Odyssee einer jungen Frau in einer alten Welt
»Ich kritisiere nicht. Ich lehne ab. Ich lehne jede Verantwortung für all diese Erbschaften ab, mit denen ich belastet werde. Jede Verantwortung.« (377)
Sagt
Nelia Fehn vor laufender Kamera im Live-Interview mit 3sat. Ein cooles Statement,
besonders für eine 20jährige, besonders bei einem ersten Fernsehinterview. Ihre Aussage bildet auch das Leitmotiv des Romans, der rund 48 Stunden in ihrem
Leben erzählt und in dem wir die verschiedenen Fronten kennenlernen, an denen sie gerade um ihre Selbstvergewisserung kämpft.
Denn so selbstsicher, wie ihr Statement vermuten lassen könnte, ist Nelia in Wirklichkeit gar nicht, eigentlich hat sie sich vorgenommen, solche kapitalen
Aussagen genereller Natur zu vermeiden und ausschließlich über ihren Roman zu reden.
»Sie musste durchsetzen, dass das ein Roman war und kein Buch und dass es richtig war, dass es Romane gab, und dass es um die Wahrheit ging. Um die vielen Möglichkeiten davon. Wenn sie das vor der Kamera alles sagen konnte, dann würde sie es selber glauben müssen. Dann konnte sie nicht mehr in diese Zweifel verfallen.« (313)
Diese Zweifel hat sie nämlich: Ihr Debut handelt von der Reise einer familiär überdurchschnittlich
vorbelasteten jungen Frau ins Griechenland der Gegenwart, wo gerade alles aus
dem Ruder läuft. Und wo sie einen Mann kennenlernt. Neues Horizonte, neue Themen. Die familiäre Vergangenheit, der mitgebrachte Ballast, wird
eingearbeitet, abgearbeitet, weggeschrieben. Nun kann die Zukunft beginnen. Doch die ist von der Vergangenheit nicht so leicht zu trennen, sie hängt sogar von ihr ab. Es ist kompliziert. Der Reihe nach.
Mit ihrem Roman landet sie, frisch vom Abitur, auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Was
vielleicht kein Zufall ist. Denn sie tritt damit in die Fußstapfen ihrer
Mutter, die fünf Jahre zuvor verstarb und so etwas wie ein österreichischer
Literaturstar war. Kein leichtes Erbe. Aber womöglich eine Starthilfe, und zwar
eine, die sie brauchen könnte, allein aus ökonomischen Gründen. Im richtigen Leben heißt dieser junge griechische Mann Marios und wurde bei einer Demo von der Polizei übel zugerichtet. Nun liegt er mit zwei gebrochenen Fußgelenken in der Wohnung seinr Eltern und ihm fehlen die rund 50'000 Euro für die notwendige OP. Grund genug für Nelia, die prestigeträchtige Auszeichnung gewinnnen zu wollen. Auch wenn das Preisgeld nur für ein Fußgelenk reichen würde.
Damit der gewonnen wird oder damit aus ihr überhaupt jemand wird, der vom Schreiben leben könnte, muss sie sich anpassen, die Regeln möglichst befolgen, so wie das ihre Mutter getan hat, wie es ihr der verleger Gruhns anrät, wie es von verschiedenen Seiten an sie herangetragen wird. Die Frage lautet: Will sie das? Denn sie ist gerade dabei, sich zu lösen, zu sich zu kommen. Da ist so ein Anpassungsprozess kontraintuitiv. Und mit ihren jungen Jahren und als Newcomer ist sie sowieso eine Exotin, ein Fremdkörper in dem von Routine geprägten Literatur- und Messebetrieb.
