Freitag, 4. Januar 2013

Philip Roth: Nemesis (2010)

Ödipus in Newark, 1944



Nemesis beschäftigt sich exemplarisch mit dem uralten philosophischen Thema, dass wir Menschen schuldig werden können, ohne es zu wollen. Dass wir immer nur nach dem Richtigen streben können, aber letztlich nicht notwendig beurteilen können, ob wir nicht gerade etwas sehr Falsches tun.

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Bucky Cantor heißt die Hauptfigur, und – Moment, ich merke jetzt schon und schicke das voraus, dass ich bei diesem Roman das Ende einbeziehen muss, um darüber schreiben zu wollen und zu können. Vielleicht werde ich sogar mit dem Ende beginnen. Wer also den Roman wegen der Storyline erst noch lesen möchte und Spoiler meiden will, der darf jetzt eigentlich nicht weiterlesen.
Restart: Im Zentrum steht Bucky Cantor, ein strammer angehender Sportlehrer Mitte zwanzig, einer, der seine Schüler mag und den die Schüler mögen. Er sieht gut aus, verfügt über Ausstrahlung und Charisma, ist fair und gewissenhaft – ein idealer Pädagoge. Als Frühwaise ist er bei seinen Großeltern aufgewachsen. Sein schon vor Jahren verstorbener Groß- und Ersatzvater war sein Held und Mentor, ein einfacher, geradliniger Mann, ein Vorbild an Pflichtbewusstsein, Tapferkeit und Integrität. 

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Der Roman spielt im vorletzten Kriegsjahr, während der Sommerschulferien 1944. Schauplatz ist Newark, NewJersey, eine mittelgroße Stadt etwas westlich von New York am Atlantik. So traurig Bucky darüber ist, elternlos und ärmlich aufgewachsen zu sein, so hoffnungsfroh blickt er auf sein zukünftiges Leben. Er ist zuversichtlich, früher oder später seinen Traumberuf als Sportlehrer an einem College ausüben zu können und er ist glücklich verliebt in die hübsche Marcia, die älteste Tochter einer frommen jüdischen Ärztefamilie. Das Nest scheint bereitet.

Nemesis – der Titel läßt keine Zweifel zu – dreht sich um drei Dramen, die Buckys Glück im Weg stehen. Die ersten beiden begleiten ihn über die längste Zeit des Romans, das dritte besiegelt das Ende. Das erste Drama bildet eine Art Voraussetzung für die nachfolgenden: Als Träger einer starken Brille ist es Bucky versagt worden, seiner patriotischen und ethischen Bestimmung zu folgen und als Soldat für sein Vaterland zu kämpfen. Für einen wie er ist das eine Schmach und persönliche Niederlage, ein dauernder Grund sich zu schämen. Voller Neid denkt er an Freunde und Bekannte, die an der Front stehen, dort, wo ein guter Amerikaner eben zu stehen hat. 

Das zweite Drama: die Stadt kämpft gegen ene Polio-Epidemie, die sich als sehr hartnäckig und gefährlich herausstellt, besonders in Buckys Viertel. Das öffentliche Leben wird mehr und mehr eingeschränkt, bis zuletzt alle öffentlichen Gebäude und Plätze gesperrt werden. Bevor es dazu kommt, werden Männer wie Bucky gebraucht, die während der langen Sommerferien an öffentlichen Sportplätzen für Ordnung sorgen und sich um diejenigen Kinder kümmern, die von den Eltern nicht ins Umland geschickt wurden, meist aus finanziellen Gründen. Bucky, dessen männliches Ehrgefühl eh schon angeknackst ist (was macht einer wie er noch in der Heimat?), muss tatenlos dabei zusehen, wie einige der Jungs von seinem Platz der Krankheit zum Opfer fallen, die einen sterben, die anderen tragen bleibende Schäden mit sich oder enden in der Eisernen Lunge, ein fürchterliches Schicksal.

