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Freitag, 4. Januar 2013

Philip Roth: Nemesis (2010)

Ödipus in Newark, 1944



Nemesis beschäftigt sich exemplarisch mit dem uralten philosophischen Thema, dass wir Menschen schuldig werden können, ohne es zu wollen. Dass wir immer nur nach dem Richtigen streben können, aber letztlich nicht notwendig beurteilen können, ob wir nicht gerade etwas sehr Falsches tun.

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Bucky Cantor heißt die Hauptfigur, und – Moment, ich merke jetzt schon und schicke das voraus, dass ich bei diesem Roman das Ende einbeziehen muss, um darüber schreiben zu wollen und zu können. Vielleicht werde ich sogar mit dem Ende beginnen. Wer also den Roman wegen der Storyline erst noch lesen möchte und Spoiler meiden will, der darf jetzt eigentlich nicht weiterlesen.
Restart: Im Zentrum steht Bucky Cantor, ein strammer angehender Sportlehrer Mitte zwanzig, einer, der seine Schüler mag und den die Schüler mögen. Er sieht gut aus, verfügt über Ausstrahlung und Charisma, ist fair und gewissenhaft – ein idealer Pädagoge. Als Frühwaise ist er bei seinen Großeltern aufgewachsen. Sein schon vor Jahren verstorbener Groß- und Ersatzvater war sein Held und Mentor, ein einfacher, geradliniger Mann, ein Vorbild an Pflichtbewusstsein, Tapferkeit und Integrität. 

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Der Roman spielt im vorletzten Kriegsjahr, während der Sommerschulferien 1944. Schauplatz ist Newark, NewJersey, eine mittelgroße Stadt etwas westlich von New York am Atlantik. So traurig Bucky darüber ist, elternlos und ärmlich aufgewachsen zu sein, so hoffnungsfroh blickt er auf sein zukünftiges Leben. Er ist zuversichtlich, früher oder später seinen Traumberuf als Sportlehrer an einem College ausüben zu können und er ist glücklich verliebt in die hübsche Marcia, die älteste Tochter einer frommen jüdischen Ärztefamilie. Das Nest scheint bereitet.

Nemesis – der Titel läßt keine Zweifel zu – dreht sich um drei Dramen, die Buckys Glück im Weg stehen. Die ersten beiden begleiten ihn über die längste Zeit des Romans, das dritte besiegelt das Ende. Das erste Drama bildet eine Art Voraussetzung für die nachfolgenden: Als Träger einer starken Brille ist es Bucky versagt worden, seiner patriotischen und ethischen Bestimmung zu folgen und als Soldat für sein Vaterland zu kämpfen. Für einen wie er ist das eine Schmach und persönliche Niederlage, ein dauernder Grund sich zu schämen. Voller Neid denkt er an Freunde und Bekannte, die an der Front stehen, dort, wo ein guter Amerikaner eben zu stehen hat. 

Das zweite Drama: die Stadt kämpft gegen ene Polio-Epidemie, die sich als sehr hartnäckig und gefährlich herausstellt, besonders in Buckys Viertel. Das öffentliche Leben wird mehr und mehr eingeschränkt, bis zuletzt alle öffentlichen Gebäude und Plätze gesperrt werden. Bevor es dazu kommt, werden Männer wie Bucky gebraucht, die während der langen Sommerferien an öffentlichen Sportplätzen für Ordnung sorgen und sich um diejenigen Kinder kümmern, die von den Eltern nicht ins Umland geschickt wurden, meist aus finanziellen Gründen. Bucky, dessen männliches Ehrgefühl eh schon angeknackst ist (was macht einer wie er noch in der Heimat?), muss tatenlos dabei zusehen, wie einige der Jungs von seinem Platz der Krankheit zum Opfer fallen, die einen sterben, die anderen tragen bleibende Schäden mit sich oder enden in der Eisernen Lunge, ein fürchterliches Schicksal.

