Samstag, 16. Mai 2015

Michel Houellebecq: Karte und Gebiet (la carte et le territoire, 2010)



›Die Karte ist interessanter als das Gebiet‹

Schöne Szene: Beim Betrachten einer kommunen Straßenkarte und während er an einem Sandwich rumkaut, hat Jed Martin seine »zweite große ästhetische Erfahrung«:
Diese Karte war geradezu erhaben […] noch nie hatte er so etwas Herrliches gesehen, das so reich an Emotionen und Sinn war wie diese Michelin-Karte des Departements Creuse und Haute-Vienne im Maßstab 1:150 000. Die Quintessenz der Moderne, der wissenschaftlichen und technischen Erfassung der Welt, war hier mit der Quintessenz animalischen Lebens verschmolzen. Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen – von denen die einen zur Verdammnis und die anderen zum ewigen Leben berufen waren. (50)
Das nennt man dann wohl eine Epiphanie.

Ich weiß nicht, ob das so sein muss oder wie es anderen geht: Ich lese Houellebecq nicht wegen der storyline, die mir bei ihm oft aus dem Blickfeld rutscht, auch nicht wegen seiner Sprache oder seiner Figuren. Ich lese und mag seine Romane wegen ihres philosophischen Funkelns, wegen den darin enthaltenen Betrachtungen und Analysen ästhetischer, anthropologischer, kulturgeschichtlicher oder soziologischer Natur. Seine zumeist misanthropischen und desillusionierten Protagonisten sind mir in der Regel immer eher fremd, ihre Anschauungen, Haltungen und Schlüsse (oder diejenigen der jeweiligen Erzählerstimmen) erlebe ich hingegen als bereichernd, sie sind oft scharfsinnig, konsequent und jedenfalls inspirierend.

Nach der allerdings etwas lauwarmen Lektüre seines neusten Romans ›Unterwerfung‹ (frz. Soumission) war mir nach einer vergleichenden Lektüre eines seiner anderen letzten Romane, der schon lange auf einem meiner Bücherstapel lag. Zwar hatte ich ›Die Möglichkeit einer Insel‹ von etwa einem Jahr gelesen, aber mehr so en passant und nicht mal ganz zu Ende. Die Alternative lautete nun ›Karte und Gebiet‹.


Übersicht über Aufbau und Handlung (nicht ganz spoilerfrei)

Der Roman ist in fünf Teile gegliedert. 

Der Prolog setzt am Ende von Jeff Martins zweiter Schaffensphase ein. Der Maler und ehemalige Fotograf zertrümmert mutwillig sein Gemälde mit dem schönen Titel Jeff Koons und Damien Hirst teilen den Kunstmarkt unter sich auf

Der Erste Teil führt von seiner Kindheit bis in seine zweite Schaffensphase hinein: Jed hat sein Kunststudium abgeschlossen. Er beginnt Straßenkarten von Michelin abzufotografieren. Die Russin Olga, Angestellte von Michelin und »eine der fünf schönsten Frauen von Paris«, hilft ihm dabei, bekannt zu werden und auszustellen. Die beiden werden ein Paar, doch als sie eine Stelle in Russland annimmt, hält Jed sie nicht auf. Daraufhin zerstört er all seine Fotografien und beginnt mit der Malerei. Die folgenden zehn Jahre widmet er sich dem Thema Arbeit und Berufe und portraitiert Menschen quer durch alle Schichten.

Der Zweite Teil schließt chronologisch an das Ende des Prologs an. Nach unglaublichen zehn Jahren völliger Zurückgezogenheit und einsamen Malens ist Jed in der Kunstszene so gut wie nicht mehr präsent. Als die erste Ausstellung seiner Gemälde ansteht, fliegt er nach Irland zu – Tadaa!  – Michel Houellebecq himself. Der umstrittene Schriftsteller soll das Vorwort für den Ausstellungskatalog schreiben, um für noch mehr Publicity zu sorgen. Die beiden ungewöhnlichen Männer sind einander sympathisch und Jed schlägt Houellebecq vor, ihn zu portraitieren. Es bildet den Abschluss seiner Serie und wird sein letztes Gemälde bleiben. Jed und Olga begegnen sich wieder, allerdings nur um sich endgültig voneinander zu trennen. 
Die Ausstellung wird ein Erfolg – und Jed wendet sich von der Malerei ab. 

