Donnerstag, 27. Dezember 2012

Michel Houellebecq: Elementarteilchen (1998)

Vom Verschwinden der Liebe in Zeiten transzendentaler Obdachlosigkeit

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»Überall auf der Oberfläche der Erdkugel bereitete sich die an sich selbst zweifelnde, müde, erschöpfte Menschheit darauf vor, so gut es ging, ein neues Jahrtausend zu beginnen.« (S. 333)

1. Die zwei Protagonisten – Opfer der auf körperlichen Genuss und Selbstfindung fixierten Hippiebewegung


Der Roman erzählt die Geschichte von Bruno und Michel, zwei Halbbrüdern, die beide unfähig zur Liebe sind. Ihre Beziehungsunfähigkeit – das legt der Erzähler nahe – liegt darin begründet, dass sie in ihrer Kindheit keine elterliche Geborgenheit und Beständigkeit erfahren haben. Beide wurden abgeschoben. Aufgewachsen sind sie unabhängig voneinander bei je einer Großmutter. Ihre Mutter Janine (sie nennt sich später Jane) hat sich dem anhaltenden jugendlich-kollektiven Rausch der selbsterfahrungs- und bewusstseinserweiterungssüchtigen Bewegungen der 60er Jahre verschrieben und folgt ihrem Guru und Sexgott namens di Meola nach USA, Indien und zurück nach Frankreich. Die Väter führten ihr Leben mit anderen Frauen weiter. So viel zum Generationenvertrag. Der Rest ist Determinismus:

»Die Kinder ertragen die Welt, die die Erwachsenen für sie aufgebaut haben, versuchen, sich ihr so gut wie möglich anzupassen; und anschließend bilden sie sie im allgemeinen nach.« (283) 


2. Von der Einsamkeit Brunos – besessen vom beständigen Drang nach körperlicher Befriedigung 


Der eine Junge, Michel, flüchtet schon früh in die Welt der reinen Ratio (sein Vater war ein Schönheitschirurg und unglücklich), der andere, Bruno, scheint triebbesessen (bereits die Mutter verwechselt Sex mit Liebe). Kennenlernen werden sie sich erst in ihren Teenagerjahren. Eine glückliche, befriedigende Beziehung wird beiden immer vorenthalten bleiben.

Brunos Selbstbewusstsein wird bereits in den frühen Internatsjahren stark in Mitleidenschaft gezogen, so sehr ist er den Demütigungen seiner Mitschüler ausgesetzt. Dem Recht des Stärkeren und der Macht der Masse wird nichts entgegengesetzt. Seit der Pubertät ist er alternativlos seinem sexuellen Begehren ausgeliefert. Schuld ist Caroline Yessayans resp. deren Minirock, so will es seine eigene Legendenschreibung. Als er sich im dunklen Kinosaal der angebeteten Mitschülerin nähern will, berührt er nicht ihren Arm (was nach gesellschaftlich anerkannten Regeln erlaubt, weil es keusch genug ist), sondern ihren Oberschenkel, nichtsahnend, dass dieser des Minirocks wegen unbedeckt ist. Die Strafe: Ablehnung. Einmal und für immer. Von dieser ersten bewusst erlebten Zurückweisung an fühlt er sich ausgeschlossen von den sinnlichen Seiten der Liebe.

Für Brunos sexuelle Besessenheit findet der Leser nicht nur seine nymphomanische Mutter und seine Hormone verantwortlich, sondern Houellebecq erklärt ihn damit auch zu einem Kind seiner Zeit. Sein permanenter Drang nach Befriedigung treibt ihn in seinen Zwanzigern und Dreißigern trotz Ehe und Familiengründung in die Promiskuität, in die Bordelle, an den Rand des Wahnsinns und der Legalität – eine gemeingefährliche Krankheit, die ihn den Großteil seiner Lebenszeit und -kraft kostet.  Wie die Möhre, die unerreichbar vor dem Esel baumelt, führt sie ihn durch die Untiefen einer hedonistischen, sexuell befreiten, aber entgeistigten und komplett materialistischen Gesellschaft, die sich mit ganzer Seele dem Leib verschrieben hat und die Walpurgisnacht zum Alltag macht. Sexualität als Sinnersatz, als Gegenstand der Optimierung und als Leistungssport. Pornography Now. Aus der Verlorenheit und faustischen Daseinsnot, die ihn erschüttert, spricht Max Webers Postulat von der Entzauberung der Welt:

»Ich bin zu nichts gut […] meine persönlichen technischen Kompetenzen sind denen des Neandertalers weit unterlegen. Ich bin völlig abhängig von der Gesellschaft, die mich umgibt, und bin trotzdem so gut wie unnütz für sie […].« (S. 229) 

Bruno weiß diesem Trieb nichts entgegenzuhalten, kein intellektuelles Surrogat, keine Romantik, keine Passion, und sein halbwüchsiger Sohn ist ihm so fremd wie die eigene Mutter, schlimmer noch: er wird ihm zum Konkurrenten:

»In höchstens zwei Jahren würde sein Sohn versuchen, mit gleichaltrigen Mädchen auszugehen […] Sie würden sich bald in Rivalität zueinander befinden, dem Naturzustand der Männer. Sie waren wie Tiere, die sich in demselben Käfig bekämpften, dem Käfig der Zeit.« (189)

Nur das Gefühl von Verlorenheit. In seinen Vierzigern, als er bereits die Hoffnung aufgegeben hat, dass sich eine Paarbeziehung und sein Trieb vereinen lassen, gerät er an Christiane, eine Frau, die sich als Seelenverwandte herausstellt. Er gesteht ihr seine Not, er leert ihr seine Seele aus, worauf sie ihn im Kampf gegen sein geringes Selbstwertgefühl in die Dünen des südfranzösischen Cap d'Agde führt. Die sexuell befreiten Zonen dieser Urlaubsmaschine im XXL-Format stellen das öffentlich-rechtliche Xanadu einer Bewegung der Enthemmten, das Gelobte Land der Beate-Uhse-Welt, ein Schauplatz der Sinnenfreude dar. Gleichzeitig herrscht Sozialdarwinismus, denn auch hier ist das ›Glück‹ vor allem den Schönen und Jungen vorenthalten. Die anderen dürfen zusehen. Buchstäblich das nackte Grauen: 

»Am Cap d'Agde wie auch anderswo ist eine Frau mit jungem, ansprechenden Körper oder ein markanter, gutaussehender Mann schmeichelhaften Angeboten ausgesetzt. Am Cap d'Agde wie auch anderswo ist ein fettes alterndes oder häßliches Individuum zur Onanie verdammt […].« (251)

So beschreibt Bruno in seinem Loblied, das er in einem Magazin veröffentlichen will, diese sehr diesseitigen elysischen Felder der Geheimnislosigkeit, Desillusioniertheit und Enthemmung. 


3. Die Einsamkeit Michels – von der Flucht in die reine Ratio


Michel ist scheu und introvertiert. Während Bruno wie Goldmund in Hermann Hesses Narziss und Goldmund die konkrete weltliche Erfahrung sucht und sich dabei der Enttäuschung und Verzweiflung aussetzt, entspricht Michel der Figur des Narziss, dessen Suche geistige Wege geht. Er bunkert sich in der Wissenschaft ein und sucht sein Glück in der Molekularbiologie, die ihn mitunter mit Erkenntnissen philosophischer Natur versorgt, zum Beispiel zum Thema Willensfreiheit. 

