Endlich. Endlich mal wieder ein richtig guter Berlin-Roman. Ein Roman reich an Geschichten und Gefühl, mit ganz
viel Osten drin, voller Wehmut, voller Liebe, voller Abschied, Aufbruch und
Hoffnung, voller Scheitern. Schön, berührend, klug.
Das späte Debüt der 50-jährigen Russin birgt
Stoff aus mehreren Gattungen: Immigrantenroman, Generationenroman, Stadtroman, Entwicklungsroman,
politischer Roman, sozialgeschichtlicher Roman. Und je länger er fortschreitet,
desto mehr erzählt er auch die Geschichte einer Annäherung zweier Menschen, die
sich erst kennenlernen, als der eine von beiden bereits ein ganzes Leben hinter
sich hat.
From Russia with love und direkt in den Osten – Döblin läßt grüßen
Ein Großteil der Handlung kreist rund um den
Alexanderplatz, dem zugigen Zentrum der ehemaligen DDR-Hauptstadt. Dort, wo in
Berlin die verschiedenen Welten und Ideologien der letzten 100 Jahre am
heftigsten kollidieren, wo West und Ost, bunt und grau, schrill und still
aufeinanderknallen und in einer arrangierten Ehe koexistieren. Da wächst nicht zusammen,
was nicht zusammengehört. »Zwei Hemisphären? Vielleicht.« (S. 9) Gleich daneben
die ruhige Rosa-Luxemburg-Straße mit dem »grauen Tempel« (196) der wuchtigen
Volksbühne, die »wie ein Panzerschiff ins Dunkel [ragt]« (246). Und auf der anderen Seite, jenseits des
Fernsehturms, die große brachliegende Fläche an der Spree, wo irgendwann wieder
ein Schloss stehen soll, dessen Ruine vor bald 60 Jahren gesprengt wurde.
***
Und warum ausgerechnet der Alexanderplatz? Weil dort
Lena wohnt.
Lena ist 43, Altenpflegerin und steckt gerade in einer
Krise. Das ist nicht das Leben, das sie sich in ihrer Jugend vorgestellt hatte,
als sie sich in Südrussland und später in Leningrad eine Zukunft im Westen ausmalte.
Alle träumten vom Westen, jedenfalls alle ihrer Generation. Im Westen schien
alles möglich, was im Kommunismus undenkbar war. Also nichts wie hin. Die Perestroika
und der Mauerfall kamen zur rechten Zeit, die Abnabelung von der
Elterngeneration fiel nicht schwer. Im Grunde hatte man immer im Gefühl gelebt,
in einem anachronistischen Land zu leben und ärgerte sich über die Großmutter,
die einen mit ihrem dauernden Kopftuch ständig vor Augen führte, wie nah man
doch an Asien war – und wie weit entfernt vom Paradies.
»Da waren die Männer großzügig und stark, die Frauen feminin und graziös, wie Schmetterlinge. Während meine Oma mit ihrer plumpen, selbst genähten, flauschigen Flanellwäsche eher einer Raupe ähnelte.« (S. 76)
Asien galt es auf
Abstand zu halten – das begann im Kopf irgendwo in der Mongolei, aber doch
nicht in Russland.
***
In ihrer Unruhe und wenn es ihr zu einsam wird,
streunt Lena durch die Straßen rund um den Alex.
»Ich setze die neue bunte Mütze auf und gehe raus, in die Stadt, die mir immer Zuflucht vor Kummer und Spleens bietet. Sie ist für mich das, was für die Romantiker Gebirge oder Wälder waren. Die Häuser sind meine Felsen, die Menschen eigenartige Bäume, die Straßen eigensinnige Flüsse.« (80f.)
Mit neugierigen Augen und mit
soziologischem Interesse registriert sie jede Veränderung. Die Stadt lebt. Sie
pulsiert und verändert sich im Schweinsgalopp, ganz wie zu Döblins Zeiten. An
dessen großen Berlin-Roman finden sich gleich eine ganze Reihe von Referenzen. Eine ist das Haus am
Alex, an dessen Fassade bis vor wenigen Jahren noch Auszüge des Romans zu lesen waren. Lena fällt ein, dass der Mann, der diese Idee dazu hatte, einst in dem Wohnzimmer ihrer Kindheit stand und von den Anwesenden verlacht wurde. Umso größer ihr Entsetzen darüber, dass diese schöne Idee eines Tages abmontiert wird.