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Bucky will das Richtige tun, und sein Pflichtgefühl sagt ihm, dass er die Stadtkinder nicht im Stich lassen darf, die davon abhängen, dass einer wie er ihnen den Aufenthalt auf Sportplätzen ermöglicht. Marcia aber, die als Leiterin in einem Summer Camp auf dem Land beschäftigt ist, möchte – halb aus Sehnsucht und halb aus Sorge um ihn –, dass er ihr nachreist. Eine Stelle sei offen, für die er ideal wäre. Als die Epidemie immer mehr Opfer fordert aus seinem Umfeld, wird er unsicher.
In seiner Ohnmacht entwickelt Bucky einen Zorn auf den Gott, der diese Plage über die Stadt bringt, er stellt die Theodizee-Frage: Wieso lässt der vermeintlich Allmächtige eine Krankheit zu, die ausgerechnet Kinder befällt? »Hat Gott kein gewissen? Wo ist seine Verantwortung?« (85) Will er damit beweisen, »dass wir auf der Erde Menschen brauchen, die verkrüppelt sind?« (134) Wieso preisen ihn selbst die Opferfamilien? Wäre es nicht plausibler, der Sonne zu huldigen als »die offizielle Lüge zu schlucken, Gott sei Liebe und Güte, und vor einem kaltblütigen Kindermörder im Staub zu kriechen.« (63) Es sind naive Fragen, aber altbekannt. Für ihn sind sie drängend, denn er hält die Hilflosigkeit nicht aus.
Die Zweifel am Sinn seiner Tätigkeit nehmen zu, nachdem ihm die Mutter zweier infizierter Kinder vorwirft, eine Mitschuld zu tragen: »Sie lassen sie da oben herumrennen wie Tiere – und dann wundern Sie sich, wenn die Kinderlähmung kriegen! Weil sie nicht aufgepasst haben! Weil es gedankenlose Idioten wie Sie gibt.«. (67) Schließlich gibt er Marcias Drängen nach, nicht ohne mit sich zu hadern: er, der nicht an der Front sein Leben aufs Spiel setzt wie alle anderen, hat nun aus freien Stücken seinen Dienst an der Heimatfront quittiert. Das Problem: »je glücklicher er war, desto demütigender.« (137)

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Was er nicht weiß, was sich aber nach einigen Tagen in dem Summer Camp herausstellt: Bucky selber ist Träger der Krankheit, nur ist sie bei ihm noch nicht ausgebrochen. So muss er sich vergegenwärtigen, mehrere der Kinder in seinem Umfeld an beiden Orten infiziert zu haben, darunter einige seiner Lieblingsschüler (mit denen er mehr Zeit verbrachte) und eine Schwester Marcias, und sie damit einem schlimmen Schicksal überlassen zu haben. 

Das dritte und letzte Drama ist hausgemacht, die finale Katastrophe in Form einer lebenlänglichen Selbstbestrafung: der von der Krankheit versehrte Bucky gibt Marcia den Laufpass, weil er es nicht aushält, dass die Frau, die er liebt, ihr Leben mit einem Versehrten verbringen soll, einem Schatten des Mannes, in den sie sich verliebt hatte. Und einem Verdammten. Insofern handelt es sich bei Nemesis tatsächlich um ein Schicksalsdrama in der Nachfolge von Sophokles' Figur des Ödipus: Bucky, der alles richtig machen will, wird unschuldig schuldig und leistet Leid und Tod Vorschub. Zwar ist er nicht die Ursache der Plage an sich (wie bei Sophokles), muss aber mit dem Bewusstsein leben, dass er ein Teil des Problems war, das er meinte lösen zu können. 

Wäre es ihm vergönnt gewesen, als Soldat zu kämpfen, wäre er nicht in Kontakt mit der Epidemie und den Kindern gekommen, mit etwas Glück hätte er nach dem Krieg mit Marcia glücklich werden können. Wäre er in der Stadt geblieben, in der kurz nach seinem Weggang eine Ausgangssperre verhängt wurde, hätte er keine weiteren Kinder infisziert. Und hätte er Marcia nachgegeben, die ihn anflehte, ihn zu heiraten und ihm ihre ganze Liebe zu Füßen legte, vielleicht hätte er an ihrer Seite bei allen Einbußen ein glückliches Leben führen können. 

