Montag, 30. Dezember 2013

W.G. Sebald: Die Ausgewanderten (1992)


Alte und neue Heimat


Die vier unterschiedlich langen Erzählungen bewegen sich rund um die Lebensläufe von vier Männern, deren eine Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie vorübergehend oder für immer ihre Heimat hinter sich lassen mussten. Das besagt bereits der Titel. Eine zweite auffällige Gemeinsamkeit besteht in dem gewalttätigen Ende ihrer Leben. Der ehemalige Arzt Dr. Henry Selwyn schießt sich mit einem Großwildgewehr aus seinem vermeintlich friedlichen Altersdasein, der Grundschullehrer Paul Bereyter legt sich mit 74 unter den Zug und der langjährige Butler Ambras Adelwarth begibt sich freiwillig in eine psychiatrische Klinik, wo er unter Elektroschocks allmählich die Reste seines Verstandes preisgibt. Einzig der Maler Max Aurach ist zum Zeitpunkt des Erzählens noch am Leben. 

»Zerstöret das Letzte / die Erinnerung nicht« lautet eines der Motti, die den Erzählungen jeweils vorangehen.  Das hat etwas Beschwörendes. Und man ist frei von Zweifeln, dass sich einem hier die Lebensläufe von realen Personen erschließen, keine fiktiven. Ein Indiz sind die vielen Fotografien, auf denen im Text jeweils Bezug genommen wird, ein anderes (und ebenso schwaches), dass der Erzähler zu sämtlichen Personen einen persönlichen Bezug hat. Mit Adelwarth ist er verwandt, Bereyter war sein Lehrer, Selwyn und Aurach sind Bekanntschaften aus einer bestimmten Lebensphase.

Nehmen wir diesen realen Bezug also als gegeben: Der Erzähler, in diesem Fall also Sebald, begibt sich hier auf die Spur von Lebensläufen, die nicht spektakulär sind, und einen dennoch zum Staunen bringen, was unter anderem an der geduldigen Art des Erzählens und Beschreibens und einer sehr sorgfältigen Sprache liegt. Der Lesevorgang bringt eine ganz eigene Erfahrung mit sich: Wer noch kein Buchseitenflaneur ist, legt das Buch bald wieder zur Seite – wer sich darauf einlässt, wird zu einem. Zu diesem Aspekt habe ich am Ende der Rezension einen kleinen Exkurs angefügt.

Verfluchte und geliebte Heimat: Paul Bereyter

Als erstes Beispiel die Geschichte von Paul Bereyter. Sie beginnt mit der Nachricht von seinem Freitod und führt zunächst in die frühe Nachkriegszeit und in die süddeutsche Ortschaft S., wo der Erzähler sein Schüler war. Erzählt wird von Bereyters pädagogischer Begabung, seiner Liebe zur Musik, die ihn zu Tränen rührte, seinem Hass auf den Katholizismus, von seiner Wesensart. Seine erste Amtshandlung war es beispielsweise, den Schülern den Blick nach draußen wieder zu ermöglichen, indem er eigenhändig in stundenlanger Arbeit die Kalkfarbe abkratze, mit der sein Vorgänger die Fenster geweißelt hatte. Episodisches wie summarisches Erzählen und Abschweifen in des Erzählers eigene Geschichte verbinden sich mit eigenwilligen Bildern und Wahrnehmungen: 
»In schön geordneten Sätzen ohne jegliche Dialektfärbung redete er, aber mit einem leichten Sprach- oder Klangfehler, irgendwie nicht mit dem Kehlkopf, sondern aus der Herzgegend heraus, weshalb es einem manchmal vorkam, als werde alles in seinem Inwendigen von einem Uhrwerk angetrieben und der ganze Paul sei ein künstlicher, aus Blech- und anderen Metallteilen zusammengesetzter Mensch, den die geringste Funktionsstörung für immer aus der Bahn werfen konnte.« (52)
Etwa in der Hälfte übernimmt eine Binnenerzählerin namens Lucy Landau, Bereyters spätere Freundin, die der Erzähler bei dessen Beerdigung kennenlernt. Sie füllt die Lücken in seinem Lebenslauf und offenbart die Gründe für die profunde »Untröstlichkeit« (62), die bereits der junge Schüler an seinem Lehrer wahrgenommen hatte. 
Sein Berufseinstieg fällt fast auf den Tag genau mit dem Einsetzen der Nürnberger Rassengesetze 1935 zusammen. Dem »Dreiviertelarier« (73) Bereyter wird die gerade übernommene Klasse wieder entzogen, die Lehrtätigkeit wird ihm untersagt, er ist gezwungen, ins französisch-schweizerische Grenzgebiet auszuwandern. Beide Eltern sterben kurz darauf unter dem Eindruck des grassierenden Antisemitismus und der Arisierung ihres Geschäfts an einem Herzversagen und an Schwermut. All dem zum Trotz zieht es Bereyter 1939 nach Berlin, wo er – seiner Abstammung zum Trotz – eingezogen wird. Nach sechs Jahren als Artilleriesoldat beginnt er mit zehn Jahren Verspätung seinen Schuldienst in seiner alten Heimat. Wieso kehrt so einer in seine alte braune Heimat zurück, die ihn so viel gekostet hat?
Lucy Landau vermutet zum einen, der gute Lehrer in ihm müsse wohl »geglaubt haben, dass man unter diese zwölf unguten Jahre einfach einen Schlussstrich ziehen und auf der nächsten Seite einen sauberen Neuanfang machen müsse«. (83f.) Zum andern sieht sie den Grund in seiner Heimatverbundenheit. Er war »gebunden an dieses heimatliche Voralpenland und an dieses elende S., das er eigentlich hasste und in seinem Innersten […] samt seinen ihm in tiefster Welle zuwideren Einwohnern am liebsten zerstört und zermahlen gesehen hätte«. (84) Selbst als er nach seiner Pensionierung in die Gegend seiner ersten Anstellung ausgewandert ist, kehrte er regelmäßig nach S. zurück, um »nach dem Rechten zu sehen«, wie er es nannte.

