Alles ist ein erstes Mal
Eine
inspirierende Bühnenfassung an einem Aprilabend 2013 veranlasste mich, den Roman
drei Jahre nach seinem Erscheinen aus dem Regal zu holen, wo er nach einem
ersten erfolglosen Anlauf gelandet war, und innert eines Tages zu lesen. Zwei
Jungs der Bühne ›Junges Theater Basel‹ hatten mich im Verbund mit an die
hundert Autoreifen auf einer ansonsten leeren Bühne derart gut unterhalten und
neugierig gemacht, dass ich die Vorlage an der Umsetzung messen wollte.
Zwei
Vierzehnjährige wagen die große Flatter und riechen den Duft der Freiheit, wie
er nur beim ersten Mal riechen kann. Dinge, die mit den Eltern jeglichen
Erlebnischarakters entbehren, werden zur sinnlichen Erfahrung und gewinnen an
Tiefe und Bedeutung. Autofahren ohne Erwachsene, die offene Landschaft, die
sich vor ihnen ausbreitet, der Arm ausm Fenster bei voller Fahrt, die Sterne
über dem Himmel, das Grillengezirpe, die selber gepflückten Brombeeren. Das
alles war immer schon da, aber irgendwie auch nicht oder nur in schwarzweiß
oder 2D. Jetzt knallt es und lebt, jetzt ist es ausschließlich für sie da – es ist gerade so, als würde
man Zeuge davon, wie Blinde sehen lernen.
Bevor
es losgeht und bevor alles anders werden kann, werden erstmal die Ausgangslage
und der Alltag beschrieben, damit die Differenz danach erst richtig fühlbar
wird. Wie in etlichen anderen Romanen rund um Adoleszenz und Schule geht es
auch hier um das Überleben in einem Kampf jeder-gegen-jeden
zwischen Gleichaltrigen, Lehrern und Eltern. Der Protagonist sieht sich als
Wesen, das von zwei einander bekriegenden Menschen in die Welt geworfen wurde,
die seit jeher mit sich selbst beschäftigt scheinen, und er selbst ist derart
der Bedeutungslosigkeit preisgegeben, dass es nicht mal zu einem Spitznamen
reicht und er selbst bei Höchstleistungen keinerlei Aufmerksamkeit erhält, weil
– ja weil der Coolnessfaktor einfach nicht stimmt. Andere brauchen bloß zu sein, schon sind sie in aller Munde. Er
aber ist die Luft, durch die man durchsieht.
Die
Frustration angesichts der so undurchsichtigen wie nicht zu beeinflussenden
Verteilung von Sichtbarkeit und Sexiness in den Augen der Mitmenschen hält sich
dabei in Grenzen, sie wird so schafsmäßig hingenommen wie der Umstand, dass es
nachts dunkel wird. Aufregung hilft nicht weiter. Das Leben ein graues Band vor
ihm. Immerhin gibt es eine Oase in der Wüste, und sie hat einen weiblichen
Vornamen. Tatjana ist die Fotowand, die seinen inneren Sehnsuchtsraum belebt,
dabei eine Frau ohne Eigenschaften, wie später Tschick formulieren wird. Also
eine schiere Projektionsfigur, ähnlich wie Emil Sinclairs Beatrice aus Hesses Demian. Sie sonnt sich darin, von allen
heiß begehrt zu werden, und darin erschöpft sich auch ihr Sein. Das wäre ein
Grund, sie gründlich zu ignorieren, doch natürlich ist es genau umgekehrt: Je
hohler das Idol, desto besser lässt es sich beleuchten, je fader, desto Projektion.
Um
so besser, tritt Tschick in sein Leben. Ein Glücksfall. Tschick ist der Asi mit
den Mongolenaugen, der Außenseiter, der sich in der Not zum Maß aller Dinge
macht. Flucht nach vorn. Weil der zugewanderte nobody nicht zu verlieren hat,
ist er davon befreit, es irgendwem recht machen zu müssen, da das nichts an
seinem Verliererstatus ändern würde, im Gegenteil. Also klaut er am zweiten Tag
der Sommerferien einen Lada, holt den traurigen, unerhörten Tatjana-Fan zuhause
ab und zwingt ihn zu seinem – zu beider– Glück.
Weg,
weg, abhau’n, weg! So lautet die Parole, und weil der Führerschein noch
mindestens vier Jahre entfernt ist, geht es über Feldwege und wenig
frequentierte Nebenstraßen vage Richtung Süden, wobei schon bald der Zufall bei
den Kreuzungen entscheidet, in welche Richtung es weitergeht. Im Grunde ist das
nämlich egal, solange das Hier-und-Jetzt so aufregend ist.
Sagte
ich aufregend? Na ja, aufregend für die beiden Jungs, die Stationen lauten
Supermarkt, Tankstelle, Müllhalde, Krankenhaus. Bei der Müllhalde begegnet
ihnen ein Mädchen namens Isa, das eine Zeitlang mitfährt – lange genug, dass
sie Tatjana unwichtig werden lässt. So schnell kann das gehen. Vor allem aber
geht es darum, wie die Beteiligten sich die Welt, ihr Selbstverständnis und
ihre Beziehung zueinander erreden, das was sie füreinander sind. Nix metaebene,
alles noch indirekt, aber dennoch mittenrein ins Herz.
Jedes
Gespräch wird vom Schein der Oberflächlichkeit begleitet, der Jargon ist betont
cool und derb, und doch geht es immer ums Ganze. Wer bin ich? Was ist mir die
Welt? was bist du mir? Gesprächsfetzen werden tiefer empfunden als der
Andreasgraben. In jedem Witz verbirgt sich eine potenzielle Selbstoffenbarung.
Alles ist ein erstes Mal.
Hier
erobern sich zwei Lausbuben die Welt ganz alleine für sich und man sieht und
hört ihnen gerne dabei zu, denn zum einen ergänzen sie sich sehr gut, der
Dreiste mit Geheimnis und der Brave mit den Selbstzweifeln. Zum andern gibt man
sich gerne dem frischen Erzählerjargon hin, der den pubertären
Weltbeschreibungen und Selbstbildern und vor allem den knackigen Dialogen den
nötigen Witz verleiht. Nach ca. 150 Seiten allerdings erschöpft sich die
Wirkung etwas und es ist gut, dass der Roman nach der Heimkehr und als
Abschluss noch einen Knaller zu bieten hat, der nachhallt.
Was
bleibt, ist das Gefühl, gut unterhalten worden zu sein und eine Reise in die
eigene Jugend unternommen zu haben. Nicht jeder hat mit 14 eine Spritztour
gemacht, doch manchem ist so ein Tschick durch die Biografie gelaufen, der
einem mit seinem Geradeaussein die Brille geraderückt und die eigene Höhle
aufhellt. Die Form bestimmt den Inhalt. Was in der eigenen Jugend als durchaus
düster und dramatisch erlebt wurde, wird hier dank der komödiantischen
Grundhelligkeit in ein milderes Licht getaucht. Dem Roman aber seine
dramatischen Seiten abgewinnen zu wollen, würde bedeuten, seine Form zu
ignorieren und ihm seine Stärke zu rauben. Hernsdorf ist kein Wedekind, auch
wenn er teilweise die identischen Themen behandelt.
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