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Bucky will das Richtige tun, und sein Pflichtgefühl sagt ihm, dass er die Stadtkinder nicht im Stich lassen darf, die davon abhängen, dass einer wie er ihnen den Aufenthalt auf Sportplätzen ermöglicht. Marcia aber, die als Leiterin in einem Summer Camp auf dem Land beschäftigt ist, möchte – halb aus Sehnsucht und halb aus Sorge um ihn –, dass er ihr nachreist. Eine Stelle sei offen, für die er ideal wäre. Als die Epidemie immer mehr Opfer fordert aus seinem Umfeld, wird er unsicher.
In seiner Ohnmacht entwickelt Bucky einen Zorn auf den Gott, der diese Plage über die Stadt bringt, er stellt die Theodizee-Frage: Wieso lässt der vermeintlich Allmächtige eine Krankheit zu, die ausgerechnet Kinder befällt? »Hat Gott kein gewissen? Wo ist seine Verantwortung?« (85) Will er damit beweisen, »dass wir auf der Erde Menschen brauchen, die verkrüppelt sind?« (134) Wieso preisen ihn selbst die Opferfamilien? Wäre es nicht plausibler, der Sonne zu huldigen als »die offizielle Lüge zu schlucken, Gott sei Liebe und Güte, und vor einem kaltblütigen Kindermörder im Staub zu kriechen.« (63) Es sind naive Fragen, aber altbekannt. Für ihn sind sie drängend, denn er hält die Hilflosigkeit nicht aus.
Die Zweifel am Sinn seiner Tätigkeit nehmen zu, nachdem ihm die Mutter zweier infizierter Kinder vorwirft, eine Mitschuld zu tragen: »Sie lassen sie da oben herumrennen wie Tiere – und dann wundern Sie sich, wenn die Kinderlähmung kriegen! Weil sie nicht aufgepasst haben! Weil es gedankenlose Idioten wie Sie gibt.«. (67) Schließlich gibt er Marcias Drängen nach, nicht ohne mit sich zu hadern: er, der nicht an der Front sein Leben aufs Spiel setzt wie alle anderen, hat nun aus freien Stücken seinen Dienst an der Heimatfront quittiert. Das Problem: »je glücklicher er war, desto demütigender.« (137)

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Was er nicht weiß, was sich aber nach einigen Tagen in dem Summer Camp herausstellt: Bucky selber ist Träger der Krankheit, nur ist sie bei ihm noch nicht ausgebrochen. So muss er sich vergegenwärtigen, mehrere der Kinder in seinem Umfeld an beiden Orten infiziert zu haben, darunter einige seiner Lieblingsschüler (mit denen er mehr Zeit verbrachte) und eine Schwester Marcias, und sie damit einem schlimmen Schicksal überlassen zu haben. 

Das dritte und letzte Drama ist hausgemacht, die finale Katastrophe in Form einer lebenlänglichen Selbstbestrafung: der von der Krankheit versehrte Bucky gibt Marcia den Laufpass, weil er es nicht aushält, dass die Frau, die er liebt, ihr Leben mit einem Versehrten verbringen soll, einem Schatten des Mannes, in den sie sich verliebt hatte. Und einem Verdammten. Insofern handelt es sich bei Nemesis tatsächlich um ein Schicksalsdrama in der Nachfolge von Sophokles' Figur des Ödipus: Bucky, der alles richtig machen will, wird unschuldig schuldig und leistet Leid und Tod Vorschub. Zwar ist er nicht die Ursache der Plage an sich (wie bei Sophokles), muss aber mit dem Bewusstsein leben, dass er ein Teil des Problems war, das er meinte lösen zu können. 

Wäre es ihm vergönnt gewesen, als Soldat zu kämpfen, wäre er nicht in Kontakt mit der Epidemie und den Kindern gekommen, mit etwas Glück hätte er nach dem Krieg mit Marcia glücklich werden können. Wäre er in der Stadt geblieben, in der kurz nach seinem Weggang eine Ausgangssperre verhängt wurde, hätte er keine weiteren Kinder infisziert. Und hätte er Marcia nachgegeben, die ihn anflehte, ihn zu heiraten und ihm ihre ganze Liebe zu Füßen legte, vielleicht hätte er an ihrer Seite bei allen Einbußen ein glückliches Leben führen können. 

MannMannMann, das ist starker Tobak. Dieser letzte Teil des Romans haut einen um, Buckys existenzielle Not und sein schier unfassbar selbstloser Verzicht auf Liebe, Trost und Partnerschaft sind kaum zu verstehen – und schwer auszuhalten. 

