Textstelle
1
Thema: dionysischer Rausch;
Panikattacke; Todesangst; Paranoia
»[…] Von draußen war ein
Hubschrauber zu hören. Sie blieb auf dem Halbstock stehen und schaute durch das
Fenster hinaus. Von da war aber nur der Parkplatz zu sehen und der Vorbau der
Rezeption. Ihr Auto stand da. Die Fenster matt vereist. Sie sollte zu ihrem
Auto gehen und wegfahren. Das Eis abkratzen und davonfahren. Sie wäre gerne zu
ihrem Auto gegangen und davongefahren. Aber es war etwas los. Etwas
Aufregendes. Etwas sehr Aufregendes, und das Geräusch des Hubschraubers kam
näher. Sie konnte das Kreisen der Rotorblätter des Hubschraubers in der
Magengrube spüren. Sie trat ganz ans Fenster und schaute in den Himmel hinauf.
Dieser Hubschrauber musste gerade über dem Gebäude stehen. Die Fensterscheiben
vibrierten, und die Fensterflügel schepperten gegeneinander. Sie lief den
breiten Stiegenaufgang hinunter. Lief zur kleinen Tür. Die Tür stand offen. Die
Türklinke lag am Boden. Sie hob sie auf und zog die Tür hinter sich zu. Im Gang
zum Turnsaal. Durch diese Fenster konnte sie nichts sehen. Sie lief den Gang
hinunter. Der Hubschrauber schien nun links zu landen. Auch hier klirrten die
Fenster, und Staub rieselte von der Decke. Alles vibrierte. Der Lärm durchdrang
alles. Sie fühlte sich leicht. Als könnte sie in diesem Lärm sehr hoch
springen. Fliegen vielleicht. Sie lief lachend zum Umkleideraum. Aber dann war
ihr der Mantel gleichgültig. Sie probierte die Tür zum Turnsaal. Die Tür ließ
sich öffnen. Sie hatte recht gehabt. Es war ein regulärer Turnsaal. Die Seile
an Schnüren hinaufgezogen an der Decke unter den vergitterten Leuchtröhren.
Sprossenwände rundum. Sie lief auf die andere Seite und kletterte eine
Sprossenwand hinauf und schaute durch eines der Fenster hoch oben auf dieser
Seite. Aber hier passierte nichts. Schnee und der Betonzaun weit
hinten mit den Peitschenleuchten und den Glasscherben obendrauf. Dann gleich
wieder Felder. Sie stieg hinunter. Der Lärm des Hubschraubers nun so dröhnend
und heftig, als landete er im Turnsaal. Der Boden unter ihren Füßen bebend. Sie
lief zurück auf die Seite beim Eingang und stieg hier hinauf. Durch diese
Fenster sah man auf den schmalen Gang hinunter und auf die großen Fenster des
Gangs, und wieder versperrte das Rissglas die Sicht. Ein riesiger Schatten
verdunkelte die Sicht. Sie hätte schreien können vor Vergnügen über dieses
Chaos, in das der Hubschrauberlärm alles warf. Aber was da geschah. Was vor
sich ging. Es war nicht auszumachen. Sie konnte nichts sehen. Sie stieg
hinunter. Hüpfte von der Sprossenwand weg und schaute sich um. Hier gab es
keine Türen mehr. Es gab nur diese eine vom Gang her. Der Hubschrauberlärm hing
im Raum und hatte kaum Platz. Sie rannte auf den Gang. Hier war eine Tür. Ganz
am Ende. Aber es war gleich zu sehen. Diese Tür war seit langem nicht geöffnet
worden. Sie rüttelte an dem Metallbalken, der quergespannt die Tür absicherte.
