Du kannst dich nicht nicht verhalten
Wie blind sind wir für die
Wirklichkeiten unserer Mitmenschen? Wie viel Verantwortung tragen wir für sie?
Wie gehen wir mit fremdem Leid um? Wie vertragen sich Mitleid und Liebe?
Keine leichten Fragen, jedenfalls sind sie zeitlos. Stefan Zweigs psychologischer Roman – sein einziger
nichthistorischer – geht ihnen am Beispiel eines jungen Mannes nach, der ohne
böse Absicht andere ins Unglück stürzt und dabei sich selbst kennenlernt. Eine
ungeheuerliche Geschichte über das menschliche Lavieren, über den Eiertanz
einer unentschlossenen Seele – und über die Abgründe in uns.
***
Frühsommer 1914, der Frühling
vor dem großen Krieg, ein verschlafenes Garnisonsstädtchen in der ungarischen
Provinz. Anton Hofmiller, ein Leutnant von 25 Jahren, sieht in der Stadt eine
hübsche junge Frau namens Ilona. Er will sie wiedersehen, und wird dank guter
Beziehungen wenige Tage später von ihrem wohlhabenden Onkel eingeladen. Nach einem
ausgiebigen Dinner und vielen Flaschen Wein wird getanzt, er ist glücklich wie
schon lange nicht mehr und wohl ein bisschen verliebt.
Aus Höflichkeit dem Hausherrn
gegenüber bittet er auch dessen Tochter Edith zum Tanz, Ilonas Cousine. Ein
Faux-pas mit Folgen. Denn was er bei Tisch nicht sehen konnte: die 17jährige
Edith Kekeskalva ist seit zehn Jahren mit Kinderlähmung auf den Rollstuhl angewiesen.
Sie reagiert verletzt, panisch, verzweifelt, worauf Hofmiller völlig irritiert
aus dem Haus stürzt. Weil er sich für sein Verhalten schämt – und weil er
fürchtet, es könnte die Runde im Städtchen und seinem Regiment machen –, lässt
er Edith am nächsten Morgen einen opulenten Blumenstrauß zukommen und bittet um
Wiedergutmachung. Doch diese Botschaft wird ihm anders ausgelegt.
***
Damit ist die Ausgangslage von
›Ungeduld des Herzens‹ genannt. Weil Hofmiller es fortan versäumt, klarzustellen,
dass er an keiner Liebesbeziehung interessiert ist, entsteht im Schatten einer
Zufallsbekanntschaft eine ungleiche Freundschaft, in deren Verlauf immer mehr
Verbindlichkeiten entstehen. Daran trägt er selbst die Hauptschuld. Eingeklemmt
zwischen Mitleid für die versehrte junge Frau und dem euphorisierenden
Bewusstsein um die eigene Bedeutsamkeit für das Leben eines anderen Menschen,
entwickelt sich ein minutiös aufgezeichnetes menschliches Drama. Trotz des
kammerspielartigen Rahmens und der epischen Länge (450 Seiten) ist der Roman außerordentlich
spannend, sofern – und das ist die conditio
sine qua non – man sich für die Verästelungen der menschlichen Psyche
interessiert und das Melodram nicht scheut.
Was mich an dem gut 70 Jahre
alten Roman interessiert, möchte ich kurz anhand zweier Aphorismen
veranschaulichen:
***
›Die Welt ist auf verschiedene
Weisen.‹ Ein schöner Satz, wie ich finde, offen, geraderaus, belehrungsfrei,
allenfalls etwas prätentiös. Er begegnete mir vor vielen Jahren auf einem
Plakat, das ein Freund im gemeinsamen Bad unserer WG aufhängte. Seither ist er
fester Bestandteil meines inneren Almanachs, meiner eigenen Weltformel. Er
bringt etwas sehr Grundsätzliches auf den Punkt, das gerade deshalb gerne
vergessen geht: Das gemeinsame Nichtgemeinsame; das Bewusstsein für das Andere in deinem Gegenüber, deinen
Mitmenschen, das, zu dem du keinen Zugang hast. Das Gemeinsame, das uns
voneinander trennt also.
Der Satz steht damit in einem Spannungsverhältnis
zu einer anderen Wahrheit, eine, die unser verbindendes Gemeinsame
unterstreicht: dass wir uns alle nach demselben sehnen, genauer: dass wir voneinander alle dasselbe erhoffen – nämlich Liebe,
Bestätigung und Anerkennung.
›Du kannst dich nicht nicht verhalten.‹ Ein weiterer Satz,
angelehnt an Paul Watzlawicks ‹Du kannst nicht nicht kommunizieren.‹ Auch das ein wahrer Satz, wenngleich
nüchterner, weniger inspirierend. Aber wahr. Mit unserem Handeln und
Unterlassen senden wir Signale aus. Und wer sie wahrnimmt, macht sich darauf
einen Reim, macht sich auf uns einen
Reim. Und trägt dieses Bild von uns an uns heran. Es führt dazu, dass wir uns
über den Umweg der anderen unbewusst und unkontrolliert selbst generieren. Bei
Max Frisch klingt das so: »In gewissem Grad sind wir […] das Wesen, das die
andern in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! auch wir sind die
Verfasser der andern; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich
für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber
für die Ausschöpfung dieser Anlage.« (Tagebuch 1946-1949, S. 33)
***
›Ungeduld des Herzens‹ dreht
sich unter anderem um die Frage, wie sehr wir uns beider Problematiken bewusst
sind, die diese zwei Sätze offenlegen, und was wir bei uns und bei anderen anrichten,
wenn wir uns ihrer nicht bewusst
sind. Und wenn wir infolgedessen nicht
zu Ende denken, wohin unser Handeln und Unterlassen führen kann; was wir damit
beim andern auslösen und wie er uns liest, auslegt, versteht.
