Themen: Quartiervergleich im Berliner Osten;
Freiheit und Marktwirtschaft; Gentrifizierung
Freiheit und Marktwirtschaft; Gentrifizierung
Ich gehe in die Linienstraße hinein. Eng
und ruhig, ahmt sie den Verlauf der lauten Torstraße nach. Die im Krieg
entstandenen Lücken sind sorgfältig mit DDR-Plattenbauten gefüllt, die einst
begehrt waren und heute verachtet sind. In den verstaubten Waben leben heute
jene Berliner, die mit ihrer Stadt nicht mehr Schritt halten können, da ihre
Füße immer noch in der Vergangenheit hängen. Die Männer tragen je nach Saison
ein weißes Unterhemd oder eine Pelzmütze, die Frauen ärmellose Arbeitskittel
aus einem synthetischen Stoff, ätzend blau mit kleinen roten Blümchen. Sie
sitzen tagelang auf ihren Balkons zwischen Geranien und Zwergen und rauchen.
Dann nehmen sie ihre geräderten Taschen und laufen zu Aldi die
unendliche Torstraße entlang. Sie haben viel Zeit und bleiben öfter vor den
geschmückten Schaufenstern stehen, so wie auch ich: Latexwäsche, Sexspielzeuge,
tätowierte Waden, gepiercte Brustwarzen, Proteinnahrung in Bottichen, Nail
Studios … Was machen wir mit unserem Wohlstand und unserer Freiheit?
Nördlich der Torstraße aber liegt ein
Land, wo alles stimmt: Prenzlauer Berg. Die Spitze des Berges bewohnen die
anmutigen Menschen, die aus ihrem Wohlstand und ihrer Freiheit ein
erstklassiges Glück melken. Sie brauchen sich nicht die Nabel und Brustwarzen
zu durchbohren, um sich zu behaupten. Sie bremsen ihre geräuschlosen Porsches
vor Fußgängern und Fahrradfahrern und gefallen sich dabei sehr. Sie kaufen in
Bioläden ein und haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie wieder mal vor dem tristen Winter nach Teneriffa fliehen. Laut Legende schreien sie sich gegenseitig nie an und siezen ihre Putzfrauen und Babysitterinnen.
Zweiter Teil, Kapitel 3
Textauszug 2
Thema: Vorstellungen vom Westen
Die Lebensweise der Europäer war uns
weniger vertraut als die der Marsbewohner, über deren Sitten uns sowjetische
Unterhaltungsbücher bestens informierten. Wir sehnten uns nach dem unfassbaren
Westen und waren sehr neugierig darauf. In Russland repräsentierten die
Deutschen das wahre Abendland, sie waren unsere eigenen Fremden. Die anderen
Europäer waren uns zu abstrakt. Die Deutschen aber schienen zum Greifen nah zu
sein und auch so anders als wir: fleißig, nüchtern, sachlich, wie Herr Seitz.
Zweiter Teil, Kapitel 2
Textauszug 3
Thema: Verhältnis zur eigenen Vergangenheit im Sozialismus
Wir beide haben einen Großteil unseres
Lebens unter roten Fahnen verbracht, unsere Sensoren und Antennen bleiben wohl
für immer nach links gekippt, selbst wenn wir uns ehrlich bemühen, sie aufrecht
und in der Mitte zu halten. Wir sind halt Ossis, und wie viele andere Ossis
auch müssen wir uns mit der schizophrenen Zwiespältigkeit der Erinnerung
tragen: Der Verstand weiß Bescheid, die Seele aber zweifelt und will nicht
glauben, dass all die Erfahrungen der untergegangenen Zivilisation nutzlos und
lächerlich waren. Wir vermissen nicht das damalige Leben, sondern den Zeitgeist,
mit dem man Adam Smith, den Wohlstand und den Komfort verachtete und auf eine
vage und helle Zukunft schwor. Wir selbst spotten gerne über diesen naiven
Glauben oder über die Realien des sozialistischen Lebens, ärgern uns aber, wenn
die Leute aus dem Westen das tun. Für sie war das Leben hinter dem eisernen
Vorhang entweder verbrecherisch, miserabel oder anekdotisch ulkig. Für uns ist
es im Rückblick auch so, aber es war unser Leben, und nicht ihres.