»Ich lasse den lauten und lichten Alexanderplatz zu meiner Linken und bleibe verwirrt an der großen Kreuzung stehen: Fast alle mannshohen Buchstaben sind von der Gebäudefassade abmontiert, plötzlich, über Nacht. Der Anfang des Döblin-Zitats ist weg, und das Ende auch. Nur eine Zeile hängt hilflos in der Mitte: igung von Damenkonfektion, Mehl und Mühlenfabrikate, Autogarage, Feuersozietät. Wiedersehen auf dem Alex … Da fällt mir ein, dass auch die tadschikische Teestube inzwischen nicht mehr da ist, dass der Laden von Larissa fast weggeräumt ist, dass die Plattenbauten in der Linienstraße saniert und ihre Fassaden mit einem heiteren und zeitgemäßen Make-up versehen werden. Während ich den belanglosen, kupierten Text an dem Haus anstarre, kommt es mir vor, als würden die Wörter unaufhaltsam und immer weiter vor meinen Augen schwinden, als ob ich einem sachten Erdrutsch von der Gegenwart in die Vergangenheit beiwohnen würde. Aber schon an der nächsten Ecke, zu Beginn der Torstraße, wächst etwas nach – das Eckhaus, das neulich mit Gerüsten umhüllt war, ist als Soho Club neu geboren. An der Ecke schwärmen Taxis, vor dem Eingang kreiseln Menschen mit Sektgläsern.« (242 f.)
Hälfte des Lebens: gelandet, nicht angekommen
Anderthalb Jahrzehnte lebt Lena nun schon im Gelobten
Land – und wird von ihrer 18-jährigen Tochter Marina bemitleidet: Die großen
Träume sind Träume geblieben und mit 43 habe sie ja schon alles Aufregende
hinter sich. Nicht mal schwimmen könne sie. Die kecke Tochter verbindet kaum
noch etwas mit Russland, die Ikonen an ihren Zimmerwänden sind bloß Koketterie.
Sie besucht das Gymnasium, träumt von einem Aufenthalt in den USA und
betrachtet die Schwierigkeiten ihrer Eltern, Fuß zu fassen, schwankend zwischen
Ungeduld und fast schon mütterlicher Nachsicht. Verkehrte Rollen, vermutlich
kein Sonderfall bei Immigrantenfamilien.
Lenas Exmann Schura wirft ihr Resignation vor. Ob sie Englisch
studiert habe, um alten Deutschen den Hintern zu putzen? Aus ihm spricht Verzweiflung
über das eigene Los. Aus dem einst verwegenen Intellektuellen mit Visionen ist ein
Franz Bieberkopf geworden, der seit ihrer Einreise notorisch an irgendeinem
gaaanz großen Geschäft dran ist, das sich dann regelmäßig als Rohrkrepierer
entpuppt.
***
Lenas Immigrantinnenstolz darüber, dass die eigene
Tochter Abitur macht – während der Sohn ihrer deutschen Chefin bei Netto an der Kasse sitzt –, kann die
klaffende Lücke nicht schließen, die spätestens jetzt, da Marina flügge ist,
offenbar wird. Sie leidet sozusagen an demselben Problem wie die Stadt, in der
sie lebt: In ihrer Mitte ist eine Leere, da ist es zugig und unwirtlich.
Sie registriert an sich eine Art integrativen Regress.
Als ob es bereits zu spät wäre für eine wirkliche Ankunft, zieht es sie immer
mehr in das kleine Geschäft ihrer Freundin Larissa, ein Treffpunkt russischer Lebensart:
»Am Anfang nimmt sich jeder Ausgewanderte vor, so schnell wie möglich deutsch zu werden, zu wirken, zu ticken. Ein mit tückischen Stolpersteinen übersäter Weg: Der deutsche Humor ist unverständlich, die deutschen Heringe sind ungenießbar und die hiesigen Sitten und Feste undurchschaubar. […] Das, was ich früher als aufgeklärter Mensch westlicher Prägung mied, bringt mir neuerdings viel unerwartete Freude: die alkoholhaltigen Cocktails, deren Farben an die Versuche eines wahnsinnigen Alchemisten erinnern; nahrhafte, von Mayonnaise überflutete Salate; die polyphonen Gespräche, wo keiner dem anderen zuhört. In seiner Rede unterbrochen, folgt man nicht dem Gedanken seines Gegenübers, sondern lauert auf eine Gelegenheit, seine Partie fortsetzen zu können. « (235f.)
Außerdem macht sie sich neuerdings Sorgen über ihre
alte Mutter, zu der sie zum eigenen Erschrecken immer mehr Parallelen an sich
entdeckt. Die Frage, der sie sich stellen muss, und die sich wohl manchen
stellt, die im Spannungsbereich verschiedener Kulturen leben, lautet: Wie soll
es weitergehen, wenn man hinter sich alle Brücken abgebrochen hat? Wie sah das
Land jenseits der abgebrannten Brücken eigentlich aus und wieviel hat es mit meinem
heutigen Ich zu tun? Die Anzeichen mehren sich, dass sich Lena mit ihrer
Herkunft und ihren Lebenslügen auseinandersetzen muss. »›Den Schatten hab ich,
der mir angeboren, Ich habe meinen Schatten nie verloren‹«, lautet eines der
beiden Motti des Romans (es stammt aus Chamissos Schlemihl-Roman). Ein anderes,
von Dante: »Auf halbem Weg des Menschenlebens fand ich mich in einen finsteren
Wald verschlagen« (229).
