Der heilige Hermaphrodit
oder die Unmöglichkeit des Glücks
Wo
Sibylle Berg hinschreibt, da wächst kein Gras mehr. Und trotzdem bringt sie
einen mit ihrem anarchistischen Antibildungsroman zum Lachen, immer wieder, und
entwickelt mächtig Zug. Chapeau.
Eine Passionsgeschichte.
Toto der Gute. Toto der Dulder. Der Jesus aus dem Osten. Singender Heiliger.
Toto mit dem absoluten Gehör. Aus der Norm gefallener Toto. Und: Toto der schwule
Zwitter, der beide Geschlechter in sich vereint. Wie der Kugelmensch aus
Platons Symposion.
Toto
heißt ›alles‹, doch der Welt ist er ein »Nichts« (14). Das kann man durchaus
als allegorischen Gegensatz fürs Menschsein an sich verstehen. Muss nicht.
Kann. Schön, weil treffend, denn für jede und jeden von uns gilt: wir sind uns selbst
alles, wir sind uns die Welt, ohne ›ich‹ keine Welt. Doch wir verschwinden in
ihr. Sind nichts angesichts des bereits Bestehenden, Vergangenen, Zukünftigen.
Sind Nichts. Wir sind Toto.
Wieso
Passionsgeschichte? Toto verkörpert das Prinzip friedfertiger Empathie, einfach
ohne metaphysischen doppelten Boden: Schlag mich, ich schlage nicht zurück.
Mich schmerzt nicht der Schlag, mich schmerzt nur dein Zorn, deine Trauer,
deine Ohnmacht. In was für eine Welt bist du geboren worden, was hat sie mit
dir gemacht, dass du so geworden bist? Mich kannst du ja nicht meinen, denn wer
bin ich schon. Lass mich dir helfen.
Was für
ein Missverständnis. Die Missgunst, die ihm seit seiner Geburt von praktisch
allen Menschen entgegenschlägt, erklärt sich Toto damit, dass sie ihre
Sterblichkeit ratlos und verbittert macht. Dass Menschen an sich böse sein
können, böswillig aus freien Stücken und nicht als Folge eigener Lebensdramen,
kann oder will er sich nicht vorstellen. Dem Bösen gegenüber ist er immun – und
damit ausgeliefert. Kommt man so durch die Welt? Geht so. Sibylle Berg
verurteilt Toto dazu, in einer Kinderhölle geboren zu werden, im traurigen
Osten Deutschlands. Los geht’s.
***
DDR in
den sechziger Jahren, nicht gerade eine Hochburg von Pluralismus und Toleranz. Toto
wird als Zwitter geboren, aber die Frau auf dem Amt hat nur zwei Schubladen zur
Verfügung und keinen Sinn für Feinheiten. Wo kämen wir denn da hin. Toto wird
zum Jungen deklariert. Brandstempel männlich. Wie beim Vieh. Der Mutter ist das
einerlei. Die verwahrloste, partnerbefreite Alkoholikerin – guter Durchschnitt,
›normal‹ – war bereits ohne ihn vom Leben überfordert.
»Sie verachtete das Kind, weil es bei ihr war, an dem Ort, den sie so hasste. Je zufriedener das Baby wirkte, desto mehr knuffte sie es in die Seiten, um es ihm unbehaglich zu machen, um es zur Abreise zu bewegen, mit seinen albernen Windeln unterm Arm, mit seinem merkwürdigen Leib, seiner Andersartigkeit, Unverwundbarkeit und Reinheit. Sie war doch so verletzt, von der großen Enttäuschung, die ihr die da draußen bereitet hatten.« (28)
Toto
landet im Heim. Vom Regen in die Traufe. Wer nicht der Norm entspricht,
wird entweder zur Norm gebogen oder ausgegrenzt. Von Staats wegen. Vertreten
durch Frau Hagen. »Schreien war ihr angeboren. […] Frau Hagen fühlte sich im
Recht. Damit beginnt jedes Elend der Welt.« (34f.) Die Kuscheltiere müssen beim
Einzug abgegeben werden, weil sie den Gemeinschaftssinn stören könnten,
Linkshändern wird die ›schlechte‹ Hand verboten. Zum Beispiel. Wer gar zwischen
den Beinen anders ausgestattet ist als der Rest des traurigen Haufens, hat
verloren. Nettigkeit und Genügsamkeit hilft nicht, im Gegenteil, sie macht Toto
eher verdächtig. Wem er im täglichen Überlebenskampf zur Hilfe eilen will,
flieht vor der »Schwuchtel« (70). Was war nur an ihm? Arglos wie das Monster in
Mary Shelleys ›Frankenstein‹ (1813) erlebt Toto den Abscheu der Welt vor seinem
Äußeren, ohne ihn zu verstehen.
