Mittwoch, 17. Juli 2013

Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin (2011)




Eine Welt zum Fürchten

Vorneweg sollte ein Missverständnis aus dem Weg geräumt werden: Die Protagonistin Amalia Schreiber ist zwar die Angestellte einer Firma, die unter anderem in der Antiterrorbekämpfung involviert ist; auch ist zu Beginn die Rede von einem Einsatz in Afghanistan und es gibt einzwei Verhörszenen. Dennoch ist Die Schmerzmacherin ganz bestimmt kein literarischer Politthriller, wie einen manche Rezensionen vermuten lassen. Nix da Tom Clancy goes Anspruch oder John le Carré meets artistischer Sprachwitz und weibliches Schreiben. Es ist 100% Marlene Streeruwitz, und wer ihr Werk ein wenig kennt, darf vermuten: hier wird kein Plot abgewickelt, vielmehr geht es um Psychologie und Existenznot. Konkret: Es geht um die verlorene Seele einer jungen Frau, die um ihre Identität und Integrität kämpft und es dabei auch mit ihren eigenen Dämonen zu tun bekommt. Und dann untermalt punktuell angeschnittenes aktuelles Geschehen im Hintergrund diese unsichere, bedrohte Stimmung, aber eher wie ein leisegestellter Fernseher. Wobei das Unglück von Fukushima vorkommt, nicht etwa Guantanamo, wie man aufgrund des Kontextes vermuten könnte.

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Was den Handlungszusammenhang der 400 Seiten und die Hauptfigur betrifft, verlangt einem der Roman einiges ab. Das stellt einen Anreiz dar, erfordert aber eine genaue Lektüre, sonst droht einem die tiefere Bedeutung so mancher Details und Episoden zu entgehen. Die dreizehn Kapitel – nach Monatsnamen benannt – decken etwa ein Jahr ab. Sie bilden eine lose Folge voneinander zunächst unabhängig scheinender Situationen und handeln hauptsächlich im deutsch-tschechischen Grenzgebiet, in England und in Wien.

Amalia, die Perspektivfigur, durch deren Wahrnehmung man alles erfährt, bleibt einem bis zuletzt etwas fremd. So fremd, wie sie selbst sich und die Ereignisse zu empfinden scheint. Die Orientierungslosigkeit Amalias wird durch die Verweigerung einer klaren Storyline fast spürbar auf den Leser übertragen. Einige Ereignisse von großer Tragweite erfährt man – wie Amalia selbst – nur bruchstückhaft und in ihrer bedrohlichen Konsequenz.

25 Jahre alt, großgewachsen und attraktiv, abgeschlossenes BWL-Studium, steckt sie in einer schweren Identitätskrise. Dass etwas nicht stimmt, lässt bereits die Eingangsszene erahnen, eine betrunkene Autofahrt durch ein verschneites Niemandsland auf dem Weg zur Arbeit. »Noch nie waren so viele Raubvögel zu sehen gewesen«, lautet der erste Satz. Anlass für die Krise ist vordergründig ihre Tätigkeit bei der Allsecura, einer britischen Sicherheitsfirma, die unter anderem im Antiterrorkampf tätig ist. Die Anstellung verdankt sie der Vermittlung ihrer Londoner Großtante Marina und ihrem Aussehen, das ihrem Chef Eindruck macht. Jedenfalls protegiert sie Gregory gegen den Willen der anderen Mitarbeiter, allerdings ohne klar formulierte Erwartungen an sie, wie sie irritiert registriert. 
»Was wollte der überhaupt mit ihr. Für den spielte sie eine Rolle, aber sie wusste nicht, welche.« (20)
Sie hat kaum Einblick in die Aufgaben und Strukturen der Firma und bewegt sich derart orientierungslos durch die Räume und Hallen des Außenlagers im tschechisch-deutschen Grenzgebiet, dass man sie früh als das Opfer in einem Katz-und-Maus-Spiel wähnt. Dieser Eindruck wird durch ihre wesenseigene Fahrigkeit verstärkt, die sie mit anderen Frauen aus dem Streeruwitzschem Figurenarsenal gemein hat, und durch ihre psychische Labilität. Deren Wurzeln liegen zu einem guten Teil in ihrer belastenden Herkunft und Vorgeschichte. Ihre Mutter gab sie gleich nach der Geburt weg, weil sie mit sich, ihrer Heroinsucht und ihrer Kunst beschäftigt war. Nach neueren Gerüchten scheint sie wieder eine Familie gegründet zu haben und aus Amsterdam zurück nach Wien gezogen zu sein, wo Amalia bei Pflegeeltern großgeworden ist. Das bleibt zwar bis zuletzt unbestätigt, lässt sie aber natürlich nicht kalt. Zum Gefühl der Verlassenheit gesellt sich das des Verrats. Was den Vater betrifft – Väter sind in ihrer Familie schon traditionell namenlose Erzeuger, die die Flucht ergriffen haben.