Der Dritte Teil beginnt damit, dass Houellebecq einem bestialischen Mord zum Opfer gefallen ist. Mit der Aufklärung ist Kriminalinspektor Jasselin beauftragt, der vorübergehend in den Mittelpunkt rückt. Über Umwege kommt Jasselin auf Jed, der ihm bei der Aufklärung behilflich ist.
In einer Parallelhandlung spürt Jed der letzten Reise seines Vaters nach, der sich mithilfe einer Zürcher Sterbehilfeorganisation das Leben genommen hat.

Der Epilog schließlich spielt in einem der zukünftigen Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Jed hat sich in seine alte Heimat seiner Großeltern in der französischen Provinz zurückgezogen und lebt dort allein und abgeschieden.


Die Metamorphose des Jed

›Karte und Gebiet‹ erzählt auf vielen Umwegen von dem ungewöhnlichen Werdegang eines Künstlers und der Begegnung mit einem exzentrischen Schriftsteller. Interessant daran sind Jeds radikale Brüche und wie er zu seinem Stoff findet, aber auch der Stoff selbst. Was irritiert, ist der Umstand, dass seine Motivation, seine ästhetischen Prinzipien und seine Arbeitsweise zwar geschildert werden, aber nicht im Vordergrund stehen. Dafür finden sich verstreut längere Passagen mit sehr detaillierten Angaben zu technischen und handwerklichen Aspekten wie Kameraoptik, Fotopapier, Malerfarben oder elektronischen Datenträgern – über Jeds äußeren oder inneren Produktionsprozess oder die Wirkung seiner Werke erfährt man aber kaum etwas. Kein Vergleich etwa zu Siri Huvstedts ›Was ich liebte‹ (What I loved, 2003), in dem der Ich-Erzähler immer wieder und über viele Seiten die Entstehung von Gemälden und Installationen seines Freundes Bill schildert, der sich im New York der Achtzigerjahre zu einem stilbildenden Künstler hocharbeitet.

Seine erste Epiphanie hatte Jed nach dem Studium. Fotografien von Industrieprodukten stellten eine Zeitlang seinen Lebensunterhalt sicher, sein Ziel war es, »eine objektive Beschreibung der Welt zu liefern« (47). Das ging so lange gut, bis ihm klar wurde, dass Objekte für ihn von dem Moment an, da er sie zu kommerziellen Zwecken fotografierte, nicht mehr zur Kunst werden konnten. Es musste etwas Neues her. Along came Michelin.

Die Idee fand ich beim Lesen zu meiner eigenen Überraschung sehr faszinierend. Nahaufnahmen von Landkarten als Kunst an der Wand, zu Gemäldegröße aufgeblasen, große Flächen und Formen in unterschiedlichem Grün und mit hellblauem Geäder, fremd, unwirklich – und doch kartographierte Wirklichkeit. Aber ohne das anstrengende Pathos von Aufnahmen der Erde aus dem All, ausgetretene Assoziationen wie The Blue Planet, Kubrick oder National Geographic, weniger didaktisch-kitschig als die Luftaufnahmen auf alten Werbekalendern einer Schweizer Fluglinie, mit mehr Lust auf Formgebung, mit mehr Verfremdung.