MannMannMann, das ist starker Tobak. Dieser letzte Teil des Romans haut einen um, Buckys existenzielle Not und sein schier unfassbar selbstloser Verzicht auf Liebe, Trost und Partnerschaft sind kaum zu verstehen – und schwer auszuhalten. 

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Dennoch konnte mich der Schluss nicht über eine gewisse Langeweile hinwegtrösten, die sich beim Lesen der ca. 180 Seiten vor diesem fulminanten Ende einstellte. Woran liegt's? Ich kann nur von mir sprechen, aber mich langweilte zum einen das etwas unterkomplexe Wesen der Hauptfigur und deren ethischer Pathos, das Hohelied vom guten Pädagogen – erzählt wird das Ganze übrigens von einem ehemaligen Schüler und Bewunderer Buckys, der aber kaum in Erscheinung tritt. Die etwas fade Erscheinung und glatte Oberfläche dieses idealen jungen verkappten Helden an der Heimatfront mit seinem patriotischen Komplex konnte nie meine Neugierde wecken, obwohl ich sein Gefühl der Insuffizienz aus seiner Warte nachvollziehen kann. Aber sie erinnerte mich an die Unlust, die mich überfiel, als ich vor Jahren Roths berühmtesten Roman The Humain Stain zu lesen begann und das Buch nach 50 Seiten enttäuscht weglegte, weil ich es schlichtweg nicht aushielt, wie penetrant Roth dort die Apotheose seiner Hauptfigur betreibt. Aber bitte – who am I to criticize the master.
Das zweite, was mich stört, sind die schier endlosen und absolut spannungsarmen Beschreibungen der neighborhood Newarks. Das ist etwas für Ethnologen mit einem spezifischen Interesse für die amerikanische Stadt Mitte des 20. Jahrhunderts. Aber dramaturgisch trägt das kaum. Dafür fehlt mir die Geduld und in diesem Roman rettet Roths a priori hochgelobte Sprache auch nicht über eine gewisse Spannungsfreiheit hinweg. Kann schon sein, vielleicht ist das mit der Geduld ja eine charakterliche oder gar eine Generationenfrage. Es wäre jedenfalls icht allzu weit hergeholt, dass Roth hier auch derjenigen Stadt ein Denkmal setzen wollte, in der er 1933 geboren wurde.

Während also Nemesis etwas an mir vorbeiging, haben mich einige der neueren Romane, die ich von Roth kenne, richtig fasziniert, z.B. Die Demütigung (2009), Das sterbende Tier (2001) oder Exit Ghost (2007). Dort bringt er einen zum Lachen und schockiert, und es gibt eine Storyline, die zieht. Zwar finde ich nun, da ich den Ausgang von Nemesis kenne, ich sollte ihn vielleicht nochmals zur Hand nehmen und einzelne Passagen erneut mit etwas mehr Ruhe lesen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich mir ein Roman erst bei der zweiten Lektüre offenbart – yet – ich habe meine Zweifel, ob das in diesem Fall so wäre. Falls doch, werde ich das selbstverständlich nicht für mich behalten und demütig zu Kreuze kriechen.
Jedenfalls gelobe ich an dieser Stelle, dass Nemesis nicht der letzte Roman von Philip Roth sein wird, über den ich schreibe. ›Kommt Zeit, kommt Rat, kommt gute Tat.‹ (Und du wartest von Element of Crime, danke, Sven, für diese schöne Zeile)

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Philip Roth: Nemesis (urspr. 2010). Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Hamburg, 2012. 219 Seiten.

