Samstag, 27. April 2013

Le Ministre (L'Exercice de l'État) F 2011


Regie: Pierre Schoeller
Darsteller: Olivier Gourmet, Michel Blanc
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Ein Alligator hat keine Freunde

Ein Mann mit einem Gesicht wie ein Glas Wasser. Ihm fehle eine Geschichte und ein Profil, sagt ihm seine Beraterin. Ihre Tage sind gezählt, so viel ist schon mal klar. Aber erstmal aufsteigen, hochkommen, lavieren, taktieren, paktieren, beschwören, abschwören, einseifen, kaltstellen, hü und hott im Schweinsgalopp.

Es ist ein toller Film, ein kalter Film. Diese französische Variante des politischen Aufsteigers, seit Jahren ein sehr beliebtes Thema in Hollywood (siehe meine Rezension zu Casino Jack), nimmt sich die Freiheit, einem recht langweiligen Typen aus nächster Nähe dabei zuzusehen, wie man kaltblütig ist und dabei zusehends seelisch verkrüppelt, ohne dass man dafür gehasst werden kann. So richtig gehasst. Nein, leidtun mag er einem auch nicht, aber es ist dem Drehbuch zu verdanken, dass sich bei diesem Portrait eines Stehaufmännchens am Rande des Nervenzusammenbruchs die Aalglätte und die inneren Tumulte die Hand reichen. Im Pool wird eben geschwommen. Egal wie. Hut ab, wer hundert Meter Brust in 73 Sekunden schafft – und sei es nur der Dienstwagenfahrer mit den langen Haaren.

›Le Ministre‹ bewegt sich faszinierend nah an der Belanglosigkeit und dem Theater der alltäglichen politischen Bühne, gesehen durch das Kassengestell eines, der einfach nicht aufhört, weiter zu tun, was ihn treibt. Der unglaublich frech und aufdringlich sein kann, aber auch immer darum zu kämpfen bereit ist, den Durchblick zu haben und die Übersicht zu gewinnen. Und der eine sehr dicke Haut hat, der einstecken kann, austeilen, und der notfalls Knöpfe drückt, ohne mit der Wimper zu zucken. Ein Proteus. Vom Profi zum Privatmann und zurück zum Profi in wenigen Zehntelssekunden.

Politik ist auch nur ein Business, könnte man zynisch sagen, besser aber andersrum. In der Politik geht es zu wie in jedem Business. Leute wie Bertrand Saint-Jean (Oliver Gourmet) sollten vielleicht besser Waffenhändler werden statt Repräsentanten einer Demokratie. Abgründe! Untiefen! Schwachmatigkeiten! 

***

Ein repräsentativer Raum, eine nackte Frau (hübsch, jung), ein Alligator (alt, krass). Die Frau auf dem Boden, sie bewegt sich auf allen vieren lasziv dem Tier entgegen, das seinen Rachen aufsperrt – und kriecht hinein. – Gleich die erste Szene ist natürlich ein Knaller, auch visuell, obwohl sie später nicht wiederaufgenommen wird und damit als Fremdkörper in der Erzählung wahrgenommen werden könnte – ist sie aber nicht. Sie erzählt uns Folgendes: An der Schaltstelle der Macht kriechen Dir die Objekte Deiner Begierde frisch und frank ins Maul, Du brauchst bloß dazusein und den Rachen aufzusperren. Sei ein Reptil, ein Wechselblüter, XXL, zeig Zähne. Gebratene Tauben und so. Handlungsanweisung im Referenzbuch für Karrieristen.

Der Mann, der das geträumt hat, sitzt spätabends mal wieder im Fonds seines Dienstwagens und sieht auf seinem Smartphone seine Adressen durch. »Viertausend Kontakte und kein einziger Freund«, klagt er selbstmitleidig, zu seiner Frau scheint es ihn nicht gerade zu ziehen (er sieht sie so selten wie eine Geliebte). Wir könnten ihm mit dem Kammerherren Marinelli antworten, dem Prinzenberater aus Lessings ›Emilia Galotti‹ (1772), der ein Zitat seines um Freundschaft bettelnden Herren kommentiert: »›Fürsten haben keinen Freund! können keinen Freund haben!‹ – Und die Ursache, wenn dem so ist? – Weil sie keinen haben wollen. – Heute beehren sie uns mit ihrem Vertrauen, teilen uns ihre geheimsten Wünsche mit, schließen uns ihre ganze Seele auf: und morgen sind wir ihnen so fremd, als hätten sie nie ein Wort mit uns gewechselt.« Anders als der wortgewandte Intrigant Marinelli nimmt hier der großartige Michel Blanc in der Rolle des Sekretärs und Befehlsempfängers die Launen und Willfährigkeiten seines Vorgesetzten würdevoll, mit wissendem Blick und meist schweigend hin. Was sich dabei in seinem Kopf abspielt, behält er für sich, was seine Figur umso interessanter macht.