»Es war aber auch klar, dass das alles vollkommen gleichgültig war. Sie würde da auftauchen und wieder verschwinden. In diesem Trubel hier. Sie kam sich vor wie ein sehr kleines Mädchen, das auch ein geburtstagsgedicht aufsagen durfte. Alle fanden das kleine Mädchen süß. Aber dann wandten sich die Erwachsenen ab und redeten über die wichtigen Dinge. Sie sagte sich, dass das an ihr liegen würde. dass es an ihr läge, wie sie wahrgenommen werden würde. dass si es in der Hand hatte.« (368)
***
Gleichzeitig mit dem Ruf nach Frankfurt zur Buchmesse muss sie sich von ihrer Restfamilie
verabschieden, ein Abschied für immer. Der Tod des fast 90-jährigen Großvaters,
dessen Liebling sie war, bedeutet, dass sie nun aus dem Nest geworfen wird. Man
hat schon ihrer Mutter den Erfolg und den Glamour geneidet, man hat nach deren
Tod das uneheliche Kuckuckskind zur Pflege übernommen, doch nun, nach dem
Abitur und dem Tod ihres Beschützers und Mäzens, ist ihre Zeit abgelaufen. Von
der Oma und der Tante etcetera hat sie nichts mehr zu erwarten.
Und
dann ist da noch ihr Vater. Der wohnt in Frankfurt, wo sie jetzt hinfliegt, und will sie
treffen. Die Gelegenheit nicht versäumen, die junge Frau kennenzulernen, deren
Geburt er, wie sich bald herausstellt, lieber verhindert hätte. Da fragt sich die Tochter im Aufbruch: Ist sie für ihn
jetzt nur interessant, weil sie im Begriff ist, zu einer öffentlichen Person zu
werden? Will Nelia einen Mann kennenlernen, der abgesehen von seinen
Minimalbeträgen an Unterhaltsgeld keine Rolle in ihrem bisherigen Leben
spielte? Immwrhin könnte sie über ihn eine Seite ihrer Mutter kennenlernen, von der sie nichts weiß. Andererseits war ihr Erzeuger in ihren Augen fast schon tot:
»Dieser Körper war sterblich. Es war einer dieser Augenblicke und es fiel über sie her. Die Sterblichkeit einer anderen Person. Die Verletzlichkeit hüllte dann diese Person ein. Ganz. Die Person wurde vor den Augen das, was vergänglich war. In solchen Augenblicken wurde ihr das Leben selbst klar. Klar in einer Ahnung und ungenau. Und nur kurz zu ertragen und gleich wieder verging. Beim Großvater eben genauso gewesen. Der Großvater in seinem Intensivbett inmitten seiner Apparate und ihren Signalen. Und jetzt war dieser Mann vor ihr. Der war auch alt. Nur von seinem Leben wusste sie schon gar nichts. Er hatte nur ihres mitbewirkt wie der Großvater auch. Das schien aber hier endgültig gleichgültig zu sein, und trotzdem saßen sie hier.«(238)
Die Auseinandersetzung mit ihrem fast schon toten vater ist nur eine der Fronten, mit denen sich Nelia gleichzeitig
auseinanderzusetzen hat und die sie über die mehr als 400 Seiten begleitet. Eine andere ist ihr Verleger. Wie
sehr kann sie sich auf den, einen weiteren alten Mann, verlassen? Warum redet er wie ale anderen auch eigentlich immer nur von ihrem »Buch«, nicht von ihrem »Roman«? Wer von all den Menschen, die
rund um die Buchmesse wie Bienen um einen Bienenstock schwirren und deren
Meinungen relevant sind, hat ihren Roman überhaupt gelesen? Und was muss es sie kümmern, sind doch die
meisten älter als fünfzig und teilen mit Nelia nicht dieselbe Welt, leben auf
ihrem eigenen, einem alten Stern? Und vor allem: wie soll es in ihrem Leben nun
weitergehen?
