Sonntag, 25. August 2013

Jagten / Die Jagd (Dänemark 2012)


Regie: Thomas Vinterberg

Mit Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen



Dramaturgie der Blicke

Was sind uns unsere Kinder? Wie gut kennen wir sie? Wie ernst nehmen wir sie?

Der Auftakt: Die fünfjährige Klara mag Lucas (Mads Mikkelsen). Sie mag ihn so gut, dass sie den Kindergärtner gerne für sich alleine hätte. Lucas ist lustig, er tobt gerne, und er hat einen lieben Hund, den Klara manchmal alleine ausführen darf. Doch der Erzieher muss sich um alle Kinder kümmern. Eifersüchtig, argwöhnisch beobachtet sie, wie Lucas mit den anderen herumtollt. Ihr Blick, ihre Mimik verraten, was sie denkt: Wieso nicht ich? Lucas ist mein Lehrer. Einmal geht sie zu ihm und drückt ihm einen Kuss auf den Mund, kein Kinderkuss, zu gezielt auf den Mund, zu lange. Irritiert sieht er ihr hinterher. Was war das denn? 

Später sitzt sie alleine und stumm in einem Zimmer im Halbdunkel. Es dämmert früh im Norden, zumal im Winter. Ein hübsches Kind, aber das Gesicht so ernst, bekümmert, und dann so einsam, still und verloren? Eine Lehrerin sieht sie und fragt nach. Es sei wegen Lucas. Er sei blöd. Wieso das denn? Sie mögen sich doch so? Er habe ihr seinen ›Schniedel‹ gezeigt. Schweigen. Angehaltener Atem. Alarm. Minengebiet. Vorsichtiges, aber gezieltes Nachfragen. Wie das denn ausgesehen habe. Na so aufrecht.

Wir wissen, dass Klara lügt – und warum. Die Formulierungen hat sie bei ihrem pubertierenden Bruder aufgeschnappt, als der sich mit einem Freund Pornobilder auf dem i-Pad ansah und die kleine Klara damit erschreckte. Doch das behält sie für sich. Sie merkt, dass sie bei den Erwachsenen etwas auslöst, dass sie jetzt ihre Aufmerksamkeit hat. Das ist interessant, so einfach geht das also. Ist es das, was sie denkt? Bereut sie es nicht bereits? Ist sie nicht eher eingeschüchtert, weil sie nicht weiß, was jetzt auf sie zukommt und merkt, dass man jetzt mehr von ihr wissen will? Nur was? Mehr zu erzählen hat sie ja nicht. Woher auch.


Überforderung und Tabu

Also verstummt sie wieder. Blicklos sieht sie in die Gesichter der Großen, eines der Bilder, das mehrmals wiederkehrt, das den Film prägt: Ihr glattes Gesicht, auf dem die wissenden, geduldig forschenden Blicke der Eltern und Erzieherinnen ruhen. Was bedeutet das alles?
Auch die Erwachsenen verstummen auf ihre Weise. Sie reagieren verstört, bemüht – und hilflos, denn sie sie wollen nichts falsch machen, wissen aber nicht, wie das geht.  Klara soll ihnen das Unsagbare, nicht Kindergerechte erzählen, ohne darüber sprechen zu müssen. Man weiß nicht, wer mehr überfordert ist, eine absurde Situation.
Die Kommunikation beruht auf Andeutungen, nicht nur im Gespräch mit Klara, sondern auch untereinander. Das Tabu steht groß im Raum und darf nicht angerührt werden. Betroffen werden halbe Sätze gesagt, Blicke gesenkt. Der ideale Nährboden für Gerüchte. Und je mehr ihnen ihre eigene Unfähigkeit bewusst wird, so scheint es, desto schwerer wiegt die vermeintliche begangene Tat, desto mehr wird Lucas zum großen Unhold, der sie zwingt, sich mit etwas zu beschäftigen, was man nicht mit ein paar Flaschen Schnaps  aus der Welt trinken kann. Bruder Alkohol, der große Vermittler, er macht auf einmal bitter, wo er eben noch die gemeinsamen Feste begründete.

Das Drehbuch steht nicht auf der Seite des Kindes. Und schon gar nicht auf der Seite der Erwachsenen, die sich der Sache annehmen, die Gemeinde, der sich Lucas nun alleine gegenüber sieht. Kommt hinzu: Klara ist die Tochter seines besten Freundes Theo (Thomas Bo Larsen). Schon die erste Begegnung zwischen den beiden nach dem Vorfall offenbart die Grenzen der Freundschaft: Meine Tochter lügt nicht. Also lügt Lucas. Das klingt ganz einfach. Wo Unsicherheit herrscht, muss Gewissheit her.