Der sich so einsam fühlende Alligator verbringt den Abend kurzerhand mit seinem Fahrer, in dessen Wohnwagen und mit dessen Frau. Denn das danebenstehende Haus befindet sich im Rohbau, das Geld fehlt. Frankreich steckt in einer wirtschaftlichen Krise. Der langhaarige Fahrer – Sylvain Deblé  gleicht einer Reinkarnation des stummen Indianers aus Milos Forman's unvergesslichen ›One Flew Over The Cuckoo's Nest‹ in klein– hat ja keine Wahl, zumal er dankbar sein muss: seine Stelle verdankt er einem Programm von Saint-Jeans Partei, Langzeitarbeitslosen bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu helfen, indem man ihnen befristete Stellen im Dienststellenbereich anbietet. Natürlich keine ganz selbstlose Idee, es macht sich gut, so ein Programm. Seht her. Saint-Jean. Heiliger Hans. Heiliger Bimbam. Der Name des Protagonisten passt wunderbar (so wie der des Schauspielers Oliver Gourmet zur Alligatorenszene – aber das ist wohl Zufall). 

Entsprechend stumm und demütig sitzt also der Angestellte nun am eigenen Esstisch und hört seinem temporären Arbeitsgeber und der eigenen Frau zu, die sich diametral entgegengesetzt verhält und dem Ruf, der sardischen Frauen vorauszueilen scheint, gerecht wird. Eine klasse Szene. Die furchtlose Frau nimmt kein Blatt vor den Mund und behandelt den Minister wie jeden anderen Dahergelaufenen, schimpft über die Politikerkaste und versucht nicht zu gefallen. Und Saint-Jean? Macht mit. Ganz cool. Unbeeindruckt. Elegant, furchtlos. Das kann er, das ist sein Spiel. Immer dagegenhalten, nur nicht schweigen, jedenfalls nicht in solchen Momenten, nichts stehen lassen, was das Gegenüber sagt. Immer das letzte Wort. Im Grunde flirtet er bloß mit dieser attraktiven Sardin. Was sie sagt, hört er nicht. Die Argumente sind bereits vorgefertigt, die Worte schon in der Pipeline. Und sie weiß das. Und es macht sie zusehends wütend.

Dann hat der taffe Politiker im Eifer des Gefechts doch etwas viel getrunken und beginnt, aus schlechtem Gewissen? – die Betonmischmaschine anzuwerfen, mitten in der Nacht, mit bloßem Oberkörper und schwerer Schlagseite. Grandios. Gelebte Solidarität über die Klassengrenzen, soll dieses Bild wohl heißen. Fraternité!  Schade, sind keine Kameras da. Wobei: so heroisch sieht das auch nicht aus. Oder kommt das tatsächlich von Herzen? Hier zeigt sich wieder die angesprochene Stärke der Figurzeichnung: Man traut diesem Saint-Jean zu, dass er tatsächlich ab und zu der ideale Mann fürs Volk sein will. 


***

Der Film hat eine ganze Reihe weiterer sehr starker Szenen, beispielsweise soll Saint-Jean eine angekündigte Rede vor unzufriedenen Arbeitern halten, gerade wurde ihm aber eine erschütternde Nachricht übermittelt. Jemand ist ihm mal wieder in den Rücken. Alltag. Nicht alles liegt ja in seinen Händen, es gibt genügend Leute, die über ihm stehen, die über Dinge entscheiden, ohne ihn vorher zu fragen. Dinge, die dann seine öffentliche Glaubwürdigkeit von einem Moment auf den anderen pulverisieren. Auch das ist Ohnmacht, nicht nur ein Haus, dessen Fertigbau man nicht finanzieren kann, nicht nur die Sorgen der kleinen Leute, nein, er kriegt regelmäßig sein Fett weg und wird zum Gespött. Der Wind ist rauh, es gilt catch-as-catch-can.

So. Da steht er nun. Vor ihm die Arbeiterschaft, ein Haufen missgelaunter Gesichter, skeptisch, argwöhnisch, zum Proteststurm bereit. Diegetischer Ton weg. Stille an. Der Mund bewegt sich, sagt irgendwas. Muss ja. Aber die Stille sagt was anderes. Und er ganz alleine, wie ein Dirigent, aber mit meuterndem Orchester, wenig glamourös. Oh Gott, man möchte nicht in seiner Haut stecken. Das erzählt uns diese Stelle. Und: Wie muss man werden, wenn man so etwas durchsteht, andauernd durchstehen muss? 

Das ist eben Schauspiel. Auftritt. Augen zu und durch. Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Darüber hat schon Heinrich von Kleist vor über zweihundert Jahren was Lesenswertes geschrieben. Funktioniert. Muss nur genug Adrenalin. Aber das ist das geringste Problem bei einem Saint-Jean. 

Und jetzt: höher! Und: Friss oder stirb!



Angaben: Emilia Galotti,Suhrkamp BasisBibliothek 44, FfM 2004, S. 21 (Akt 1, Auftritt 6)

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