***
Das wird
in der Schule nicht besser, zum Beispiel auf dem Amboss des ehemaligen Stahl-
und Walzwerkers, der Kinder hasst und sich nur der vielen Ferien wegen zum
Erdkundelehrer umschulen ließ. Formen tut er nach wie vor, nur das Material ist
weicher geworden, ein vernachlässigbarer Umstand. Mit Fußtritten und pädagogisch
vorbildhaftem Hass auf Aus-der-Art-Gefallene, ›Volkskörper‹fremde lässt er all
seinen Hass an dem ›grinsenden fetten Riesen‹ aus, der unter der Schulbank
heimlich Bücher liest. Toto – inzwischen 16 Jahre alt und 1.80 groß – versteht auch
das als Ausdruck einer grundsätzlichen Traurigkeit, die nichts mit seiner Person
zu tun hat. Sein grundsätzlicher anthropologischer Skeptizismus hindert ihn
daran, für sich einzustehen.
Inzwischen
wurde er an Pflegeeltern verschachert, die im Grunde selber Pflegeeltern
bräuchten – »ein Paradebeispiel für misslungenes Hassmanagement« (92f.) – und
ihn als Stallknecht missbrauchen. Hier offenbart sich ein Wunder. Ausgerechnet
in Trötdorf (!), einem von allen Göttern verlassenen Unort, erfährt der Roman
eine erste Wendung: Toto entdeckt den Gesang, seine Musikalität – und empfindet
Glück. Eine Referenz an Oskar Matzerath (Die
Blechtrommel, 1959, von Günter Grass) oder Elias Alder aus Schlafes Bruder (Peter Schneider, 1995)?
Oskar zersang Kirchenfenster und Brillengläser und schaffte es damit in den
Zirkus, Elias sang sich in die Herzen der versammelten Dorfdeppen des
Voralbergs – Toto singt für freundliche, ideologiefreie Kühe. Großartig.
Gesang
entdeckt, Schule fertig, ab in den Westen. Toto hat nun ein Ziel – und einen Grund,
sein Leben in die Hand zu nehmen und eine Veränderung herbeizuführen: Dank der
Fluchthilfe einer revolutionären Zelle, die in der DDR das bessere Deutschland
sucht (eine sehr lustige Abrechnung mit Last-exit-Hippies, der traurigen Sorte)
– landet er über Umwege in Hamburg.
***
Toto
selbst ist zwar der unangefochtene Protagonist des Romans, wird von der
Erzählerin aber vor allem als Perspektivfigur eingesetzt, beansprucht kaum
Innerlichkeit und Selbstreflexion. So denkt er weder viel über seine
Zwitternatur nach noch über seine auffällige äußere Erscheinung. Das wird von
der Erzählerin damit begründet, dass er eben keiner sei, der viel über sich
nachdenke. Umso mehr Raum bleibt für seinen vermeintlich objektiven Blick auf die
Welt. Er vermittelt ein desaströses Bild des Landes, über alle Dekaden, Klassen
und Gruppierungen hinweg.
Mit dem
Blick des Fremden, des Außenseiters – wie ein vom Himmel gefallenes Alien –
wundert er sich über die Hässlichkeit der Städte und die Lebensformen der
Menschen. Er stellt fest, dass auch im Schlaraffenland des Kapitalismus
Schönheit und Glück kaum vorzufinden sind, dass die Personen, denen er
begegnet, einsam und unglücklich sind, egal ob sie Punks, Imbissbudenbetreiber,
Musiklehrer oder Revolutionäre sind. Seine relative Unvoreingenommenheit
verstärken die drastische und komische Wirkung seiner Beobachtungen – ähnlich
wie Oskar Matzerath oder der Affe Rotpeter aus Kafkas ›Bericht
für eine Akademie‹.
