – und seltsamerweise auch ein wenig stolz oder erleichtert. Und es war nicht mal Kino, sondern bloß eine DVD.

Kafkas Tagebucheintrag ist mir eingefallen, weil Mann-Film-weinen, you know? Und vor allem weil seine lapidare Formel auf den Punkt bringt, was ich so erstaunlich an dem Phänomen des Filmweinens finde. Tagein tagaus lebst Du Dein Leben, kämpfst Deine Schlachten, je nachdem leckst Du Deine Wunden oder feierst Deine Siege, um Dich herum eine Welt voller Dramen, kleinen und großen, und dann der der Globus, auf dem wie eh und je Elend und Ungerechtigkeit toben – und stets behältst Du eine steife Oberlippe. Machen wir, kennen wir, geht schon, weiter im Text. Immerzu immerzu, wie es Büchners Woyzeck mantraartig formuliert.
Dann sitzt Du auf dem Sofa und legst einen Film ein, ohne Dir viel dabei zu denken, siehst hin, siehst hin, und zack! da kullern die Tränen. Und zwar ganz ohne den Einsatz von schluchzenden Geigen, epochalen Landschaften oder anderen Erpressungsversuchen. Nur klare Bilder, hell, Freundschaft, ein Gesicht, sogar die Sonne scheint, als ob nichts wäre. Wow, die Katharsis, denke ich da.

Ist das jetzt Rührseligkeit? Verdrängung? Projektion? Habe ich vielleicht sonst ein Problem und warte nur auf die passende Gelegenheit, um die notwendigen Tränen darüber anhand einer fremden Geschichte auf einem Bildschirm abzuweinen?

Zu Beginn des Films denke ich noch, das sei jetzt nichts für mich, zu beschaulich, zu langsam vielleicht. Ein Nonnenkloster in Frankreichs Westen, spätes 19. Jahrhundert, in the middle of nowhere. Ein Vater bringt seine blinde und gehörlose Tochter Marie zu den frommen Frauen. Ein verwildertes Bündel Mensch, sie sollen sich ihrer annehmen. Die Oberin lehnt ab, ihre Institution kümmerrt sich um gehörlose Mädchen, mit Blinden fehle ihnen die Erfahrung.
Der Vater zieht schweren Herzens wieder ab, mit seiner ahnungslosen Tochter im Schlepptau, er weiß jetzt nicht mehr, wohin mit ihr. Derweil bittet Schwester Marguerite die Oberin um ein Gespräch. Sie fleht sie an, sich um Marie kümmern zu dürfen, sie fühle sich berufen, ihr zu helfen. Ein Nein akzeptiert sie nicht, Gehorsam hin oder her. Zuletzt setzt sie sogar die eigene Lungenerkrankung ein, um sich durchzusetzen.

Schwester Marguerites Sturheit, gekoppelt mit einem starken Willen und dem Gefühl einer Bestimmung, trifft bei Marie auf tierhafte Angst und Abwehr. Hier die fürsorgliche Kontrolle und Zivilisiertheit in blauweiß, dort die triebhafte Energie in erdigem Braun. Das renitente, misstrauische Mädchen ist durch nichts zu bändigen. Man riecht sie förmlich, wie sie, in einem vor Dreck starrenden Hemdchen, die Haare verfilzt, um sich schlägt, schreit. Gleich in der ersten Nacht wird sie von den anderen Mädchen gepiesackt, sie befindet sich in Feindesland, so viel ist klar.
Ruhig wird sie nur, wenn sie an ihrem kleinen Taschenmesser aus hellem Horn riecht. Es ist ihr alles in einem: Kuscheltier, Freund, Heimat. Ansonsten versteht weder, wo sie ist, noch was man von ihr will. Ein wirklich aussichtsloser Kampf beginnt.

Marguerite will sie waschen, ihr beibringen, mit Messer und Gabel zu essen, sie benennt die Dinge, zu denen sie Maries Hände führt. Doch der Dreck unter den Fingernägeln ist noch nach Monaten da wie eh und je, trotzig wehrt sich Marie gegen die Vereinnahmung ihrer selbst, alle Anläufe verpuffen, vergebene Liebesmüh. Dieser weibliche Kaspar Hauser hört und sieht nichts, was willst Du ihr da zeigen? Und ich ertappe mich dabei, dass ich mich frage, ob ich mir das zumuten soll, erstaune über mich selbst, wie ich die Stacheln ausfahre. Wenn man nicht darauf vorbereitet ist, kann es eine frustrierende Erfahrung sein, einem solch untauglichen Versuch zuzusehen. Die Aneinanderreihung von Enttäuschungen macht einen schon beim Zusehen aggressiv, dieses Nichtfunktionieren von Kommunikation zehrt an den Nerven, Maries Renitenz ist nicht zum Aushalten. Es ist richtig gut.

Denn das Drehbuch zieht einen rein, auch ohne hollywoodeske Morgenröte. Im Gegensatz zu vergleichbaren amerikanischen Produktionen, wo es um Helfertum und Behinderung geht, um Großmut und den goldenen Kern (ach!) in jedem Menschen, wird hier auf zu oft gesehene dramatische Posen und geschmäcklerische dramaturgische Kniffe verzichtet. Améris setzt auf Sinnlichkeit, auf Details und stille Momente. Die karge Klosterwelt und die sie umgebende Natur setzen einen Akzent, der die Handlung atmosphärisch auflädt. Und es wird einfach bestechend gut gespielt. Und da weint man dann eben auch mal.

PS. Die Hauptdarstellerin Ariana Rivoir (hier ein Interview auf französisch) ist gehörlos, der deutsche Titel des Films lautet – leider – ›Die Sprache des Herzens‹ (seufz). 

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