Donnerstag, 3. Januar 2013

Joyce Carol Oates: Rape. A Love Story / Vergewaltigt. Eine Liebesgeschichte (2003)

Düsteres Sittengemälde aus der amerikanischen Provinz


Die Kombination von Titel und Gattungsbezeichnung ist gewagt, provokativ und scheint an ein Tabu zu rühren. Vergewaltigung und Liebe schließen sich aus, eine kausale Verknüpfung kann wohl kaum gemeint sein. Aber was dann? Im Verlauf des Romans löst sich der vermeintliche Widerspruch auf, aber nicht restlos. Er verweist darüber hinaus auf eine Problematik, die hinter der Handlung liegt. Und die ist im vorliegenden Fall brisant und durchaus politischer Natur.

Die Handlung


1996, Niagara Falls, unweit der amerikanisch-kanadischen Grenze. Die Tat steht gleich auf den ersten Seiten beschrieben. Sie geschieht kurz nach Mitternacht, am Ende des amerikanischen Nationalfeiertages. Teena Maguire, Mitte dreißig, früh verwitwet, eine lebenslustige und selbstbewusste schöne Frau, die sich mädchenhaft anzieht und gerne flirtet, durchquert mit ihrer zwölfjährigen Tochter Bethie auf dem Heimweg von einer Feier einen Park. Dort werden die beiden von einer Horde zugedröhnter Männer belästigt und Teena wird mehrfach vergewaltigt. Nach einer halben Stunde lassen die Männer die blutende Frau halbtot liegen, die nur leicht verletzte Bethie wird bei der Zeugenaussage zugeben müssen, dass sie die Tat nur gehört, aber nicht mit eigenen Augen gesehen hat, wer alles über ihre Mutter hergefallen ist. Sie hatte sich am Tatort, einem Bootshaus, dem Zugriff der Männer entzogen und sich unter den Booten versteckt. Der erste, den sie sieht und dem sie davon erzählt, ist der Polizist John Dromoor. 

Teena überlebt knapp, erst mehrere Wochen später erinnert sie sich daran zurück, was ihr widerfahren ist, und verweigert sich fortan dem Leben. Alkohol, Medikamente, Depressionen, manchmal verlässt sie tagelang nicht ihr Schlafzimmer. Sie hat das eigene Haus aufgegeben, auf dem sie zuvor bestanden hatte, weil es für sie die Freiheit bedeutete, Männer nach Hause nehmen zu können und vielleicht eine neue Beziehung aufzubauen, z.B. mit ihrem Freund Casey. Seit dem Gewaltakt will sie von ihm nichts mehr wissen, auch von keiner Zukunft, sie wohnt mit Bethie wieder bei ihrer Mutter, die sich um sie kümmert. Das ist ein wesentlicher Aspekt des Dramas, den Oates hervorhebt: Wie die Gewalt nachwirkt, wie sie einer Frau den Daseinsgrund und die Würde raubt und sie damit der Selbstzerstörung preisgibt. Dreißig läppische Minuten haben aus Teena eine gebrochene Frau ohne jeden Lebenswillen gemacht.
Für die Tochter bedeuten diese dreißig Minuten das Ende ihrer Kindheit. Ihr steht eine zeit bevor, in der sie den Rollentausch vornehmen muss und auf die Mutter aufpassen. Dass die sich nicht umbringt. Die Passagen, in der es sich um Bethie dreht, sind als Anrede in der zweiten Person Singular geschrieben, was eine größere Nähe zur inneren Wahrnehmung des überforderten Kindes herstellt.

»Die Zeugenaussage deiner Mutter ist wichtiger als deine, haben die Detectives dir erklärt. Ohne ihre Aussage gibt es für die Schuld der Verdächtigen nur Indizien, keine Beweise. Du weiß nicht, warum. Du verstehst nicht, warum das so ist. Sie haben deine Mutter übel zugerichtet, haben sie geschlagen und aufgerissen und dort auf dem Boden des Bootshauses fast verbluten lassen. Ja, aber man muss es beweisen. Vor Gericht. Es reicht nicht, dass es passiert ist. Dass Teena Maguire fast zu Tode gekommen ist. Man muss es auch noch beweisen.« (S. 65)

