Sonntag, 3. April 2016

Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal (2014)



Überwiegend Überwinder

»Eine Krähe wankte vorüber« (69)
Was für ein schönes Bild.
Ha!

Ich stelle mir jetzt mal eine gar nicht so rhetorische Frage. Warum lese ich eigentlich seit Jahren immer wieder Genazino? Jedes Mal, wenn ich mit einem seiner Romane durch bin, die alle gleich zu heißen scheinen und nahezu identischen Umfang haben (rund 150 Seiten), sage ich mir: so, das war's, genug von ihm, da kommt nichts Neues mehr.
Dann, an irgendeinem Tag, meistens ist es seltsamerweise Frühling und ich habe gerade noch fünf Minuten Zeit, bevor mein Tram kommt, fällt mir in einer Buchhandlung ein Taschenbuch von ihm in die Hand, das mir bekannt vorkommt. Um gleich darauf zu merken, dass Titel und Umschlag bloß einem älteren gleichen. Ich lese rein – und will es nicht mehr zurücklegen.
»Mein derzeit größter Wunsch war: Ich wollte einmal einen einfältigen Tag durchleben.« (5)
Das ist der dritte Satz dieses neuen Romans. Nun eben: Dieser Satz könnte genau so gut in jedem anderen seiner Romane gestanden haben, etwa in ›Abschaffel‹ (1977), in ›Die Obdachlosigkeit der Fische‹ (1994) oder in ›Das Glück in glücksfernen Zeiten‹ (2009). Kurz ein Kompliment einschieben: Genazinos Titel kommen gerne in surrealer Frische daher.
Antriebslose Müßiggänger und Flaneure bevölkern Genazinos Universum, melancholische »Modernitätsverweigerer« (81), die ihr Leben beschreiben, als würden sie es, eingesperrt wie in einem Käfig, zugleich führen und von außen teilnahmslos betrachten. Im Wesentlichen ist es seit vier Jahrzehnten immer wieder derselbe Mann, verteilt auf an die zwanzig Romane.
»Von Beruf war ich Rezeptionist, gelegentlich Barmixer, aber in letzter Zeit arbeitet ich überwiegend als Überwinder. Ich half Menschen, ihre zuweilen aufdringlichen oder dümmlichen Erlebnisse schneller als gewohnt zu vergessen.« (47)
Der prototypische Protagonist ist namenlos und um die vierzig, in irgendeine Ehe und irgendeinen Job verwickelt, die ihn wenig bis gar nichts angehen, und seine wesentliche Beschäftigung besteht darin, sich treiben zu lassen und nichts wirklich zu wollen. Vor allem, weil er alles Streben im Ansatz als vergeblich empfindet, als untauglichen Versuch, dem Leben einen dauerhaften Sinn abzugewinnen. Er gibt wenig auf sein Äußeres, bis hin zur Verwahrlosung, ist akademisch gebildet und zumeist ein Schwerenöter, jedenfalls eine sexuelle Wanderniere. Frauen sind ihm wichtig, zugleich ekelt er sich oft vor ihnen, ein Zug an ihm, den ich Genazino immer übelnehmen und nie verzeihen werde. Egal. Weiter.

Wenn dieser Mann sich immer und immer wieder durch das literarische Frankfurt begibt (Genazinos Muttererde), richtet er seinen Blick vor allem auf Kleinigkeiten und Allzumenschliches, auf Dinge also, die wir gerne ausblenden, weil sie uns genieren oder nicht aufregend genug erscheinen. Und er beschreibt sie auf solch außerordentlich befremdliche oder zutreffende Weise, dass sie erstaunlicherweise oft erzählenswert, ja gar spektakulär erscheinen.