Erster Teil, Kapitel 5
Textauszüge 4 und 5
Thema: Integration, Unterschiede
zwischen den Generationen
In meinem siebzehnten Lebensjahr fühlte
ich mich meiner Mutter endgültig und verzweifelt überlegen. Meine Tochter hatte
dieses Gefühl schon als Grundschulkind, wie es in vielen Migrantenfamilien der
Fall ist, wo die Eltern in der Kommunikation mit der Umwelt oft auf die Hilfe
ihrer Kinder angewiesen sind: Liebe Frau Flügel, meine Tochter Marina
hat heute Termin bei einem Arzt um 12 Uhr. – Einen Termin, den Termin?,
quälte ich mich über dem Papierblatt, während die kleine Marina neben mir stand
und ihre Augen gen Himmel rollte: Einen Termin! Und hier schreibst du bitte
etwa so: Sie wird um 11 Uhr abgeholt und ich bitte dies zu
entschuldigen. Und Datum. Sie riss mir das Blatt aus der Hand, las es und
schob es mir unter die Nase: Abgeholt – zusammengeschrieben!
Gehorsam zog ich eine dünne wackelige
Brücke zwischen Ab und geholt. Gut gemacht!, sagte sie und streichelte meine
Schulter. Sie war meinen Schwächen gegenüber immer nachsichtig, unsere
Beziehung kollidierte schon damals mit dem üblichen gesellschaftlichen
Axiom Eltern haften für ihre Kinder.
Erster Teil, Kapitel 6
Es gab Zeiten in meinem Berliner Leben, wo
ich die Russen mied. Am Anfang nimmt sich jeder Ausgewanderte vor, so schnell
wie möglich deutsch zu werden, zu wirken, zu ticken. Ein mit tückischen
Stolpersteinen übersäter Weg: Der deutsche Humor ist unverständlich, die
deutschen Heringe sind ungenießbar und die hiesigen Sitten und Feste
undurchschaubar. Wer sind die Heiligen Drei Könige und was ist eine Himmelfahrt?
Wer auf der Welt soll all die bemalten Herzen vertilgen? Was bedeutet Advent
und was hat er mit Shopping zu tun? Natürlich gibt es sehr viele Russen, die
diese Hürden genommen haben und in beiden Sprachen feiern, scherzen und fluchen
können. Noch mehr aber haben es aufgegeben. Zu Weihnachten fliegen sie nach
Mallorca, und den festlichen Tisch decken sie dann zu Silvester. Zum Frauentag
und am 9. Mai versammeln sie sich zum Picknick im Treptow-Park, nicht weit von
der Sowjetischen Siegessäule.
Das, was ich früher als aufgeklärter
Mensch westlicher Prägung mied, bringt mir neuerdings viel unerwartete Freude:
die alkoholhaltigen Cocktails, deren Farben an die Versuche eines wahnsinnigen
Alchemisten erinnern; nahrhafte, von Mayonnaise überflutete Salate; die
polyphonen Gespräche, wo keiner dem anderen zuhört. In seiner Rede
unterbrochen, folgt man nicht dem Gedanken seines Gegenübers, sondern lauert
auf eine Gelegenheit, seine Partie fortsetzen zu können.
Wir essen Salami auf Brot und reden über
Trennkost. Wir lästern über allgegenwärtige deutsche Geschmacksverstärker, das
verworrene deutsche Schulsystem, zickige deutsche Nachbarn, saure deutsche
Heringe, aber da, wo die Heringe salzig sind und Halwa süß ist, wollen wir
eigentlich nicht hin. Haben wir dafür Tausende Kilometer zurückgelegt?
Um vor uns hinräuspernd in der Küche zu sitzen und von verlassenen
und vergangenen Orten zu schwärmen? Unsere lichten Träume haben wir
auf den Schultern unserer Kinder abgelegt, und mit uns kann es nur bergab
gehen, langsam, aber unaufhaltsam. Und wir haben nichts, was diesen Abstieg
aufhalten könnte: Die Krallen sind abgeschabt, die welken Flügelansätze baumeln
hinter den Schultern, ulkig klein bei dem immer schwerer werdenden
Körper. Den Schwimmkurs schiebe ich immer noch vor mir her, bis Marina,
von meiner Trägheit genervt, für mich einen Termin zum Einzelunterricht in
einem Bad ausmacht.