Das frauenfeindliche Milieu


Immerhin hat Teena die Täter identifiziert, es kommt zu einer ersten Gerichtsverhandlung. Die Verurteilung scheint nur eine Formfrage, doch die Familien der fünf angeklagten Täter haben zusammengelegt und einen Staranwalt aus NYC namens Kirkpatrick engagiert. Kirkpatrick leugnet kurzerhand den Tatbestand der Gruppenvergewaltigung mit schwerer Körperverletzung und verdreht die offensichtlichen Tatsachen. Es habe sich um Geschlechtsverkehr in gegenseitigem Einvernehmen gegen Geld gehandelt, die Misshandlungen seien von anderen Männern vorgenommen worden, das ist eine perfide Variante dessen, was die Indizien hergeben. Aussage gegen Aussage, denn Bethie hat die Vergewaltigung eben nur gehört, nicht gesehen. Das ist schlimm genug. Mindestens ebenso schlimm aber ist der Umstand, dass es in der kleinen Stadt nicht wenige gibt, die davon überzeugt sind, dass Kirkpatrick die Wahrheit sagt. 

Das ist eine weitere Seite des Dramas, das Oates sorgfältig ausmalt: das provinzielle, engstirnige und engherzige Milieu, die Missgunst, Bösartigkeit und latente Frauenfeindlichkeit vieler Mitbürger, in deren Köpfen sich nach der Tatnacht das Bild der hübschen junggebliebenen Frau in das einer Verführerin und Schlampe verkehrt. Teenas Lebenslust und Freizügigkeit waren manchen ein Dorn im Auge, es war registriert worden, wie die Männer ihr immer nachgesehen haben und sie es genossen hat. Liegt es da nicht auf der Hand, dass Kirkpatrick die Wahrheit spricht. Oder dass es ihr jedenfalls recht geschieht, selbst wenn er unrecht hat? Das hat sie doch gewollt. Damit musste sie doch rechnen. Das hat sie sich selbst zuzuschreiben. Starke, schwer erträgliche Bilder weiblicher Opfergänge aus Filmen von Lars von Trier kommen einem in den Sinn, z.B. Dogville oder Breaking the Waves, aber auch Whistleblower von Larysa Kondracki (2010), Angelinas Jolies starkes Regiedebut In the Land of Blood and Honey (2011), Denise Villeneuves Incendies (2010) oder Max Färberböck Anonyma – Eine Frau in Berlin mit Nina Hoss in der Hauptrolle. 

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Besonders krass ist das Bild, das der Roman von den Männern in Niagara Falls zeichnet. Stumpfsinnig, gewaltbereit, dabei durchaus feige, und selbstgerecht bis auf die Knochen. Zur Illustration eine Beschreibung von einem der Täter, Fritz Haaber: 

»Wie ein scheißtickender Taxometer so eine Anwaltsklappe. Wenn er diese Scheiße erst hinter sich hatte, dachte Fritz manchmal […] würde er schauen, ob er nicht selbst Anwalt werden konnte, die Typen scheffelten Kohle fürs bloße Sabbeln, das hielt man im Kopf nicht aus. was war schon dabei, Anwalt zu sein? Er, Fritz, hatte schließlich schon alles Mögliche gemacht, schon auf der Highschool für die Parkverwaltung geastet, den Hilfskellner in Niagara Grand gegeben […] Jede Art von dämlichen Scheißjob hatte er schon gemacht, aber alles real, konkret. Nicht so Luftnummern aus lauter Worten.« (S. 153)

»Fritz war seit der Festnahme nicht mehr derselbe, […] Am Abend des vierten Juli hatten Teenies in satinglänzenden Cheerleaderfähnchen beim Baseballmatch der Highschools im Park mit Ärschen und Titten gewackelt. […] Fritz stand auf kleine Mädchen, frotzelten die Kumpel. Frauen über zwanzig törnten ihn ab, die wussten zu viel […] Während so eine Kleine, wirklich jung noch […] das war noch was anderes. Die witzelte nicht, die hatte eine Heidenangst, Respekt eben.« (S. 154f.)