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Akut beschäftigt sie der Umstand, dass dieselbe Großtante, die ihr den Job bei der Allsecura ursprünglich vermittelt hat, es auf ihren Anteil des Familienerbes abgesehen hat. Zufall? Will Marina sie loswerden? Immerhin ist gerade ein Kollege den Taliban in die Hände gefallen – mit ungewissem Schicksal. Bedrohung gehört also zum Berufsrisiko – und man versteht jedenfalls, dass Amalia unter solchen Umständen schon mal in besondere psychische Zustände geraten kann.

Hinzu kommt ihr häufiger Griff zur Flasche. Die innere Stimme, die ihr sagt, dass gerade etwas grundsätzlich falsch läuft in ihrem Leben, betäubt sie gerne und ausführlich mit Alkohol. Welche Form der Entspannung ihr das vermittelt, wird auffällig oft ausformuliert: 
»Eine bleierne Freundlichkeit breitete sich aus. In ihr. Vom Magen weg füllt sich der Leib, und die Ungenauigkeit stieg in den Kopf und hinter die Stirn und hinter die Kehle und legte sich dann über sie.« (8)»Kühl füllte der Wein den Mund aus. Einen Augenblick nur der gefüllte Mund. Der Mund vollgestopft mit Geschmack.« (327)
Doch die Mischung aus Verunsicherung, Labilität und Alkohol führen bei ihr auch zu unkontrollierbaren Zuständen. Ein erster Höhepunkt (nach dem schönen Anfang) bildet eine großartige Szene in einer Turnhalle, in welcher der ohrenbetäubende Lärm eines Helikopters alles erzittern lässt und Amalia auf gespenstische Weise erotisiert. Eine Szene mit dionysischen Charakter, in dem sich Todesangst und sexuelle Lust in einem literarischen Rausch verbinden.

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Zu einem späteren Zeitpunkt, wie aus dem Nichts heraus, vergleicht sie sich mit einem Kind aus einer TV-Doku, mit einem Schicksal, das so gar nichts mit ihrem gemein zu haben scheint:
»Und wie sie im kleinen Gemeinschaftsraum sitzend. Am Rand von Nottingham. Ferngesehen. Wie dieses kleine Mädchen in der Nähe von Tschernobyl. Wie das auf die Kinderschwester in dem Kinderheim zulief und es erst beim Hochheben zu sehen war. Das kleine Mädchen hatte keine Beine. Die Füße waren an den Hüften angewachsen. Es waren Flossen. Entenbeinchen. […] Und alle hatten gelacht. Im kleinen Gemeinschaftsraum mit dem Fernsehapparat. Alle, die mit ihr dagesessen. Die hatten gelacht. Wie sollte sie ihrer alten Großtante Marina erklären, dass sie dieses Mädchen war.« (333)
Es ist einerseits dieses Prekäre, was die Figur interessant macht, und andererseits der Umstand, dass man trotz aller Informationen über ihr Innenleben kein rundes Bild von ihr gewinnt. »›Ich habe Angst und weiß nicht, wovor und warum‹« (248) schreibt sie ihrer Pflegemutter aus dem Surfurlaub, um den Satz gleich wieder zu löschen. Nach mehreren längeren Versuchen heißt es dann: »›[I]ch bin hier gut aufgehoben, und es beginnt, mir besserzugehen. Love you, Mali.‹« (252) Das ist natürlich gelogen. Aber wem soll sie sich zumuten? Wem will man überhaupt die eigenen Abgründe zumuten? Meistens nicht mal sich selbst, geschweige denn der krebskranken Pflegemutter.

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Ihr einziger emotionaler Rückhalt, abgesehen von den Wiener Pflegeltern, ist Gino. Gino ist ein Gigolo, der eigentlich Ingo heißt, aber kein Ingo sein will. Er schleppt in dem schlüpfrigen Hotel, in dem sie wohnen, Frauen gegen Geld ab. Mit seiner leichtlebigen Art und Weise, das Leben zu betrachten, ist er für die von Angstschüben gequälte Amalia Bruder und wärmender Ofen in Personalunion. Wahrscheinlich gerade, weil Sex zwischen ihnen keine Rolle spielt.