Der brüchige Lack zerkratzte ihr die Hände. Lackfetzchen und Staub rieselten zu
Boden. Es war sinnlos. Sie stampfte mit dem rechten Bein auf und begann zu
schreien. Sie hielt sich die Ohren zu und schrie. Es war wunderbar. Ihr
Schreien verhallte im Dröhnen des Hubschraubers im Hof draußen. Sie trampelte
auf der Stelle und schrie. Dann lief sie in den Turnsaal zurück und begann sich
zu drehen. Schreiend hielt sie die Tasche in der rechten Hand und schwang die
Tasche im Kreis, bis sie von der Tasche gezogen im Kreis gedreht wurde. Sie
musste zu schreien aufhören und lachen. Sie musste sich zu drehen aufhören. Vom
Schreien war ihr Hals trocken. Sie hustete. Lachte. Hustete. Sie setzte sich
auf den Boden. Der Hubschrauberlärm war einen Augenblick noch stärker. Sie
fühlte die Vibrationen zwischen den Beinen. Sie streckte die Beine aus und
drückte die Scheide gegen den Boden. So sitzend fischte sie den Flachmann aus
der Tasche. Wenn sie ordentlich ihre Übungen machen würde, hätte sie im Spagat
sitzen können und hätte den ganzen Hubschrauber so spüren können. Sie schraubte
die Flasche auf und trank. Sie musste den Bauch nach vorne durchstrecken, damit
die Scheide so auf dem Boden aufgepresst blieb, und den Kopf nach hinten legen,
damit sie trinken konnte. Sie saß trinkend in diesem alles erfüllenden Lärm und
bekam ihn über ihre Schamlippen in den Körper signalisiert. Sie war der Lärm,
und sie dachte mit dem Wodka mit. Wie er in sie hineinrann und vom Lärm ins
Vibrieren mitaufgenommen wurde. Der Hubschrauber dröhnte auf. Noch eine
Steigerung, und dann zog sich alles zurück. Die Vibrationen waren sofort weniger.
Kleiner. Entfernter. Leiser. Sie zog die Beine an. Verschloss den Flachmann.
Steckte ihn in die Tasche zurück. Sie stand auf. Sie brauchte die Sprossenwand
dazu. Ganz kurz ging das mit dem Gehen überhaupt nicht. Sie musste lachen. Sie
stand da. Hielt sich mit der linken Hand an einer Sprosse fest und sah sich
selbst baumelnd dastehen. Vollkommen unsicher an ihrer Hand baumelnd. Das war
sehr lustig. […]«
Seiten 46-49
Textstellen
2 und 3
Themen: Sprachreflexion,
Symptom von Stress, Spiel, die Welt zu hinterfragen, innere Ablenkung resp.
Verdrängungsmechanismus
[…] Sie war immer nur in diesem
Sitzungssaal oder im Büro am Computer. Sie war nie nach hinten gekommen in
diesen Barackenwirrwarr, und Gregory fragte sie immer nur nach den Handbüchern
aus. Die Litanei vorhin war ja auch aus dem Handbuch. Es war das Konzerncredo
über die Arbeit in nichtverbündeten Staaten. Sie hatte das Credo aufgesagt.
Aber es ging um den Zeitpunkt. Man musste so ein Credo setzen. Man musste den
genau richtigen Zeitpunkt finden. Erwischen, dachte sie. To catch the moment.
Aber erwischen war netter. Ein schönes Wort. Erwischen. Sie fühlte sich mit
langen Schritten durch die Luft eilen und nach etwas greifen und es dann
erwischen. […]
Seite 41
[…] Auf dem Gang. Cindy saß
nicht mehr da. Sie war allein. Sie ging zum Lift. Geschlossene Türen. Schilder,
dass der Eintritt nur Befugten erlaubt war. Einen Augenblick stellte sie sich
vor, wie das mit den Befugten sein konnte. Wie so ein Arzt in Weiß mit Fugen
versehen werden konnte und dann befugt war. Sie schüttelte den Kopf. Das war
der Stress. Bei Stress geriet sie in solche Wörtlichkeiten. Eine von diesen
überflüssigen Begabungen. Sie lachte wenigstens nicht mehr laut. Sie blieb
allein im Lift. Sie konnte sich in Ruhe befugte Personen vorstellen. Es war
dann wohl eine Stilentscheidung, welche Art von Fugen diese Personen wählten.