»Die Turbulenzen einer strömenden Flüssigkeit in der Nähe eines Brückenpfeilers sind strukturell unvorhersehbar; niemand würde aber deshalb auf den Gedanken kommen, sie als frei zu bezeichnen.« (258)

Die geschlechtliche Triebhaftigkeit seines Halbbruders Bruno ist ihm persönlich fremd, seine Empfindungen und Bedürfnisse in diese Richtung sind vergleichsweise inexistent. Vor allem betrachtet er sie mit Aldous Huxley (und darüber hinaus) als eine von der westlich-hedonistischen Kultur und Marktwirtschaft mutwillig geförderte notwendige Konsequenz der Aufklärung:

»Die metaphysische Wandlung, die den Materialismus und die moderne Wissenschaft hervorgebracht hat, hat zwei entscheidende Dinge zur Folge gehabt: den Rationalismus und den Individualismus. […] Aus dem Individualismus erwachsen Freiheit und Selbstgefühl sowie das Bedürfnis, sich von anderen zu unterscheiden und sich ihnen überlegen zu fühlen. Er [Huxley] hat nicht begriffen, daß Sex, sobald man ihn von der Zeugung löst, nicht so sehr als Lustprinzip, sondern vielmehr als Prinzip narzistischer Unterscheidung weiterbesteht […] [D]ie metaphysische Wandlung […], die die moderne Wissenschaft herbeigeführt hat, [bringt] Individualisierung, Eitelkeit, Haß und Begierde mit sich. Die sinnliche Begierde an sich – im Gegensatz zur Lust – ist eine Quelle des Leidens, de Hasses und des Unglücks. Die Lösung der Utopisten – von Platon über Fourier bis zu Huxley – besteht darin, die sinnliche Begierde und das Leiden, das damit verbunden ist, zu stillen, indem sie deren unmittelbare Befriedigung organisieren. Die eros- und werbungsorientierte Gesellschaft, in der wir leben, ist dagegen bestrebt, die sinnliche Begierde in unerhörtem Ausmaß zu fördern […]. Für das reibungslose Funktionieren der gesellschaft. für das Weiterbestehen des Wettbewerbs, ist es erforderlich, daß die sinnliche Begierde zunimmt, sich ausbreitet und das Leben der Menschen verzehrt.« (180ff.) 

Michel sucht Trost in den Bereichen, die ihm die Forschung erschließt. Auf der Hochzeitsfeier Brunos und dessen ersten Frau Anne sucht er den Kontakt zum Priester, der gerade mit seinen frommen Worten einen althergebrachten Sinnhorizont aufgespannt hat (»Sie werden sein ein Fleisch«):

»Wenn zwei Elementarteilchen vereint worden sind, bilden sie fortan ein unteilbares Ganzes, das scheint mir einen direkten Bezug zu dieser Geschichte mit dem einen Fleisch zu haben.« (S. 196)

Hier versucht einer verzweifelt, die Brücke von den hergebrachten Werten in die rationalisierte, entzauberte Welt zu retten. Als er mit seiner Jugendliebe Annabelle zusammenkommt, findet er eine gewisse Form der Seelenruhe darin, mit ihr in eine inniger Zärtlichkeit zu verschmelzen, ganz frei von jedem Trieb. Die Beziehung bleibt in ihrer Jugend zu Annbelles Unverständnis rein platonisch und ist es im Grunde noch immer.

» […] diese Sanftheit, diese Wärme versetzte ihn an den Beginn der Welt.« (S. 266)