Das schwer erträgliche Thema der Vergewaltigung


Die Frage, was Vergewaltigung bei einem Menschen anrichtet, ist selten dein zentraler Gegenstand von Literatur oder Film, seltener als andere Formen des Verlustes oder der körperlichen und seelischen Versehrung. Täusche ich mich oder ist das so? Wenn ja, warum halten wir es so schlecht aus, ein solches Schicksal erzählt zu bekommen und es hautnah mitzuerleben? Sicher wegen der Ohnmacht und der Scham, welche die Vergewaltigungsopfer oft ein Leben lang mit sich tragen müssen und die wir als Leser oder Zuschauer mitauszuhalten gezwungen sind.
Vielleicht auch, weil eine Vergewaltigung einen Akt darstellt, der in jene menschliche Sphäre eindringt, die idealerweise mit dem Gegenteil von Gewalt verbunden wird: mit Zärtlichkeit, Vertrauen, Sinnlichkeit, der körperlichen Lust, dem sexuellen Rausch, der glücklichen Vereinigung mit einem geliebten Partner, mit dem Maximum an sinnlich-körperlicher Empfindungsfähigkeit. Wer vergewaltigt wird, ist in ebendem Moment der Gewalt ausgesetzt, in dem sich der Vergewaltiger Lust verschafft, die angesichts der ausgeübten Gewalt nicht nachlässt, sondern davon genährt wird. Ob dem Vergewaltigungsopfer jemals wieder eine intime Beziehung möglich ist, ist ungewiss. Damit ist aber auch eine ganz zentrale Form des Glücks infrage gestellt, ein Zustand, den wir uns nur ungern vorstellen.

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Die wichtigste männlicher Figur ist der Polizist John Dromoor. Für Bethie ist er eine Lichtfigur, vielleicht weil er es war, der sie in der Tatnacht als erster sah und die Rettung von Teena einleitete. Dem Leser ist er bis zuletzt unheimlich. Seine Liebe zum Dienst, sein Patriotismus und seine Autoritätsgläubigkeit hat sich in ihm seit seinen Einsätzen in den beiden Golfkriegen verfestigt. Und er mag seine Waffen mehr, als man es wissen will:


»Dromoor besaß inzwischen ein Gewehr. Er entwickelte Sinn für die Schönheit eines schlanken, kalt schimmernden Gewehrlaufs, das blanke Holz des Kolbens. […] Dromoor lächelte. Sagte sich, auf die eigenen Scheißhände konnte er sich wenigstens verlassen, keine sonst. Ließ die Gedanken aufsteigen und treiben. Brauchte nicht groß überlegen, konnte sich auf seinen Instinkt verlassen. […] Wenn man erst abgedrückt hatte, dann war's das – vorausgesetzt, man beherrschte seine Sache – für die Zielperson. war die Zielperson erst weg, konnte sie nicht gegen dich aussagen.« (136f.)

Wer so eine Sprache spricht, der zögert auch nicht, seine Waffen zu benützen. Spielt es eine Rolle, wer die Zielpersonen sind? Mit John Dromoor hat Oates eine Figur geschaffen, der wir mit zwiespältiger Sympathie begegnen. Sie verkörpert unsere Sehnsucht nach einer Form von Gerechtigkeit und erinnert uns gleichzeitig ungut an die Gewaltbereitschaft, die in den Primatenhirnen der Vergewaltiger  dominiert. Und an die Tatsache, dass jene in der Mehrzahl sind. Und die applaudierenden Zuschauer sowieso. Die amerikanische Provinz kann einem Angst und Schrecken einjagen, ob es nun die Filme der Coen-Brothers sind oder dieser Roman von Joyce Carol Oates.


Joyce Carol Oates: Vergewaltigt. Eine Liebesgeschichte. (erstmals 2003) Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. Fischer, FaM, 2012. 170 Seiten.