Ginos Schicksal ist es, sich eines Abends mit Cindy einzulassen, derjenigen Frau, die sich mit Gregory über die Anstellung von Amalia uneinig ist. Etwas früher am selben Abend hatte Amalia im Alkoholdelirium Bruchstücke eines Gesprächs zwischen Cindy und Gregory mitbekommen, in dem das Wort ›overdose‹ fällt. In der darauffolgenden Nacht erlebt Amalia etwas, woran sie sich zwar später nicht erinnern kann, was sie aber mit Kleists Marquise von O… verbindet. Genau das. Das Unerhörte.

Einige Wochen danach erleidet sie eine Fehlgeburt. Was ist in dieser Nacht in dem bayrischen Hotel passiert? Und wie hängt das damit zusammen, dass sie tags darauf einen schwerverletzten Gino und eine ramponierte Cindy im Kreiskrankenhaus antraf? So scheinen sich die Dinge nach gut hundert Seiten zuzuspitzen, und wäre Die Schmerzmacherin ein Thriller und kein Roman von Streeruwitz, ginge es darum, Licht in diese undurchsichtigen Ereignisse und ihre Zusammenhänge zu bringen. Doch darum geht es nicht.

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Es geht um Amalia und ihre Verlorenheit in einer Welt voll politischer, wirtschaftlicher und zwischenmenschlicher Unsicherheiten: 
»Sie wollte eine einzige Linie haben. In ihrem Leben. Sie wollte einen einzigen Weg gehen. Aber sie wusste nichts mehr. Nicht, wie man leben sollte. Nicht, wie sie leben sollte. Das Leben in die Hand nehmen.« (281)
Dass Amalia bei der Allsecura gelandet ist, scheint bei ihrer psychischen Disposition gar nicht so zufällig, sondern könnte als unbewusster Versuch zur Selbsttherapie verstanden werden. Da ist zum einen die Möglichkeit zur Verdrängung in Kombination mit der Möglichkeit, die Welt zu retten, weil man sich selbst nicht retten kann:
»Sie hatte diese Allmachtsphantasien, damit sie nicht zur Kenntnis nehmen musste. Sie glaubte nicht an die Gerichte, die diese Männer herschickten. Sie glaubte an eine Unschuld, die sie selbst noch nie erlebt hatte. Sie hatte Allmachtsphantasien, damit sie nicht zugeben musste, wie man an ihr gehandelt hatte. Sie sollte sich hassen dafür. […] Für diese Dummheit. Sie hatte Angst, alles zu verlieren. Sie hatte Angst davor, hart zu werden. Sie sollte sich das zugeben.« (267)
Zum anderen bietet die Ausbildung eine Form der Abhärtung, nach innen wie nach außen. Körperlicher Drill und drastische Übungen in Verhörmethodik stehen auf dem Programm. Machtbewusstsein, Kontrolle der eigenen Gefühle und Steuerung des Gegenübers werden geschult, bis es weh tut. Jeder für sich, unabhängig von den anderen. Drei Monate – länger soll kein Team zusammenarbeiten, so Gregorys Dogma, sonst drohen Bindungen mit potenziell kontraproduktiven Folgen für die Zielvorgaben: 
»Attachment. Das war anstrengend Das wurde immer anstrengender Das war Schwerarbeit. Das kostete alle Kraft.« (353)
So züchtet man autarke Einzelkämpfer mit eingebauter Empathielosigkeit heran, wie Amalia mit zunehmendem Befremden feststellt, vor allem nachdem die Allsecura etwa in der Mitte des Romans von einer amerikanischen Firma übernommen worden ist und der Corpsgeist sich notwendig den ›US marine standards‹ angepasst hat.

Das Politische an Die Schmerzmacherin scheint mir vor allem in der Darstellung dieser Welt der Sicherheitsdienste zu liegen. Es ist Welt der sozialen Kälte, in der sich diese Menschen für den Ernstfall stählen.

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Ein Fazit: Streeruwitz beweist in diesem Roman einmal mehr ihre Meisterschaft darin, innerpsychische Zustände der Verlorenheit des einzelnen zu vermitteln, wobei sie die Tragik dieser Gefühlsgrundlage durchaus durch distanzierende Stilmittel wie Humor und Ironie zu brechen weiß. Ihre Hauptfigur und deren labyrinthisches Innenleben bieten viel Stoff und der Roman bietet einige sehr schöne Szenen, wegen derer allein sich die Lektüre bereits lohnt. Und eines hat der Roman mit so manchen Thrillern gemeinsam: Man weiß bis zuletzt nicht, wohin er einen führt.


Angaben:
Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin. 400 Seiten. Frankfurt am Main. Fischer 2011.









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