Leben ohne Privatheit: Ambros Adelwarth

Ambros Adelwarth hat Deutschland bereits Ende des 19. Jahrhunderts verlassen, nach seiner Hotelfachausbildung in Montreux führt ihn sein Weg über London nach Japan und von dort nach New York und Long Island, wo er zum vielbeschäftigten Oberbutler einer der reichsten jüdischen Familien der Ostküste aufsteigt. Lange Zeit ist er dafür da, die Kaspereien und Abenteuer des Sprösslings namens Cosmo Salomon mitzumachen, Weltenbummler und draufgängerischer Spieler , sei es im Polo, in der Aviatik oder im Casino. Ein Leben auf der Überholspur – wenn auch nur im Seitenwagen. Der Haken dieses Aufstiegs scheint der Umstand zu sein, dass das Jobprofil mit seiner Rundumbetreuung kein Privatleben zuließ. Mit dem trostlosen Ende der einst glamourösen Herrschaft nach dem Zweiten Krieg verliert Adelwarth das Epizentrum seines Lebens. Seiner Aufgaben beraubt verliert der reich beschenkte jeglichen Lebenssinn und sein Abstieg folgt auf den Fuß.
Ambros Adelwarth ist der Großonkel des Erzählers. Seine Geschichte ist die mit Abstand längste (120 Seiten) und schillerndste, auch diejenige, die am meisten an klassische Auswandererromane erinnert, Upton Sinclairs The Jungle (1906) oder Joseph Roths Hiob (1930). Sie ist eingebettet in die Schilderung zweier Reisen, die der Erzähler anfangs der achtziger Jahre an die Ostküste unternommen hat, wohin die meisten seiner Vorfahren vor oder nach dem Ersten Weltkrieg ausgewandert sind. Nach den Gesprächen mit seiner Tante Fini und seinem Onkel Kasimir auf der ersten Reise wird er auf die letzten Lebensjahre seines Großonkels derart neugierig, dass er eigens dafür drei Jahre eine zweite Reise folgen läßt.

***

Die Drastik von Adelwarths letzten Jahren steht in völligem Kontrast zu seinem ereignisreichen Leben in einer Welt des Geldes und wird als Fallbeispiel für verfehlte psychiatrische Behandlungsmethoden einer längst vergangenen Epoche geschildert. Eine gespenstische Szenerie tut sich auf, als der Erzähler den ehemaligen Assistenzarzt Dr. Abramsky in den Gärten des verfallenen Sanatoriums von Ithaca Falls im Norden von New York State aufsucht.
»Zweifellos bin ich jetzt in einem gewissen Sinne verrückt, aber wie Sie vielleicht wissen, sind diese Dinge einzig eine Frage der Perspektive.« (161)
Der Sechzigjährige hat seine psychiatrische Tätigkeit aufgrund des Verlaufs von Adelwarths Behandlung aufgegeben und lebt seither von der Imkerei, zurückgezogen, bitter, voller Reue, wie ein abgesetzter König in seinem verwitterten Schloss. Eine Existenz, die sich als gescheitert und verfehlt versteht – und darin verwandt mit der Figur der ersten Erzählung, Dr. Henry Selwyn.
Abramsky, Sohn eines galizischen Einwanderers, gesteht, er habe als junger Assistenzarzt die Methoden seines Chefs viel zu spät als das erkannt, was sie waren: als der schnellstmögliche Weg zur Ruhigstellung des Patienten, wie es vor dem Ersten Weltkrieg üblich war. Der Grund für sein Vertrauen in den behandelnden Arzt lag darin, dass er ihn an seinen früh verstorbenen Vater erinnerte, denn er war in dessen Alter und stammte ebenso aus Galizien.
Ambrose Adelwarth jedenfalls ergab sich der Methode mit einer suizidalen Hingabe, die dem hypokritischen Eid spottete. Trotz der progressiven Erstarrung seiner Glieder – eine Folge der Schocktherapie – bewegte er sich bis zuletzt stets peinlich korrekt gekleidet durch das Sanatorium – ganz wie zu Zeiten, als er als Butler die vornehme New Yorker Gesellschaft bewirtete. Und vielleicht weil der Erzähler mit diesem deprimierenden Ende nicht schließen möchte, nimmt die Erzählung auf den letzten gut dreißig Seiten nochmals eine überraschende Wendung. Unter Zuhilfenahme eines in seine Hände geratenen Tagebuchs seines Großonkels widmet er sich den abenteuerlichen Reisen an der Seite des Cosmo Salomon in den Grand Hotels der Normandie und Istanbul.