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Dennoch konnte mich der Schluss nicht über eine gewisse Langeweile hinwegtrösten, die sich beim Lesen der ca. 180 Seiten vor diesem fulminanten Ende einstellte. Woran liegt's? Ich kann nur von mir sprechen, aber mich langweilte zum einen das etwas unterkomplexe Wesen der Hauptfigur und deren ethischer Pathos, das Hohelied vom guten Pädagogen – erzählt wird das Ganze übrigens von einem ehemaligen Schüler und Bewunderer Buckys, der aber kaum in Erscheinung tritt. Die etwas fade Erscheinung und glatte Oberfläche dieses idealen jungen verkappten Helden an der Heimatfront mit seinem patriotischen Komplex konnte nie meine Neugierde wecken, obwohl ich sein Gefühl der Insuffizienz aus seiner Warte nachvollziehen kann. Aber sie erinnerte mich an die Unlust, die mich überfiel, als ich vor Jahren Roths berühmtesten Roman The Humain Stain zu lesen begann und das Buch nach 50 Seiten enttäuscht weglegte, weil ich es schlichtweg nicht aushielt, wie penetrant Roth dort die Apotheose seiner Hauptfigur betreibt. Aber bitte – who am I to criticize the master.
Das zweite, was mich stört, sind die schier endlosen und absolut spannungsarmen Beschreibungen der neighborhood Newarks. Das ist etwas für Ethnologen mit einem spezifischen Interesse für die amerikanische Stadt Mitte des 20. Jahrhunderts. Aber dramaturgisch trägt das kaum. Dafür fehlt mir die Geduld und in diesem Roman rettet Roths a priori hochgelobte Sprache auch nicht über eine gewisse Spannungsfreiheit hinweg. Kann schon sein, vielleicht ist das mit der Geduld ja eine charakterliche oder gar eine Generationenfrage. Es wäre jedenfalls icht allzu weit hergeholt, dass Roth hier auch derjenigen Stadt ein Denkmal setzen wollte, in der er 1933 geboren wurde.

Während also Nemesis etwas an mir vorbeiging, haben mich einige der neueren Romane, die ich von Roth kenne, richtig fasziniert, z.B. Die Demütigung (2009), Das sterbende Tier (2001) oder Exit Ghost (2007). Dort bringt er einen zum Lachen und schockiert, und es gibt eine Storyline, die zieht. Zwar finde ich nun, da ich den Ausgang von Nemesis kenne, ich sollte ihn vielleicht nochmals zur Hand nehmen und einzelne Passagen erneut mit etwas mehr Ruhe lesen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich mir ein Roman erst bei der zweiten Lektüre offenbart – yet – ich habe meine Zweifel, ob das in diesem Fall so wäre. Falls doch, werde ich das selbstverständlich nicht für mich behalten und demütig zu Kreuze kriechen.
Jedenfalls gelobe ich an dieser Stelle, dass Nemesis nicht der letzte Roman von Philip Roth sein wird, über den ich schreibe. ›Kommt Zeit, kommt Rat, kommt gute Tat.‹ (Und du wartest von Element of Crime, danke, Sven, für diese schöne Zeile)

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Philip Roth: Nemesis (urspr. 2010). Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Hamburg, 2012. 219 Seiten.

4 Kommentare:

  1. Eine tolle Rezension zu einem fantastischen Buch. Ich gestehe, dass ich ein großer Fan bin von Philip Roth und schon viele seiner Bücher mit Begeisterung verschlungen habe. "Nemesis" war eines meiner Highlights von ihm ... :-)

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  2. Danke :) kann von mir nicht behaupten, dass ich ihn bereits richtig kenne, dazu fehlt mir noch das eine oder andere Buch von ihm. Was sicher ist, er gehört zum besten, das auf jeden Fall. Nur thematisch interessieren mich die anderen Geschichten von ihm mehr als Nemesis. Hat Dir ein Buch von ihm besonders Eindruck gemacht?

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  3. Ich habe Nemesis vor über einem Jahr gelesen; ich habe jedoch die ruhige, unterschwellige Drohung, die das ganze Buch begleitet hat, nicht vergessen. Ein grossartiger Roman!

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    1. Danke für das Feedback! Das stimmt, unterschwellig ist diese Spannung da, man wartet förmlich darauf, dass etwas passiert, was sich dann ja als wahr erweist. Ich weiß nicht mehr genau warum, aber diese Spannung hat für mich nicht über den ganzen Text hin getragen, es war mir etwas zu langsam und beschaulich. Aber danke für den Hinweis!!

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