Freitag, 20. Juli 2012

Sibylle Berg: Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot (1997)




»Geschichten, die so beginnen, haben nie ein gutes Ende.« (S. 53)

Sämtliche zehn Figuren dieses Romans leben und lieben konsequent aneinander vorbei. Vera und Helge sind bereits zu lange verheiratet und haben sich nichts mehr zu sagen. Während er als frustrierter Barpianist im Marriott routinemäßig einsame angetrunkene Geschäftsfrauen beschläft, in narkotisiertem Zustand und gegen Bezahlung, flieht sie – wider bessere Ahnung – mit einem viel zu jungen Möchtegern-Rockstar nach USA, auf der Suche nach Zerstreuung und dem Ereignis, das ihrer Wahrsagerin, die sie erst auf diesen Gedanken brachte, die Sprache verschlug. Ihr erschrockenes Gesicht scheint Vera eher anzuspornen als davon abzuhalten, dieser selffulfilling prophesy nachzugehen.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, macht sie es damit ihrer 17jährigen magersüchtigen Tochter Vera nach, die auf einer Reise in die Selbstentfremdung an einem trostlosen spanischen Küstenstrich herumirrt, dessen äußere Wüstheit mit ihrem Inneren korrespondiert: »Jeder kann mich haben. Es macht mir nichts. Es ist besser, als alleine zu sein.« Sie übergibt sich vorübergehend einem genauso verlorenen Teenager namens Thomas, der sich in seinem pechschwarz angemalten Keller dem Sadomasochismus verschrieben hat.
Was Vera auch nicht weiß: der verkappte Jaggerverschnitt namens Pit, ein Rohrkrepierer von Flirt, war – ausgerechnet – die neue große und unglückliche Liebe ihrer besten Freundin Bettina, einer Kulturjournalistin im Einsamkeitstaumel. Die Tochter einer Alkoholikerin und Selbstmörderin hat sich vom Glauben an den Märchenprinzen verabschiedet. Umso verzweifelter ist sie dazu bereit, sich komplett aufzugeben und dem grobschlächtigen Pit in die verschränkten Arme zu werfen:

»Wir sind die Generation der Beschissenen. Ich weiß nicht von wem und von was. Vielleicht weil sie uns die Unschuld genommen haben. Den Glauben an einen Sinn. […] Noch nicht mal Liebe ist ein Geheimnis. Da wissen wir, daß es um Hormone geht, um die Paarung, um Evolution. […] Ich merke genau, daß die ganzen Männer, die ganzen Leidenschaften, austauschbar sind. Aber ändern kann ich es auch nicht. Jedesmal glaube ich an die Erlösung von was?« (46)

Gleichzeitig mit den Irrfahrten seiner beiden Frauen entdeckt der Familienvater Helge seine Homosexualität in – ja, wo wohl? – in Venedig. Man ahnt es auch ohne Thomas Manns Novelle zu kennen (Der Tod in Venedig, 1912), der Ausreißer wird nicht zu seinem Besten enden, und dennoch anders als im Falle des todessehnsüchtigen Leistungsasketen Gustav von Aschenbach.



Sibylle Berg stellt diese und noch einige weitere Figuren unterschiedlichen Alters in die Mitte von Lebenskreuzungen mit jeder Menge Sackgassen und wir sehen ihnen dabei zu, wie sie halbbewusst den falschen Weg wählen. Was sie verbindet, ist die Neigung, ihrer jeweiligen Intuition, Sehnsucht und Laune zu folgen, zumeist gegen besseres Wissen, und damit treffsicher die falschen Entscheidungen zu treffen. Wie angezählte Wespen in einem geschlossenen Bierglas taumeln sie immer wieder nach unten, in die tiefe Orientierungslosigkeit ihres Selbst.
In ihnen steckt der Tod, wie der Titel bereits verrät. Er wartet, bis er zuschlagen kann. Die Angst vor dem drohenden Ende eines nichtausgeschöpften Lebens äußert sich in Gewaltexzessen, vorgestellten wie realen. Im Titel steht aber auch etwas vom Lachen. Und tatsächlich: In dem düsteren Roman steckt jede Menge Humor, schwarzer, derber wie subtiler. Der folgende Auszug, der beides illustriert, spielt sich in Bettinas Kopf während einer Vernissage ab, als sie sich von einer anderen Frau mit Blicken angefeindet fühlt:

»Sie hat wirklich extrem häßliche Fesseln. Ich schau die Fesseln an. Seh mich langsam zu Boden gehen. In die Fesseln beißen. Die Strumpfhose zerfetzen. Ihr Stücke davon in den Mund schieben, mit dem, was nicht in den Mund paßt, im Gesicht rumreiben. Die Schminke gut in die Haut einarbeiten. Ein paar Schritte zurückgehen, Anlauf nehmen. Mit einem Sprung mit meinen Schenkeln ihren Hals umspannen. Die Schenkel gut straffen, das Gesicht wird rot. Mit zwei Fingern lässig in die Nasenlöcher, die dann weiten. Beim Absteigen ihr teures Kleid zerlegen. Die Fetzen in ihren Gesäßfalten verstauen. Ein Lied anstimmen. Sie nackig nehmen, wie sie ist, wegen der Strumpfhose und der Schminke und sie zum Büfett ziehen. Drauf rumwälzen. Kleine Gurken in ihre Ohren pressen. Hühnerkeulen unter die Achseln. Die Arme dann runterdrücken wie Schwengel, zermalmen Hühnerbeine. Dann weggehen. Grußlos. Unten auf ihren PKW springen, Dellen rein. Tür eintreten. PKW anzünden.« (S. 59)



Immer wieder offenbart uns Sibylle Berg den Blick in solche tiefschwarzen Abgründe ihrer Figuren, die einem leidtun, über die man lacht, die einen anwidern, von denen man sich distanziert, die man zu kennen glaubt, denen man sich verwandt fühlt. Sie hat bereits in ihrem Erstling ihre eigene Sprache gefunden, den Berg-Sound, in Ermangelung einer anderen Kategorie nenne ich ihn hier mal expressionistische Gebrauchsprosa, kurzatmig, phantasievoll, kompromisslos unverblümt, mitleidslos und makaber, bis es weh tut. Die mal explizite, mal verfremdete Darstellung von Innenwelten, das experimentelle Spiel mit einer fragmentierten Syntax, die Überzeichnung und immer wieder das Groteske scheinen mir von der Prosa von Döblin, Grass und Jelinek inspiriert:

»Kalt wird es in der Wüste des Nachts, wenn da keiner lebt und alles zehn Stunden weit weg ist. Nichts können zwei Männer da machen als sich ein wenig Mut. Dass sie morgen loslaufen können, wenn es hell ist, durch die Hitze in der Wüste, den Sand und die Dornen. Und vielleicht anzukommen, wo einer lebt, bevor der Mensch stirbt, wenn er drei Tage kein Wasser bekommt. Einige Wüstentiere hatten ein paat Tage später viel Spaß dabei, die beiden Männer verblöden zu sehen, beim Verdursten.« (S. 180)

Was den Roman trotz seines für gewisse Menschen sicherlich schwer verdaulichen Inhalts zur kurzweiligen Lektüre macht, ist seine Gliederung in kleine Häppchen: kurze Kapitel sind jeweils einer Figur und deren Perspektive zugeordnet. Die Montage dieser zwei, drei Seiten langen Abschnitte, die den Leser zwingt, unregelmäßig alternierend die Welt aus verschiedenen Augen zu sehen und zu erleben, sorgt für Abwechslung und eine hohe Erzähldichte. Das Verfahren hat Tradition, berühmte Vorbilder sind Stadtromane wie Manhattan Transfer von John Dos Passos (1925) über das New York der Depression, Mrs Dalloway (1925) von Virgina Woolf über eine Handvoll Figuren in London oder Tauben im Gras von Wolfgang Koeppen (1951) über das zerbombte München an einem einzigen Februartag sowie Sansibar oder der letzte Grund von Alfred Andersch (1957).

Traurig, brutal, zynisch, geistreich, lustig. Ein sehr anregendes Buch.



Quellenangaben:
Berg, Sibylle: Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot. Reclam Taschenbuch Nr. 21577. Stuttgart 2008.
Erstausgabe 1997