Der
Philosoph der Stärke in den gestutzten Krallen seiner Löwenmutter und seiner
tollwütigen Schwester – ein romanartiger Blick auf Nietzsches letzte Lebensdekade
m es vorwegzunehmen: Wer sich vor allem für
Nietzsches Werk interessiert, der kann diese Neuerscheinung des wichtigsten
deutschsprachigen Nietzscheforschers über weite Strecken getrost ignorieren. Das
hat zwei Gründe, der erste ergibt sich aus dem Titel: Lütkehaus beschäftigt
sich ausschließlich mit den Jahren nach Nietzsches geistigem Zusammenbruch in
Turin 1889 bis zu seinem Tod 1900. In dieser Zeit schrieb er nicht mehr, er las
allenfalls noch laut aus seinen Büchern vor – sich selbst, wohlgemerkt, und mit
zum Teil bellender Stimme. Außerdem hat
sich Lütkehaus dazu entschieden, alles aus der Perspektive von Nietzsches
Mutter zu schildern. Die fromme Pastorenwitwe aber hatte auf Anraten ihres
Sohnes hin schon länger damit aufgehört, seine Bücher zu lesen, jedenfalls geraume
Zeit bevor sie mit seiner Pflege ihre letzte Lebensaufgabe anging. Was sie
davon wusste, war ihr unheimlich, hinderte sie aber interessanterweise nicht
daran, ihn für seinen hoch entwickelten Geist zu bewundern. Manche Werke werden
kurz angesprochen, oft falsch, und wer im Leben ihres Sohnes eine Rolle
gespielt hat, wird nicht beim Namen genannt, sondern in der Regel mit zumeist
skeptischen und feindlichen Worten umschrieben. Schopenhauer etwa wird bei ihr
zu einem »berüchtigten Philosophen […], der schon vor ihrem Sohn in den
traurigen Ruf eines Atheisten gekommen war,« (27), Lou Salome ein »russische[s]
Weib, das selbst asketische Männer wie ihren Sohn zu verhexen schien« (38).
Der private Tonfall einer Löwenmutter und nicht sehr belesenen Frau herrscht also vor. Gerade diese ungewohnte Perspektive eröffnet uns einen ganz neuen und fremden Blick auf den Mann, den man sich landläufig als kantigen, wilden Einzelgänger vorstellt, der sich selbst gerne als ›Dynamit‹ bezeichnete. Der Philosoph, der unter vielem anderen dem Mut zur Stärke und Eigenverantwortlichkeit das Wort redet und die Idee eines Übermenschen in die Welt setzt, wird hier in seiner schwächsten Phase seines Lebens beschrieben. Ein Denkmal wird besichtigt, aber in einem völlig anderen Licht.
Das zentrale Motiv ist der Kampf der Mutter
um ihren Sohn und um das alleinige Sorgerecht, gegen das Anraten der Ärzte und
später gegen das Bestreben der verwitweten Tochter, den Bruder zu vermarkten
und ihr den Platz streitig zu machen. Von der ersten Wiederbegegnung mit dem Kranken in Basel – nach
dem berühmt gewordenen Zwischenfall, als Nietzsche einen Kutscher in Turin
daran hindern wollte, die vorgespannten Pferde zu schlagen – setzt sie alles
daran, ihm ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Nach dem ersten Schock
tendiert sie dazu, seinen Zustand zu beschönigen und verteidigt ihn gegen die
Ärzte, die den Kranken in ihren Augen wie jeden anderen Patienten bloß mit
wissenschaftlicher Neugier und Kälte behandeln und beurteilen. Sie entführt ihn
regelrecht aus der Schweizer Klinik und bringt ihn zu sich nach Naumburg. Erstaunlich
lange währte ihre Hoffnung, er könne in der vertrauten Umgebung und dank ihrer
aufopferungsvollen Pflege wieder genesen. Sie möchte ihn davor bewahren, dass ihn
die Zeitgenossen, von denen manche seine Krankheit bösartig als «Strafe Gottes«
(82) für seine Lehre interpretieren, in seinem bemitleidenswerten Zustand
erleben und verwehrt sich gegen den Versuch mancher vermeintlicher Freunde,
sich seiner – oder seines Werkes – anzunehmen. Und sie schreibt alles auf, was
er von sich gibt, als »die Reliquien seines Lebens, seines Geistes« (87), legt
dankenswerterweise Zeugnis ab von seiner letzten Lebensdekade. Das ist die eine
Seite.