***

Interessant finde ich die verschiedenen Motive, die Jed Medium und Stoff wechseln lassen. Olga verlässt ihn nur deshalb, weil er sie nicht hält, weil die Liebe ihn nicht erfüllt. Das ist très Houellebecq: seine Protagonisten sind oft Männer, die sich emotional treiben lassen, die sich Neigungen und Launen und Beziehungen hingeben, weil es ihnen an Kraft mangelt, sich aufzulehnen, oder weil ihnen schlicht der Glaube, der Mut zur Verbindlichkeit, die Ideale fehlen.
Olgas Weggang und seine eigene passive Rolle dabei führen bei ihm auch zu keiner Reue, sondern machen ihm etwas offenbar, was ihn künstlerisch weiterbringt. Durch den Schock wird er sich bewusst, dass eine Lebensphase unwiderruflich zu Ende gegangen ist. Konsequenterweise zerstört er alles bisher geschaffene ohne Rücksicht auf Verluste. So lässt er ein Vakuum zu, von dem er nicht weiß, ob es sich wieder füllen wird mit etwas Neuem, und fällt in eine Depression. Eines Tages, nach einem spontanen Besuch bei seinem Vater, einem erfolgreichen Architekten und Workaholic, kommt Jed zufällig an einem Malereigeschäft vorbei – und kauft sich Farben. Einfach so. Es bahnt sich wieder etwas an. 
Diese Erfahrung einer radikalen Ablösung und dem Raumschaffen für etwas Neues wird für Jed zum Gründungsmythos seines Daseins als Künstler. Künstler zu sein bedinge für ihn die Bereitschaft, »sich zu unterwerfen«:
Sich rätselhaften, unvorhersehbaren Botschaften zu unterwerfen, die man in Ermangelung eines besseren Begriffs und ohne jeden religiösen Glauben als Intuitionen bezeichnen müsse, Botschaften, die sich dem Künstler trotzdem auf kategorische Weise aufdrängten, ohne ihm die geringste Möglichkeit zu lassen, sich ihnen zu entziehen – außer wenn er auf jegliche Form von Integrität und Selbstachtung verzichtete. (102)
Statt Landkarten abzufotografieren, beginnt er nun, Menschen an ihrem Arbeitsplatz zu malen. Ist das Zufall? In dem Moment, als er diejenige Person, die seinem Dasein das verleiht, was man ein Privatleben nennt, kampflos aufgibt, wendet er sich dem tätigen Menschen zu, dem homo faber. Einer ersten Gruppe zu vom Aussterben bedrohten Berufen folgt eine mit klassischen einfachen Berufen und eine Serie der Unternehmenskompositionen. Arbeit erlebte er immer schon als das zentrale Moment im Leben der Menschen, um das sich alles dreht, gerade bei seinem Vater. Und wie bei sich selbst entdeckt er auch bei Houellebecq diese Neigung