Fünfter Teil, Kapitel 2
Textauszug 6
Thema: Albtraum (die Protagonistin ist
Nichtschwimmerin)
Ich stehe auf, um mir warme Socken zu
holen, und meine Füße treten ins kalte Wasser, das mir schon bis zu den
Knöcheln reicht. Die Wasseroberfläche reflektiert das hektische Wimmeln am
Bildschirm und schimmert rot. Im Korridor steht das rote Wasser Kubik schon bis
zu den Nasenlöchern, ich packe ihn unter den Beinen. Der Hof ist auch
überflutet, die Straße wird zu einem Fluss. Ich krieche das steile Ufer hoch,
schaue zurück und sehe die ganze Stadt auf viele Meter hohen Wellen schweben,
brennende, entwurzelte Häuser färben die Fluten rot. Die schwarze Erde bröselt
unter meinen Füßen ab, wird langsam zu Schlamm, der meine Füße einsaugt. Ich
will nach Hause, zum Alexanderplatz, kann aber nicht mehr laufen, ich bin zu
müde. Ich lasse Kubik los, der verzweifelte Hund planscht im schwarzen Wasser
und kratzt an meinen Waden. Als wir dann abstürzen, bin ich, vor Angst und
Schreck erschöpft, fast erleichtert.
Vierter Teil, Kapitel 5
Textauszug 7
Thema: Beziehung zwischen Lena und
Herrn Seitz
Unsere Zweisamkeit lässt sich schwer
einordnen, unsere Freundschaft hat vage Konturen, wie aufeinandergestapelte
Dias: Samariterin und Verwundeter, Vater und Tochter, Deutscher und Russin,
Siegerin und Besiegter – zwischen uns liegen Welten, Jahrzehnte, Flüsse,
Gräber, Meilen, und die Seilbrücke über diesen Abgrund ist gespannt wie eine
Saite, die seltsame und nur für uns wahrnehmbare Töne hervorbringt.
Dritter Teil, Kapitel 4
Textauszug 8
Themen: Ankunft im Gelobten Land, Hoffnungen, Pläne, Träume
Wir landeten in Spandau, am Rande von
Berlin, in einem Asyl, wo wir zwei Zimmer in einer kommunalen Wohnung
zugewiesen bekommen hatten. Die Bewohner der anderen Zimmer, mit denen wir
die Küche und das Bad teilten, wechselten andauernd. Es waren ausschließlich
sehr laute Südländer, goldhäutige Menschen mit beringten Händen, deren
Nachbarschaft uns lästig und peinlich war. Wir hielten uns für viel westlicher
als sie, daher fühlten wir uns ihnen überlegen und waren eifersüchtig auf
unsere neue Heimat, die in Beziehungsdingen so anspruchslos war. Wir mieden
auch die anderen Asylanten, selbst unsere Landsleute, als ob wir uns der
Häutung vor ihren Augen schämten.
Bei jeder Gelegenheit fuhren wir in die
Stadt, weg aus dem Heim, in die bunt geschminkte Welt, wo in den Hauseingängen
unterwürfige Lichter schimmern, wo die Haustreppen wie mit duftenden Shampoos
gewaschen scheinen, wo sich alle lieben und respektieren, wo gepflegte Kinder
unter liebevollen Blicken der smarten Eltern an wunderschönen Legowelten
basteln, während Omas mit hölzernen Löffeln leckere Gerichte zaubern.
Merkwürdig, aber wahr: Es war das beste Jahr in unserem gemeinsamen Leben.
Von den freudigen Erwartungen wie
Luftballons aufgeblasen, schwebten wir hoch im Wagen der grünen U1. Wir
schauten auf die Stadt, die uns zu Füßen lag, und weideten unsere Seelen an den
schönen, sich abwechselnden Traumbildern: Marina mit einem schicken rosa
Tornister in einer gemütlichen deutschen Schule, Schura vor einer Staffelei
oder gar in einem Studio, ich als Übersetzerin, nein, als Journalistin – so
eine strenge, mit einem Kugelschreiber in der Hand und mit einer dicken Brille.
Oder wir sahen uns als ein Unternehmerpaar: Kein Restaurant und keinen Imbiss,
wie sie die banalen Migranten sonst haben, nein, wir würden ein Kino aufmachen,
ein Kunstkino mit einem schönen Buffet, gemütlich, mit Plüschbänken und
Sesseln, wo sich das erlesene Publikum mit Getränken in der Hand nach dem Film
Salon-Debatten liefert. Ich war fest davon überzeugt, dass wir einer
wundersamen Wiedergeburt nahe wären.
Dritter Teil, Kapitel 4
Rechte:
Angaben:
Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten.
Jung und Jung, Berlin 2013. 336 Seiten.
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