Der parabelhafte,
verfremdende Eindruck, der durch dieses Figurenkonzept entsteht, wird durch die
Figur des Kasimir verstärkt. Kasimir ist so etwas wie die zweite Hauptfigur,
jedenfalls Totos Gegenspieler. Sie lernten sich im Heim kennen, Toto buhlte um
seine Freundschaft, sie schliefen eine Nacht im gleichen Bett, Totos schönste
Erinnerung an die Kindheit. Danach ließ Kasimir ihn fallen.
Sieht man
Toto als prototypischen Verweigerer der Leistungsgesellschaft – nur nichts
wollen – verkörpert Kasimir sein Gegenteil, ein Macher und ein Karrierist mit
Anleihen bei American
Psycho. Er möchte seine Vergangenheit weit hinter sich lassen und drängt
mit viel Hass und Verve in eine Zukunft von Macht und Geld. Als Hedgefund-Manager
repräsentiert er eine Schicht, die sich von der Erzählerin den Vorwurf gefallen
lassen muss, die Gier verinnerlicht zu haben und die Welt rücksichtslos in eine
Katastrophe zu führen.
Der
elitäre Ästhet Kasimir, der an der Hässlichkeit leidet, ist nicht nur krankhaft
misogyn veranlagt, sondern auch voll Verachtung für Menschen, die naiv durchs
Leben gehen – wie Toto, der ihm seit der gemeinsam im Heim verbrachten Kindheit
ein Dorn im Auge ist, wohl weil er damit ein früher Zeuge seiner
Verletzlichkeit und Verlorenheit ist. Er schwört sich, Toto eines Tages eines
besseren zu belehren und ihm zu beweisen, dass das Böse im Menschen überwiegt,
dass kein Mensch ungestraft naiv durchs Leben geht. Vergleichbar mit
Mephistopheles, der im ›Prolog im Himmel‹ des Faust I. prophezeit, den Streber nach Erkenntnis vom Weg
abzubringen. In Hamburg begegnen sich die beiden erstmals wieder – ohne sich zu
erkennen – und der Satan Kasimir? – verliebt
sich in den singenden Kloß und dessen Stimme, die ihn zum Weinen bringt.
***
›Und
weiter‹ … wie es lakonisch und immer wieder als Kapitelüberschrift heißt.
Weiter in dieser apokalyptischen Parabel, dieser fulminanten und grotesken
Odyssee durch mehrere Dekaden und Länder. Der letzte Teil mündet in eine Dystopie,
die vergleichbar mit Juli Zehs Corpus
Delicti an Tendenzen der unmittelbaren Gegenwart anknüpft. Staaten werden
nur noch von Frauen gelenkt, und Europa ist auf den Stand heutiger
Entwicklungsländer herabgesunken, besucht von neugierigen asiatischen
Touristen, die die europäischen Elendsviertel als fotografische Kuriosität
festhalten. Verkehrte Welt.
›Der Mann
schläft‹, Bergs letzter Roman, wurde von ihr als eine verhältnismäßig
optimistisch auf das Leben blickende Geschichte bezeichnet. Die Protagonistin
verliebte sich in einen Mann und nahm ihn bedingungslos in ihr Leben auf. Er
verschwand dann zwar wieder. Egal. Ein schöner Roman. Über den ich auch mal schreiben
sollte. Aber positiv? optimistisch? fröhlich ins Leben glotzend? nein, das
nicht.
Im
Vergleich dazu ist ›Vielen Dank für das Leben‹ wieder eine volle Breitseite
ohne jeden Hoffnungsschimmer, aber so was von begeisternd. Nichts für zarte
Gemüter vielleicht. Dennoch spreche ich hier meine unbedingte Empfehlung aus.
Angaben:
Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben.
München, Hanser 2012. 400 Seiten.
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