Gleichzeitig genießt sie auch die wiedergewonnene Nähe zu ihrem »Fritz«, den sie nun bemuttert und umhegt und hütet wie ein Kleinkind. Bereits aus der Ferne sorgte sie sich um ihn: Die Pakete, die sie ihm regelmäßig geschickt hat, als er noch Professor war, sind für sie die »Nabelschnur, die ihn auch im fernen Basel mit der Heimat verbunden hat[te]« (34) – und mit ›Heimat‹ meint sie ausschließlich sich:
Gleichzeitig genießt sie auch die wiedergewonnene Nähe zu ihrem »Fritz«, den sie nun bemuttert und umhegt und hütet wie ein Kleinkind. Bereits aus der Ferne sorgte sie sich um ihn: Die Pakete, die sie ihm regelmäßig geschickt hat, als er noch Professor war, sind für sie die »Nabelschnur, die ihn auch im fernen Basel mit der Heimat verbunden hat[te]« (34) – und mit ›Heimat‹ meint sie ausschließlich sich:
»War es nicht die schönste Bestimmung einer Mutter, die
Nährerin, Ernährerin ihres Kindes zu sein? Und seine Beschützerin? Denn jede
Gabe war wie ein Amulett in dieser wilden und feindlichen Welt« (34)
Seine Besuche in den Semesterferien sind für sie »ein Fest
der Liebe, der Freude und des Genusses« (34). Wow. Lütkehaus macht mehr als deutlich,
dass mit der Sorge und aufrichtigen Liebe die mütterliche Inbesitznahme des
»verlorenen Sohnes« (68) einhergeht:
»Sie hatte ihn wieder wie er sie. Vor allem hatte sie ihn
fast ganz für sich allein. Von dem ›kleinen Pastor‹, der zum aufsässigen
gottlosen Ketzer geworden war, hatte er an ihrer Hand zum lenksamen lieben Kind
zurückgefunden, das nur noch selten von den Anfällen der Wildheit heimgesucht
wurde.« (68)
Wir hier Missbrauch schöngeredet? Ersetzt
sich hier eine einsame Frau in ihren Sechzigern den verstorbenen Mann und holt
sich bei ihrem abhängigen Sohn die Liebe und Zärtlichkeit und Zuwendung, auf die
sie sonst verzichten müsste? Lütkehaus verzichtet dankenswerterweise auf
Wertungen, er legt sich nicht fest, aber alleine durch die Häufung
entsprechender Stellen und die Wahl der Perspektive legt er einem nahe, hier
eine Grenzüberschreitung zu diagnostizieren, die einen peinlich berühren muss: »Nun waren sie endlich das Paar,
das zu sein sie sich immer gewünscht hatte. Und war sie denn nicht auch nur
achtzehn Jahre älter als er?« (69) Du lieber Himmel.
Interessant daran ist nicht zuletzt das Ambivalente ihrer Gefühle und des Bildes, das sie von ihrem berühmten Sohn hat und pflegt. So lässt sie seinen legendären Schnurrbart zwar regelmäßig stutzen, aber nicht zu sehr, denn die »etwas gepflegte Wildheit stand ihrem Sohn so gut.« (74). Zwar jubiliert die Mutter, dass der umnachtete Heimgeholte den alten Glauben wieder zu umarmen schien, aber auf die wilde Pose und revolutionäre Sexyness des Gottesleugners will sie dennoch nicht verzichten.
Als die Tochter Mitte der Neunziger Jahre aus den deutschen
Kolonien ins Elternhaus zurückkehrt, gerät die neugewonnene Eintracht zwischen
Mutter und Sohn ins Wanken. Elisabeths Profilneurose und Geschäftstüchtigkeit
führen schon bald dazu, dass sie mit der älteren und ungleich schwächeren
Mutter in Konkurrenz um das Recht auf Pflege und alleinige Besitznahme des
einzigen verbliebenen Mannes in der Familie tritt. Sie macht sich den Zeitgeist
zunutze: In dem Maß, in dem im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts die Nachfrage
nach Nietzsches Werk steigt, wächst auch die Neugier nach ihm und seinem Dasein
in der Obhut der beiden Frauen in Naumburg, zuletzt in Weimar. Mitverantwortlich
dafür ist sein geistiger Zustand eine tragende Rolle. Seine geistige Zerrüttung
bedient ein Klischee, dasjenige, dem an seinem Genie wahnsinnig gewordenen Philosophen,
des zum Narren gewordenen Weisen:
»Entweder phantasierten sie vom neuen Sokrates, vom
geistigen Herkules mit seiner kolossalen majestätischen Denkerstirn, hinter der
Millionen Geistesblitze zuckten. Ihn einen Propheten zu nennen war noch das
Mindeste. Aber er wurde auch zum Titanen, zum gefesselten Prometheus, ja zum
Olympier, zum Jupiter gemacht.« (93)
Die eifer- und prestigesüchtige Aneignung des Bruders als lebendes Denkmal seiner Selbst und des brüderlichen Werks zu kommerziellen und ideologischen Zwecken durch die törichte antisemitische Schwester ist schaudererregend und gespenstisch:
»Wie ein Hohepriester in einen weißen Mantel gewandet, lag
er seither für die Besuche seiner Verehrer als ehrfurchtgebietender lebender
Leichnam auf seinem Sofa aufgebahrt.« (109)
Und
sie gipfelt auf privater Ebene in Elisabeths Organisation der Grabstätten. Sie
veranlasst, dass sie und ihr Bruder nebeneinander liegen, getrennt von der
Mutter.
Lütkehaus
führt uns auf sehr anschauliche Weise in den Kosmos ein, aus der Nietzsche kam,
um die Welt mit seiner Philosophie zu verändern, und in die er zurückkehrte,
als er nicht mehr zurechnungsfähig war. Die Lektüre hinterlässt einen
beklemmenden Eindruck, es rührt und friert einen abwechslungsweise.
Aber
wie bereits eingangs erwähnt: Wer sich nur für Nietzsches Werk interessiert,
der kann sich die Lektüre sparen. Ich jedenfalls empfehle das Buch. Es
fasziniert und berührt einen, es wirkt nach, es ist wunderschön geschrieben und
bietet nebst vielem anderen eine weitere Reise in die menschliche, allzumenschliche
Sehnsucht nach Nähe, Liebe und Anerkennung. Und das ist nicht nur für Nietzscheleser
interessant.
Quellenangabe:
Lütkehaus,
Ludger: Die Heimholung. Nietzsches Jahre im Wahn. Schwabe-Verlag, Basel 2011.
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