4. Houellebecqs Gesellschaftsanalyse: Replikanten statt Liebe in einer zukünftigen Brave New World


Solcherlei Trost ist rar gesät. ›Elementarteilchen‹ platzt vor philosophischen Verweisen und Ansätzen und ist bis ins Mark kulturpessimistisch. Apocalypse Now. Wer Houellebecq liest, muss sich seelische Pulswärmer anziehen, so kalt ist sein Erzählkosmos. Die Fratze des allgegenwärtigen Todes, der uns bedroht, antreibt und lähmt, verschreckt und anzieht, die zunehmende transzendentale Obdachlosigkeit der westlichen Kultur, unser animalischer Trieb nach Leben, die Beliebigkeit der menschlichen Paarbildung, gleichzeitig die Determiniertheit unseres Treibens. Indem wir im Verlauf unserer Kulturgeschichte zugelassen haben, dass Sexualität und Erotik von intellektueller und geistiger Verführung zusehends abgekoppelt wurden, bleibt beim Verlieben und Lieben (wenn man es denn noch so nennen kann) eine verheerende Fixierung auf rein Äußerliches und Körperliches, die Geborgenheit, Verbindlichkeit und Ruhe unerreichbar machen. So lautet eine zentrale These des Romans. Spätestens die sexuelle Befreiung hat das Ende einer über eine Jahrhunderte währende Übergangsperiode eingeläutet, sie hat die fragile Hütte namens Liebe und Verbindlichkeit durch einen Supermarkt mit den Waren Sexualität und Zügellosigkeit ersetzt, in dem sich alle bedienen, ohne an die Rechnung zu denken, die sie an der Kasse begleichen müssen. Und die da heißt: Ersetzbarkeit, Flüchtigkeit, Alterungsprozess, Einsamkeit, Tod.
Und die Lösung alles Probleme? Die kann nur technischer Art sein. Das ist der Weisheit letzter Schluss, der endgültige Sieg der Naturwissenschaften über Relikte eines verkommenen transzendenten Weltbilds. Houellebecq diagnostiziert die Überkommenheit des Humanismus und der Humanwissenschaften, der bereits seit seiner Geburt zu Beginn der Neuzeit (die gleichzeitig dem Materialismus zum Durchbruch verhalf) lediglich ein Übergangsmodell war. Er denkt damit die Bestrebungen unserer Kultur, den modernen Menschen und sein Dasein zu optimieren, konsequent weiter. Der Roman mündet in Form von Michels Forschungen, der die letzten Jahre seines Lebens in Irland verbringt und sich ganz der Reproduktionsforschung widmet, in eine dystopische Vision von einer besseren Welt, in welcher die menschliche Ratio in Gestalt der Molekularbiologie das Ruder ganz übernimmt und nichts mehr dem Zufall überlässt, vor allem nicht ihre eigene biologische Entwicklung. Es braucht einen Paradigmenwechsel.
Im Jahre 2013, so will es der Roman, führt der Slogan eines Wissenschaftlers, der Michels Arbeit weiterführt, zu einem entsprechenden weltweiten Meinungsumschwung:

» DIE WANDLUNG FINDET NICHT IM GEIST STATT, SONDERN IN DEN GENEN.« 
(S. 355)

Die Biochemie hat gewonnen. Der Maximierung des Lustempfindens als dem ultimativen Daseinszweck sind fortan keine Grenzen mehr gesetzt. Der Replikant ist der glücklichere und bessere Mensch von morgen. Er wird am 27. März 2029 geboren werden.


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Angesichts von Houellebecqs luzidem Zynismus scheint mir unverständlich, wie Oskar Roehler den Roman 2006 zu einer vertrottelten Komödie werden lassen konnte, die trotz einer hochkarätigen Besetzung nichts von seinem explosiven philosophischen Potenzial transportiert. Nach der zweiten Lektüre innert zehn Jahren möchte ich Elementarteilchen an dieser Stelle all jenen wärmstens empfehlen, die sich grundsätzlich gerne von philosophischen Erzählungen inspirieren lassen und keine Angst haben, wenn sie ihr vielleicht diffuses Unbehagen in der Kultur derart konsequent und konkret vor Augen geführt und zu Ende gedacht bekommen wie bei Houellebecqs Roman. 

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Michel Houellebecq: Elementarteilchen. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Econ Ullstein List, München 2001 (erstmals 1999). 357 Seiten.
Titel und Jahr der französischen Erstausgabe: Les particules élémentaires. Flammarion, Paris, 1998.

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