Lena und Ulf
Das Zitat hat sie von Ulf Seitz einem ihr zugewiesener
Pflegefall. Mit seinem Ordnungssinn ist der alteingesessene Berliner das
fleischgewordene Klischee sämtlicher Russen von einem Deutschen. Das macht ihn
Lena sofort sympathisch, außerdem steht in seiner Küche ein intakter ZIL MOSKWA,
das gleiche Kühlschrankmodell, das sie in ihrer Kindheit hatten. Mystik des Gebrauchsgegenstände
und ihre verbindende Kraft.
Und dann – fast zu passend, um wahr zu sein: Auf
seinem Nachttisch liegt ein zerlesenes Exemplar von ›Berlin Alexanderplatz‹, aus
dem er immer wieder liest, »weil der Papierziegel das Universum in sich birgt,
in das auch der kleine Ulf dann hineingeboren werden wird.« (S. 40) Das mit dem
Universum gilt umso mehr, als sein Vater Konrad Seitz in Döblins Roman selbst
vorkommt, und zwar…
»[…] als jener Mann, der mitten auf dem Rosenthaler Platz mit zwei gelben Paketen von der Linie 41 abspringt: … eine leere Autodroschke rutscht noch grade an ihm vorbei, der Schupo sieht ihm nach, ein Straßenbahnkontrolleur taucht auf, Schupo und Kontrolleur geben sich die Hand: Der hat aber mal Schwein gehabt mit seine Pakete. Als Konrad Seitz das Buch las, erkannte er sich in der Figur wegen der zwei gelben Pakete wieder, mit denen er tatsächlich einmal von der 41 abgesprungen und beinahe unter eine Droschke geraten war. Der Vorfall hatte sich sieben Jahre vor Ulfs Geburt ereignet.« (S. 41)
Schon immer hörte Lena den alten Menschen, die sie
beruflich betreut, gerne zu. Und es macht sie traurig, dass die Geschichten,
die sie erzählen mit den Sterbenden verschwinden – und mit ihnen ganze Welten; wie
sie überhaupt ein Herz und einen Blick für Menschen am Rande der Gesellschaft
hat, für soziales Elend und das Prekariat, wovon es in Berlin mehr als genug
gibt.
Im diesem Fall aber entwickelt sich aus einem
Pflegeverhältnis trotz der 35 Jahre Altersunterschied eine genuine Freundschaft
zwischen der nach Orientierung suchenden Zugewanderten und dem einsamen
alteingesessenen Berliner – mit nicht unproblematischen Nebenerscheinungen. Die
beiden verbinden nicht nur ein Interesse an der Stadt, sondern auch ein
melancholischer Hang zu Gewesenem und vergleichbare Schwierigkeiten im Umgang
mit der eigenen Vergangenheit.
So entwickelt sich der Historiker und ehemalige
Journalist zusehends zur zweiten Hauptfigur und seine Erzählungen bereichern den
Roman um eine wichtige weitere Ebene. Denn durch die authentische Exemplarität
seiner Vita bekommt das Bild des heutigen Berlins eine lebendige historische
Plastizität, die Lenas Wahrnehmung als die einer Fremden ergänzt. Plötzlich
sieht sie hinter Fassaden, an denen sie bisher gleichgültig vorbeilief,
Geschichten und entwickelt ein neues Gefühl und ein kulturelles Verständnis für
die Stadt.
***
Fazit: Ein tolles Debüt, geschrieben aus der
Perspektive einer Frau, die aus dem Osten kommt – und im Osten bleibt. Ein
Roman mit viel Welt und Stadt drin, mit vielen Geschichten und Binnenerzählungen,
mit einem geschärften Blick für diejenigen, die – wie sie selbst – die Jugend
und die goldenen Hoffnungen hinter sich haben. Und mit ganz viel Russland drin.
Die Haupt- wie die Nebenfiguren werden sehr sorgfältig entwickelt, gewinnen
zusehends an Tiefe und Schattierungen und machen einen neugierig. So taucht man
beim Lesen in ein Biotop ein, das derart voll Leben getränkt ist, dass man sich
vor Ort wähnt, die Gerüche riecht, die Atmosphäre empfindet, die Auslagen der
Schaufenster, die Stadt, ihre Straßen, ihre Gebäude und ihre Menschen vor sich
sieht. Und einiges mehr.
Angaben:
Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten. Jung und Jung,
Berlin 2013. 336 Seiten.
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