***

Als Houellebecq (die Figur) ihn später fragt, wieso er sich der Malerei zugewendet habe, antwortet Jed anders: Sobald es um Menschen und nicht mehr um Gegenstände gehe, könne er sich nicht mehr auf die bloße Darstellung beschränken. Gemeint sein könnte Folgendes: Das besondere Moment eines Menschen, das man bei einem Portrait einzufangen sucht, verlangt nach mehr Gestaltungsfreiheit, als einem die Fotografie gewährt. Jed schafft fiktive Situationen von symbolischer Tragweite, das verraten schon die Titel seiner Bilder, z.B. Bill Gates und Steve Jobs diskutieren über die Zukunft der Informatik. Jed selbst hebt hervor, dass er daran gescheitert sei, einen Priester und einen Künstler zu malen. Letzteres versucht er dann mit Houellebecqs Portrait nachzuholen.
Houellebecq (die Figur) mag an den Portraits kurioserweise nicht das Besondere, sondern das Verallgemeinernde, und Jed bestätigt, dass seiner Ansicht nach die Menschen sich viel mehr gleichen, als sie sich dessen gewahr sein wollen. Sich so richtig einen Reim darauf zu machen, gelingt einem bei der Lektüre nicht. Dafür wird die wuchtige Wirkung des neuen Houellebecq-Portraits über zwei Seiten lang sehr virtuos beschrieben. Man hat den Eindruck, einem Übermenschen bei der Arbeit zuzusehen:
Während das Gemälde ausgestellt war, haben ohnehin nur wenige Menschen den Hintergrund beachtet, da er durch die unglaubliche Ausdruckskraft der Hauptperson völlig in den Schatten gestellt wird. Der Autor, der in dem Augenblick festgehalten worden ist, da er eine vorzunehmende Korrektur auf einer der vor ihm auf dem Arbeitstisch ausgebreiteten Seiten entdeckt hat, scheint sich geradezu in Trance zu befinden, er wirkt wie von unbändiger Wut besessen, die so mancher ohne zu zögern als dämonisch bezeichnet hat. (178)
Der Kunstmarkt spielt im Roman nur am Rande eine Rolle. (In Klammern: Wer sich dafür interessiert, soll sich mal Duncan Wards ›Boogie-Woogie‹ aus dem Jahre 2009 ansehen.) Wie Houellebecq selbst in einem Fernsehinterview sagt, hat er dazu kaum recherchiert. Immerhin wundert sich Jed mehrmals darüber, in welche astronomischen Höhen die Preise seiner Bilder in Rekordtempo steigen. Seine Distanz zu dem Rummel um Werk und Künstler wird schon zu Beginn seiner Karriere deutlich, wenn er geeignete Verhaltensregeln an entsprechenden Anlässen ausprobiert:
Er lernte sehr rasch, sich in angemessener Weise zu verhalten. Man musste nicht unbedingt brillant sein, meistens war es sogar besser, gar nichts zu sagen, aber es war unerläßlich, seinem Gesprächspartner zuzuhören und manchmal die Unterhaltung durch ein »Wirklich?« wieder in Gang zu bringen, das den Zweck verfolgte, Interesse oder Überraschung zu zeigen, oder durch ein »Absolut«, in dem eine verständnisvolle Zustimmung zum Ausdruck kam. (69)
Sein Galerist Franz und die hochdotierte aber unscheinbare Pressefrau mit dem unpassenden Namen Marilyn tauchen an der Romanoberfläche auf, um dann lange wieder zu verschwinden und bleiben so marginal, wie sie es für Jed sind. Viel wesentlicher sind zum einen die Figur des Vaters, einem Architekten, der seinen Traum von der Freiheit des Künstlers nicht verwirklichen konnte und der für nichts anderes als Arbeit und Pflichterfüllung lebte. Zum andern die Figur des Michel Houellebecq.


Jed und Houellebecq: zwei müde Genies

Dass sich der Autor unverschlüsselt zur Figur macht, ist eine schöne Volte, auch wenn es sich nur eine fiktive Version des realen H. handelt. Der soziophobe Kauz wohnt in Irland mit seinem Hund und einer ausgewachsenen Depression im Zustand der Verwahrlosung. Er mogelt sich durch den Tag mit dem alleinigen Ziel, die Zeit zwischen Aufstehen und Zubettgehen möglichst auf wenige Stunden zu reduzieren und hat nach eigenen Worten »mit der Welt der Narration abgeschlossen« (248). 
Die Gespräche zwischen den beiden Künstlern führen in ganz unterschiedliche Felder, eine unterhaltsame Form intellektuellen Smalltalks, wie eingangs erwähnt sehr inspirierend. Houellebecq macht Jed mit seinen Göttern wie Tocqueville oder William Morris vertraut, die beiden unterhalten sich unter anderem lange über Kunst. Picasso und Le Corbusier werden vom Tisch gefegt, dafür gibt es Lob für unbekanntere Namen. Es geht aber auch um kulturspezifische Unterschiede bei Bedienungsanleitungen von elektronischen Geräten oder warum es sich verbietet, Schweinefleisch zu essen.  

Wie Jed Martin und Houellebecq ist auch Jasselin ein im Grunde trauriger, desillusionierter Mensch, der in seiner Arbeit aufgeht und ansonsten wohl auch findet, dass das Leben nicht das bietet, was man sich davon verspricht, oder – metaphorisch gesprochen – dass die Karte schöner ist als das Gebiet. (S. 78)



Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Du Mont Buchverlag, Köln 2011. 416 Seiten

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