»Weit oben am Himmel bohrte sich ein Flugzeug in die Ferne und ließ auf der Erde ein zärtliches Rumoren zurück.« (73) 
»Ich betrachtete junge Frauen mit frisch gefüllten Kinderwagen.« (81)
»Überall  saßen und standen Männer und Frauen, aßen etwas und blickten nervös umher. Viele von ihnen sahen aus, als warteten sie darauf, dass ihr Leben losbrandet, irgendwo, keinesfalls hier, sondern weit weg.« (97)
Genazinos Schreibe deshalb eine Schule des Sehens zu nennen, ist vielleicht etwas hoch gegriffen, aber er verführt einen dazu, sich über die Länge der Lektüre seiner Romane in der Muße zu verlieren, einen Müßiggänger beim permanenten Scheitern in seinem fremdgewordenen Leben zu begleiten, das – tadaa! – immer auch unserem Leben zu gleichen scheint. Zumindest scheint einem das Biotop, in der er sich bewegt, nolens volens vertraut.
Ihn zu lesen, heißt, eine Pause vom Sinnzwang und vom Streben zu nehmen, und zwar eine zumeist anregende, denn viele Betrachtungen und Überlegungen entspringen einer philosophischen Frage oder haben zumindest einen philosophischen Beigeschmack.
Das betrifft die Innerlichkeit der Hauptfigur, zum Beispiel wenn er wie im folgenden Zitat eine Epiphanie einer möglichen Zäsur in seinem Leben beschreibt:
»Ich ahnte in diesem Augenblick deutlich die Umbiegung meines Lebens in ein staubiges Drama, an dem ich eines Tages ersticken musste.« (104)
Oder wenn er seine Regung gegenüber Frauen beschreibt, die er meint, trösten zu müssen:
Diese Vorstellung war von meiner Mutter übriggeblieben. Sie war so verlassen wie ein ganzes Dorf, unbelebt, fast stumm, dabei freundlich, aber in Wahrheit eingeschüchtert von etwas, worüber sie nie sprach, auch im Alter nicht.« (90)
Abschließend etwas zur Handlung von »Bei Regen im Saal«: der Protagonist liebt Sonja, doch weil er sich nicht entschließen kann, sie zu heiraten, verlässt sie ihn und heiratet stante pede einen anderen. Daraufhin gerät er ins Straucheln, er vermisst sie sehr (was er sich kaum selbst eingestehen will), derweil bekommt er ein Jobangebot bei einem Regionalblatt. Die Stelle als Redakteur ist derart unwürdig, dass er sich schämt darüber zu sprechen, wenn er gelegentlich wieder mit einer alleinstehenden Frau anzubändeln versucht, was meistens zu nichts führt.
Und so weiter.
»Das musst du nicht lesen, es ist alles morsch, höchstens ein paar Mistkäfer interessieren sich dafür, aber die können nicht lesen, die glücklichen Käfer.« (80)
Nein, man liest Genazino nicht wegen der Handlung, sondern wegen des Genazino-Universums. Das zu empfehlen scheint mir eher problematisch, am besten probiert man es mal aus. Menschen mit depressiver Neigung könnten es ablehnen – oder aber sie finden Gefallen daran, so ähnlich wie Kirsten Dunst als Justine in Lars von Triers ›Melancholia‹, die ja auch ganz gut mit dem Weltuntergang leben kann.
Mir scheint, dass ich selbst derart gefeit gegen Antriebslosigkeit und Sinnlosigkeitsgefühle gefeit bin (zumindest weitgehend), dass mich Genazinos Jammertal eher bereichert denn bedrückt. Ich kann es lesen und mir sagen: Wahnsinn, so passiv, so trübe, so Opfer. Aber er bringt mich eben wirklich auch zum Lachen, weil die Welt nunmal grotesk ist und er das auf begnadenswert originelle Art und Weise beschreibt, geduldig, seit Jahrzehnten. So, dass ich in regelmäßigen Abständen wieder ein Buch von ihm lesen möchte.
»In diesen Problemruinen wandelte ich eine Weile umher …« (86)

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