»Sie hatte ihren Roman schon längst vergessen. Dieser Roman galt für sie schon längst nicht mehr. Für sie ging es darum, wie sie die nächste Entscheidung traf. Aber für sich. Was sie für sich wollte. Wie ihr Leben ausshen sollte.« (404)
Die Antwort auf diese Frage muss warten. Erzählt
werden ca. 48 Stunden, die Handlung beginnt in Wien, spielt dann zur Hauptsache
in Frankfurt, die dramaturgischen Höhepunkte bilden die Preisverleihung,
Interviews mit der Presse und die Auseinandersetzung mit dem Vater. Nelia trifft
auf eine ganze Reihe von Leuten, sie begegnet ihnen als eine junge
Außenseiterin und Newcomerin, ungeschützt, ungecoacht, alleingelassen. Das
macht sie zu einer sehr interessanten Perspektivfigur: gelenkt durch ihren so
unsicheren wie ungetrübten und unbestechlichen Blick tauchen wir in ein in den
Mikrokosmos des Buchhandels zum Zeitpunkt einer seiner vermeintlichen
Feierstunden, der Messe, dem Aushängeschild dieser Industrie, die sich in einer
konstanten Krise befindet. Ein Beispiel: Gruhns, ihr Verleger, freut sich, dass die österreichische Kulturministerin ihren Stand an der Buchmesse besucht hat:
»›Was für eine Ehre. Eigentlich. Wir hätten Fotos machen sollen.‹ War Gruhns beeindruckt. Sie musste lachen.›Wo ist da jetzt die Ehre?‹, fragte sie.›Na ja. Die kommt da extra in unsere Ecke. Das finde ich schon nett.‹›Aber sie hat uns doch nur die Hände geschüttelt.‹›Was sollte sie denn sonst tun?‹›Meinen Roman lesen.‹Gruhns seufzte. Das, meinte er dann. das würde nicht passieren. Aber das wüsste Nelia doch. Das habe Nelia doch gewusst. Literatur wird nicht gelesen. Literatur. Das gab es. Aber nur in Personenform und nicht als Texte.« (342)
Das
hat etwas Komisches, Hysterisches, Bemühtes, für Nelia aber auch etwas
Beängstigendes, an ihre Existenz Rührendes. Auch weil sie gleichzeitig die Welt
ihrer Mutter kennenlernt, die sie nach wie vor zu vermissen scheint, über deren
Tod sie lange nicht hinweggekommen sein muss, an die sie sich nun aber
annähert, im der für sie sehr fremden und vorwiegend abweisenden Messestadt
Frankfurt, wo sie vermutlich auch gezeugt wurde.
Wie
das bei Streeruwitz so üblich ist, erlebt man die Protagonistin sehr nah: Ihre
selbstbehauptende Trotzigkeit und ihr unverstellter, um Unabhängigkeit
kämpfender Blick auf das sich routiniert
abwickelnde Geschehen um sie herum verleiht dem Roman etwas sehr Erfrischendes,
Freches. Und man interessiert sich wirklich für ihre Regungen und
Wahrnehmungen, kann sich gut in die hineinversetzen, wenn sie von dem
halbseiden wirkenden Verleger in
preisgünstige Gästezimmer abgeschoben wird, von lauernden älteren Frauen
beäugt, von selbstherrlichen oder selbsternannten Platzhirschen angeflirtet
oder angeraunzt wird, je nachdem, wie die Herren zu ihrer verstorbenen Mutter
stehen.
»Und sie solle sich nicht wundern. Das wären eben Stresszeiten. Buchmesse. Da wollten alle schön ausschauen, und die wenigsten brächten das zusammen. Nicht jeder habe es so einfach wie sie. Sie müsse ja nur dasitzen, und das wäre schon ein ästhetisches Ereignis. Der Mann seufzte.« (124)
***
Streeruwitz hat hier aus dem Vollen schöpfen können. Die schon lange im Literaturbetrieb angekommene Autorin kam mit ihrem letzten Roman ›Die Schmerzmacherin‹ selbst auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Der war relativ schwierig zu lesen und bewegte sich in unvorhersehbaren Bahnen. ›Nachkommen‹ ist vergleichsweise leichte Kost, liest sich sehr süffig, was aber kein Nachteil ist. Die Odyssee einer jungen Frau in der Welt der Literaturindustrie birgt viele Einsichten und spannende Wahrnehmungen.
***
Ausgabe:
Marlene
Streeruwitz: Nachkommen. Verlag
S. Fischer, 1. Auflage, Frankfurt am Main 2014. 432
Seiten.
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