Samstag, 2. November 2013

The Place beyond the Pines (USA 2013)




Regie: Derek Cianfrance

Mit: Ryan Gosling, Eva Mendes, Bradley Cooper


Ungewöhnlich, mutig, mythisch

Abendfüllender Spielfilm, hieß es früher manchmal, im Gegensatz zu 60minütigen Serienepisoden oder filmischen Essays von unberechenbarer Kürze und oft schneidendem Inhalt. Um den Leuten zu versichern, dass der Abend erlebnistechnisch gerettet ist und sie keine Angst haben müssen, nach Ende des Films noch nicht ins Bett zu dürfen. Als ob ein Abend nur 90 Minuten dauerte. Aber egal. 

Und jetzt das.
Tot? Der Protagonist? Nach 45 Minuten? Das kann doch gar nicht sein? Ryan Gosling tot? Wie bitte?Ja und jetzt? Wer ist das denn? Der Polizist? Was geht der mich denn an? 
Man kann über ›The Place beyond the Pines‹ nicht schreiben, ohne seinen kapitalen Regelverstoß an den Anfang zu stellen. Das ist den Spoiler wert. Denn der Regelverstoß erweist sich als schön gewagt. So etwas habe ich in einem amerikanischen Film noch nie gesehen, allenfalls Vergleichbares (siehe Ende dieser Rezension). 
Ryan Gosling, der neue Gott am Himmel des interessanten und kommerziellen Hollywood, wird ausgewechselt, noch bevor zur offiziellen Halbzeit eines regulären Spielfilms gepfiffen werden dürfte. 


1: Dieses verdammte kleine Glück muss doch zu haben sein?

Bis zu diesem Zeitpunkt hat Gosling auf seine bekannt smarte Weise den todesverachtenden working poor gegeben, der mit seinem Motorrad verheiratet ist. Cooler geht's nicht, wie Luke Glanton auf dem Rummelplatz seine Stuntmanshow abliefert, da wird einem schon mal schwindlig. Dem geht eine klassische Spiegelszene voraus: der Gladiator bereitet sich auf den Kampf vor. Ein Evergreen, dieses Motiv. Morgan Freeman (›Seven‹ von David Fincher, 1995), aber vor allem der junge Robert de Niro stehen Pate (›Taxi Driver‹ von Martin Scorsese, 1976). Auch wenn Gosling meines Erachtens das Potenzial zur Spätnachfolge von America's Darling James Stewart hat: seine martialischen Körperlandschaften erzählen ohne Worte bereits viel von der mausbeinallein-elenden Vorgeschichte Luke Glantons – und lassen nebenbei vermutlich so manche(n) leise seufzen

***

Ein wenig Sozialkitsch kommt hinzu, wenn Luke just in dem Moment, als er erfährt, dass er bei seinem letzten Besuch in der Kleinstadt mit der zartherben Romina (Eva Mendes) einen Sohn gezeugt hat, von seinem eigenen Vater erzählt, der nie für ihn da gewesen sei. Das hört man sich so an und denkt sich, na ja, dafür weiß ich sonst nix über dich, aber sei's drum. Denn das Drehbuch zieht es zum zentralen Problem (das sich dann als ein vorläufiges entpuppt): Romina hat zwar nach wie vor eine Schwäche für den wilden Luke, aber mittlerweile auch einen soliden Ernährer für den kleinen Jason gefunden. Es beginnt ein trauriger Kampf um ein kleines Glück auf tönernen Füßen, die bereits Risse aufweisen. Denn Romina muss sich zwischen Abenteuerleben und Solidität entscheiden. 
Ein schräger Kumpel, Banküberfälle, Frühlingsgefühle, ein Kinderbett. Noch keine 45 Minuten sind um. da macht's bumm.


2: Vom Willen, ein guter Mensch zu sein

Avery Cross (Bradley Cooper) ist ein rechtschaffener junger Polizist, der Jura studiert hat und einen zunächst ungut an Tom Cruise erinnert. Er hat eine Heldentat vollbracht und spürt rasch den schalen Nachgeschmack seiner überschwenglich gefeierten Großtat. – Der zweite Teil scheint mir die interessanteste Geschichte von ›The Place beyond the Pines‹ zu erzählen. Hier sieht man einem zu, der nicht weiß, wo ihm der Kopf steht, von dessen mühsam zurechtgezimmertem Weltbild der Lack abblättert. Weder die liebende, kreuzbrave Frau noch der kleine Sohnemann mit dem seltsamen Namen AJ und dem gleichen Geburtsjahr wie Jason können das ändern. 
Der Wurm, der an Avery nagt, hat einen Namen: Ray Liotta. Surprise surprise. Dieses verkraterte Gesicht mit den kalten Augen hatte man schon fast vergessen. Da ist er mal wieder. Und man traut ihm vom ersten Moment an nicht über den Weg. Hier lehnt das Drehbuch an die unzählige Male erzählte Geschichte von der korrupten amerikanischen Polizei, ein Thema, das mich persönlich spätestens nach Curtis Hansons  hervorragender Verfilmung von James Ellroy's ›L.A. Confidential‹ (1997) nicht mehr so richtig interessieren will, aber gut, hier ist es bloß ein Handlungsfaden von mehreren.

3: Wo komme ich her? Mythos der Vatersuche 

Dann sind 15 Jahre vergangen und der dritte Teil des Films beginnt. Er lässt die bis hierhin erzählte Geschichte mythisch werden. Wenn die Vergangenheit die Kinder der Protagonisten einholt, wird daraus eine Parabel auf die Bedeutung von gewissen Entscheidungen für das zweite und dritte Glied einer Sippe. Wie weiland den dänischen Prinzen Hamlet erscheint Jason auf Umwegen der Geist des Vaters, der umso interessanter ist, je weniger man über ihn weiß. Oder um es mit Warhol zu sagen: »The more information you get, the less fantasy you have.« Hier sucht einer seine Wurzeln, weil er nicht mehr belogen werden will. Die Coming-of-Age-Geschichte wird dicht und knapp abgehandelt und zwar erneut zweigleisig, nur gleichzeitig: Jason und AJ laufen sich über den Weg – small world oder gewollter Kraftakt, je nachdem wie man es haben will. Die beiden sind sehr unterschiedlich geraten, das wird ohne allzu angestrengte Milieustudie erzählt: Der eine macht auf dicke Hose, dass es weh tut, weil der Papa zwar Geld, aber keine Zeit hat. Der andere wirkt so verloren wie sein Erzeuger und muss herausfinden, warum dem so ist.

So sind es drei Erzählungen in einer, nicht miteinander verwoben wie bei Iñárritus Filmen (Babel, 21 grams), sondern chronologisch. Der formale Schock ließ mir den Mund mindestens zehn Minuten lange offen stehen, doch der Plot zieht einen weiter, weil die Figuren interessant sind und man einfach wissen will, wie das Drehbuch es anstellt, dass man dranbleibt.

Zum Schluss einige drehbuchtechnisch intelligente Filme, die mir auf Anhieb einfallen und die Überraschungen ähnlicher Tragweite bergen: ›Shallow Grave‹ (Danny Boyle, 1994), ›The Shape of Things‹ (Neil La Bute, 2003), ›The Crying Game‹ (Neil Jordan 1992), ›The Usual Suspects‹ (Bryan Singer, 1995) oder Drehbücher von Charlie Kaufman wie ›Being John Malkovich‹ (Spike Jonze, 1999), ›Adaptation‹ (Spike Jonze,  2002) oder ›Eternal Sunshine of the Spotless Mind‹ (Michel Gondry, 2004) .

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