Oder erwarb man da die Befugung und musste nehmen, was da kam. Dehnungsfugen.
Dichtungsfugen. Anschlussfugen. Sanitärfugen. Glasfugen. Der Onkel Schottola hätte
für alles die richtige Technik gewusst. Sie wären zum ÖBAU Fetter in der Horner Straße gefahren und hätten lange
Gespräche über Fugen geführt und ob man sie betonen sollte oder ob man sie zum
Verschwinden brachte und man sie nicht sehen musste. […]
Seiten 310f.
Textstelle
4
Themen:
Einschüchterung, schichtspezifische Verhaltensregeln, Gesprächsstrategie, Selbstbeobachtung,
Gesprächsanalyse
[…] Gregory nahm sich ein Stück
Baguette und Butter. Also, begann er. Er machte eine lange Pause. Dann hob er
den Kopf. Er hätte erwartet, von ihr zu hören. Berichte zu bekommen. Sie sah
ihn fragend an. Er wandte sich wieder dem Baguette zu. Ja. es wäre schon ihre
Aufgabe gewesen, ihn informiert zu halten. Dazu müsste sie doch in der Lage
sein. Präzise Berichte. Das wäre schon die Grundlage einer Zusammenarbeit. Sie
wäre doch nicht nach Nottingham geschickt worden wegen ihres netten Wesens. Und
er verstünde ja nicht, warum er sie verhören müsse, damit er etwas über die
Arbeit da erfahren würde. Sie holte tief Luft. Was hatte sie schon wieder nicht
begriffen. Es war klar, dass er etwas erwartete. Sie wusste nicht, was. Der
Kurs in Nottingham. Das war doch, weil diese Fusion den Austausch ermöglichte.
Das war ja auch einer der Synergieeffekte gewesen. Die Internationalität. Sie
lächelte weiter. Sie bemühte sich, das Lächeln auf ihn zu richten. Die Augen in
das Lächeln einzubeziehen. Nichts sagen. Lächeln. Die Pause aushalten. Ihn zum
Reden bringen. Er musste Fragen stellen. Sie musste die süße kleine Amy sein
und er der Ersatzpapi. Sie sollte sich an die Decke denken und von dort das
Gespräch einschätzen. Oder das Verhör. Sie hatte im Kurs für
Kommunikationstechnik sich vorstellen müssen, während der Kommunikation eine
Fliege zu sein, die das Gespräch umkreisend sich Gedanken machte. Sie hatte
dann beschlossen, sich nicht an die decke zu denken. Sie hatte schon Probleme,
wenn sie sich beim Stretchen vorstellen sollte, dass an irgendeinem Körperteil
ein Strang ziehe oder der Kopf von einem Magneten an die Decke gezogen würde.
Die Vorstellung, sich und Gregory nun von oben zu beobachten. Dann musste sie
laut lachen. Sie würde Gregory da oben ja antreffen. Gregory hatte dieselben
Kurse gemacht. Gregory hatte die Kursprogramme mitgeschrieben. Gregory hatte
Erfahrung darin. Gregory hatte sich sicherlich schon in den seltsamsten
Umständen und Räumen an die Decke gedacht und die Situation von oben
beobachtet. Beurteilt. Eingeschätzt. Ihr wurde übel. Sie saß strahlend lächelnd
da. Erwartungsvoll lächelnd. Auffordernd. Vom Oberbauch eine Übelkeit bis in
die Fingerspitzen ausstrahlend. Ein Elend innen. Was habe dieser Aufenthalt in
Nottingham nun gebracht, fragte er. Für sie. Gregory steckte das gebutterte
Baguettestück in den Mund. Was habe ihr denn Spaß gemacht. Von den Kursen da.
Von den Erfahrungen. Sie nahm einen Schluck vom Mineralwasser. Was er meine.
Was er genau wissen wolle. Das wäre eine sehr allgemeine Frage. Sie trank
wieder vom Wasser. Die Übelkeit zu verbergen. Sie konnte die e-mail vor sich
sehen. Gregory wusste doch alles. Gregory war doch informiert. […]
310f.