Wie bei Heinrich von Kleist

Noch mehr als die Blicke der kleinen Klara prägen der Blick von Lucas den Film. Blicke zwischen Unglauben und Leere. Zu Theo: wer bist du eigentlich? Zu den anderen Erzieherinnen, der Freundin, den Verkäufern im Supermarkt, die sich weigern, ihn zu bedienen, der fragende Blick zu Klara: warum tust du das? Mads Mikkelsens Gesicht ist wie dafür gemacht, der Figur des Lucas eine interessante Ambivalenz zu verleihen. Und zwar nicht in der dämlichen Art, wie es in gängigen Pseudomelodramen für die Masse praktiziert wird, dass man das Publikum dazu verleitet, wider allen gesunden Menschenverstands an der Integrität des Protagonisten zu zweifeln, um dann zuletzt erleichtert aufzuatmen: ich habe es immer gewusst, er ist unschuldig! Großes Gähnen. 

Mit solchen Kindereien hält sich ein Vinterberg nicht auf. Und auch ein Mikkelsen nicht. 
Stattdessen: Kleist. 

Mikkelsen wirkt gleichzeitig verwundert und gefasst. Stoisch zum die Wände hochlaufen. Wie in Trance. Als müsste sich entweder plötzlich alles in Wohlgefallen auflösen, ein seltsamer Spuk, ein Missverständnis – oder aber, als hätte das gar nicht anders kommen können, als habe er das den Menschen zugetraut, als habe er immer schon gewusst, was in ihnen steckt. Hass, Misstrauen, Lieblosigkeit, Kälte, you name it. Die Büchse der Pandora. Als habe sein Lucas die gesammelten Werke von Heinrich von Kleist gelesen und verinnerlicht, was der deutsche Dichter, dem ›auf Erden nicht zu helfen war‹, wie ein Besessener wieder und wieder erzählt hat: Die Formel von der ›Gebrechlichkeit der Welt‹. Wir schweben immer über einem Abgrund. Jederzeit. Ob Kohlhaas, Penthesilea, Marquise von O, selbst die flotte Eve, Amphitryon oder das Käthchen: Das All ist kalt. Die Menschen sind unberechenbar. Die Erde bebt.

Man möchte Lucas helfen, man möchte ihm den Mund öffnen, man wünscht ihm einen Ausbruch. Das Problem: niemand will ihn anhören. Die Unschuldsvermutung wird ausschließlich auf das Kind angewandt. Es ist doch noch so klein.

***

Eine zentrale These des Films lautet: die Menschen möchten das Böse so unbedingt von ihren Kindern fernhalten, dass sie sich darin verbeißen, sobald sie es in ihren Händen glauben. Der vermeintliche sittliche Verstoß wird als das Undenkbare unbarmherzig geahndet, damit man sich nicht mit der Frage auseinandersetzen muss, ob er überhaupt stattgefunden hat. In der gemeinsamen Empörung versichert man sich der Abgründigkeit des Schuldigen und der gemeinsamen Werte und vergisst alle Bedenken.
Denn: Ließe man den Sündenbock aus der Mangel, müsste man ja vielleicht erkennen, dass es die eigene Projektion ist, die man hier verurteilt. Dann lieber feste druff. Irgendwo muss es doch sein, dieses verdammte Böse, und dann schon lieber beim anderen als bei mir.

Reicht das bereits zum Skandalon? In den Augen so mancher vermutlich schon, denn wenn es um das Thema Kindesmissbrauch geht, hört die Lust zur Differenzierung auf, die Dunkelziffer ist zu hoch, um das Verdachtsmoment nicht hochzuhalten.

›Festen‹, Vinterbergs Erstling, schlug vor 15 Jahren wie eine Bombe ein. Ein erwachsener Sohn erzählt dem Vater vor versammelten Gästen in einer Festrede vom Missbrauch des Jubilars an den eigenen vier Kindern. Mit ›Jagten‹ hat Vinterberg wieder einen großen Film zum gleichen Thema gemacht, stiller als der erste, aber auch heikler, sensibler. Ein Film über die Untiefen selbst des unschuldigsten Kindergesichts und der dicksten Freundschaft. 

Die kleine Klara ist süß – aber sie lügt.

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