Hofmiller selbst ist der
Ich-Erzähler. Mit selbsterforschender Akribie und bestürzender Aufrichtigkeit
schildert er aus der Distanz einiger Jahre den Verlauf der paar Monate, in
denen er im Hause Kekeskalva verkehrte. Er erzählt sehr emotional, Reue und
Gewissensbisse plagen ihn, Hoffnung, Euphorie und Pathos bilden die helle
Gegenseite, Lichtungen des Guten. Außerdem erlebt der Plot einige krasse Wendungen.
Sie sind teilweise der Achterbahn seiner Gefühle geschuldet, teilweise dem ebenso unsteten Verhalten Ediths.
Beeindruckend finde ich, wie
facettenreich Zweig die Anarchie des Fühlens in überfordernden Situationen
beschreibt: Befürchtungen, Sehnsüchte, Realitätsblindheit, Appelle an das
bessere Selbst in einem, knallharter Realismus, verklärender Pathos,
Panikanfälle, gute Vorsätze – man bekommt mit, wie sowohl der Gesunde wie die
Kranke nicht wissen, wie sie mit der Situation umzugehen haben. Zum einen ist
es ein erstes mal, zum andern wissen sie nicht, wem sie es mehr recht machen
sollen, sich oder dem anderen. Und trotz der Überforderung erwarten sie von
sich selbst, eine klare Haltung einzunehmen und wollen dazu noch ein gutes Bild
von sich abgeben.
***
Zum Abschluss folgen zwei Passagen
als Beispiele für Zweigs leicht zu lesende und doch gedanklich anregende Prosa.
Im ersten Auszug denkt Hofmiller darüber nach, welche Unterschiede zwischen
einem ungeliebten Mann und einer ungeliebten Frau bestehen – eine besonders für
Genderforscher interessante und anregende Stelle:
Immer hatte ich junger und wenig erfahrener Mensch bisher Sehnsucht und Not der Liebe für die schlimmste Qual des Herzens gehalten. In dieser Stunde aber begann ich zu ahnen, daß es noch eine andere und vielleicht grimmigere Qual gibt, als sich zu sehnen und zu begehren, nämlich geliebt zu werden wider seinen Willen und dieser andrängenden Leidenschaft sich nicht erwehren zu können. […] Wer selbst unglücklich liebt, vermag zuweilen seine Leidenschaft zu bezähmen, weil er nicht nur Geschöpf, sondern zugleich selber Schöpfer seiner Not ist […] Vielleicht nur ein Mann kann das Auswegslose einer solchen Bindung ganz erfühlen, nur für ihn wird das ihm aufgezwungene Widerstrebenmüssen gleichzeitig Marter und Schuld. Denn wenn eine Frau gegen unerwünschte Leidenschaft sich wehrt, gehorcht sie im tiefsten dem Gesetz ihres Geschlechts; gleichsam urtümlich ist jedem Weibe die Geste der anfänglichen Weigerung eingetan, und selbst wenn sie glühendstem begehren sich verweigert, kann man sie nicht unmenschlich nennen. Aber verhängnisvoll, wenn die Waage umstellt, sobald eine Frau ihre Scham so weit bezwungen hat, um einem Manne ihre Leidenschaft zu offenbaren, wenn sie ohne Gewissheit der Gegenliebe schon ihre Liebe bietet, und er, der Umworbene, bleibt abwehrend und kalt! Unlösbare Verstrickung dies immer, denn das Verlangen einer Frau nicht erwidern, heißt auch ihren Stolz zernichten, ihre Scham verstören […] (S. 279f.)
***
Die bewegendsten Passagen betreffen
Edith und wie sie ihr Gebrechen erlebt und mit ihm und ihrer Gesamtsituation umzugehen
versucht:
»Keine neuen Erfindungen jetzt … nur keine neuen Unwahrheiten, ich ertrag keine mehr! Mit Lügen bin ich überfüttert bis zum Erbrechen. Von früh bis abends löffelt man sie mir ein: ›Wie gut du heute aussiehst, wie famos du heute marschierst … großartig, es geht schon viel, viel besser‹ – immer dieselben Beruhigungspillen von früh bis abends, und keiner merkt, dass ich daran ersticke. Warum sagen Sie mir nicht kerzengerade: Ich habe gestern keine Zeit, keine Lust gehabt. Wir haben doch kein Abonnement auf Sie und nichts hätt mich mehr gefreut, als wenn Sie mir durchs Telephon hätten sagen lassen: ›Ich komm heut nicht hinaus, wir bummeln lieber in der Stadt lustig herum.‹ Halten Sie mich für so albern, daß ich’s nicht verstehen sollte, wie Ihnen das manchmal über sein muß, hier tagtäglich den barmherzigen Samariter zu spielen, und daß ein erwachsener Mann lieber herumreitet oder seine gesunden beine spazierenführt, statt an einem fremden Lehnstuhl herumzuhocken? Nur eins ist mir widerlich und eins ertrag ich nicht: Ausreden und Schwindel und Lügereien – damit bin ich eingedeckt bis an den Hals. […] (S. 98f.)
Angaben:
Stefan Zweig: Ungeduld des
Herzens. Frankfurt a.M: Fischer 2011.
Max Frisch: Tagebuch 1946-1949.
Frankfurt a.M: Suhrkamp 1985.
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