Textstelle
5
Themen:
Wettbewerbs- und Körperfetischismus, Empathielosigkeit
»Henry kämpfte. Die anderen
waren wieder zurückgetreten. Sie schauten auf ihn hinunter. Schrien die Zahlen.
Aufmunternd. Henry wollte etwas sagen. Die anderen wurden wieder lauter.
Brüllten die Zahlen. Henry schien zu zögern. Wieder rückten alle nah an ihn heran.
Beugten sich über ihn. Sie zischten die Zahlen. Beschwörend. Eindringlich.
Henry nickte. Klappte in die Höhe. Fiel zurück. Fing sich selbst auf und
brachte sich wieder in die Höhe. Sein Gesicht war verzerrt. Rot. Seine Haut
rotfleckig. Rau. Seine Haut war nicht mehr glatt. Die Frau mit der Stoppuhr
schrie nur noch ›Come on‹. Die anderen zählten weiter. Sie hatten sich hingehockt.
Sie skandierten die Zahlen. Schoben mit ihren Oberkörpern die Zahlen über den
Mann hin. Beschworen die nächste Bewegung.« (291)
»Sie waren allein. Sie setzte
sich auf den Boden. Schaute den Mann an. Dann bewegte Henry sich wieder. Er hob
den Kopf von der Brust weg. Sie fragte ihn wieder. Laut. Was er benötige. […]
Ob sie etwas tun könne. Henry? Er schaute sie an. Lange. Er schloss die Augen.
Schaute sie wieder an. Sie begann ihn anzulächeln. Der Mann sah sie erstaunt an
und begann, sich zu erinnern. Er schaute schnell weg. Aber sie hatte es
gesehen. Den Wunsch, im Erdboden zu versinken. Die Scham. Die Erniedrigung. Sie
wollte gerade anfangen zu sagen, dass er doch betrogen worden wäre. […] Die
Regeln nicht eingehalten. Plötzlich hatte sie aber deutsch gedacht und musste
erst im Kopf übersetzen. Da flüsterte der Mann ›fuck off‹. Sie beugte sich vor,
das genau zu verstehen. Der Mann sagte nichts mehr. Er hatte die Augen
geschlossen. Sie stand auf und ging.« (293f.)
Kommentar:
Diese beiden
Zitate aus einer längeren Szene illustrieren m.E., wie Streeruwitz ihre ideologiekritische
Haltung in Literatur übersetzt: Im Nottinghamer Mutterlager will ein
durchtrainierter Mann einer jungen Frau von auswärts imponieren und stellt sich
einem Leistungsschaukampf gegen die Zeit: Rumpfbeugen vor versammelter Runde.
Sein Körper – Fetisch und Maschine. Am Ende liegt der eitle, geschundene Athlet
verlassen und erschöpft am Boden. Alle sind gegangen, angeblich habe er gegen
die Regeln der Wette verstoßen. Selber schuld. Amalia, die sich selbst im
Vergleich zu den anderen als dysfunktional und nicht zugehörig empfindet und
schon geraume Zeit Kurs um Kurs auslässt, um sich zurückzuziehen, kann ihn da
nicht alleine liegen sehen.
Diese über
mehrere Seiten ausgedehnte Szene markiert eine Epiphanie und einen Wendepunkt
in Amalias Wahrnehmung von sich und dem Umfeld, in dem sie sich bewegt. Als
Einzelkämpferin empfindet sie sich zwar auch, aber empathielos ist sie nicht,
wie ihr hier und an anderer Stelle bewusst wird. Das testosterongeladene Spiel
mit dem Ernstfall, das ständige Tun-als-ob als notwendige Vorbereitung auf den
Einsatz erlebt sie zunehmend als so lächerlicher wie bedrohlicher »mindfuck«
(282). Wer sich unter solchen Menschen nicht souverän zu bewegen vermag, durch
eine antrainierte Abgestumpftheit oder Abgeklärtheit, muss sich wie sie
fürchten und verloren fühlen.
Angaben:
Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin.
S. Fischer Verlag. Frankfurt 2011. 400 Seiten.
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