Am Leben spachteln: Max Aurach

Das Manchester der sechziger Jahre wird bei Sebald wie ein Atlantis der Industrialisierung beschrieben, der ideale Drehort für Endzeitfilme. Ein Meer von Häusern und Kanälen, ein verlassenes Schlachtfeld. Wo eben noch Schiffe wie Berge durch Häuserzeilen gelotst wurden, die sie zu zermalmen drohten, herrscht nun gespenstische Stille, bloß der Ruß tausender Schornsteine hängt noch in der Luft und wird – so meine Vorstellung – nie verwehen.
Inmitten dieser Geisterstadt, dem ehemaligen »Industriejerusalem« (245), in dem noch Jahrzehnte später monumentale Hotelkomplexe vor sich hinrotten, steht ein Maler namens Max Aurach in seinem schummrigen Atelier und spachtelt und schabt und schabt und spachtelt an seinen Bildern herum. Er wühlt in der Materie. Was er herunterspachtelt, ist mit den Jahren unter seinen Füßen zu einem Bodensatz von beträchtlicher Höhe herangewachsen, in dem er – so wunderschön wie unglaublich – die eigentliche Frucht seiner Arbeit erkennt. Das »wahre Ergebnis […] seiner fortwährenden Bemühung« und der »offenkundigste […] Beweis für sein Scheitern« (238). Was für ein Bild, was für ein Gegenentwurf zur gängigen Vorstellung von Formgebung und Kontrolle!
Der Erzähler, der sich Manchester als Studienort ausgesucht hat, besucht den Maler regelmäßig. Aurach erzählt davon, wie er 1943, aus London kommend, beim Anblick von Manchester die Stadt als »Ort [s]einer Bestimmung« (251) empfand, die er nur höchst ungern verlässt, und zwar paradoxerweise vor allem aufgrund unzähligen rauchenden Schlote. Der Maler ist die interessanteste Figur des Buches, seine zahlreichen philosophischen Bemerkungen bergen ungewohnte Wahrnehmungen und Empfindungen. Zum Beispiel wenn er beschreibt, was in ihm vorging, als er eine Ausstellung des berühmten Malers Grünewald in Colmar besuchte:
»Die extremistische, eine jede Einzelheit durchdringende, sämtliche Glieder verrenkende und in den Farben wie eine Krankheit sich ausbreitende Weltsicht dieses seltsamen Mannes war mir, wie ich immer gewusst hatte und nun durch den Augenschein bestätigt fand, von Grund auf gemäß. Die Ungeheuerlichkeit des Leidens, das, ausgehend von den vorgeführten Gestalten, die ganze Natur überzog, um aus den erloschenen Landschaften wieder zurückzufluten in die menschlichen Todesfiguren, diese Ungeheuerlichkeit bewegte sich nun auf und nieder in mir nicht anders als die Gezeiten des Meers.« (253)
Die Gründe dieser Affinität zum Leiden erschließen sich dem Erzähler erst fünfundzwanzig Jahre später, nachdem er eines von Aurachs Gemälden in der Londoner Tate Gallery entdeckt hat und ihn in Manchester besucht. Wir erfahren, dass Aurachs jüdische Eltern den 15jährigen kurz vor Kriegsausbruch mit einem Ausreisevisum zu einem Onkel nach London verschickt haben, sie selbst wurden in einem KZ ermordet.
Die Passage von mehreren Seiten, in der sich Aurach an seine Jugend in Deutschland, seinen Abschied von den Eltern und seine ersten Monate in England erinnert, sind sehr berührend, weil man exemplarisch mitbekommt, wie sehr wir den Launen des eigenen Erinnerungsvermögens ausgeliefert sind. Beispielsweise sieht er das Flughafengelände in allen Details vor sich, doch die Worte und Gesichter der Eltern in dieser extremen Situation sind wie ausgelöscht.
Beim Abschied händigt Aurach dem Erzähler einen Stapel Papier mit ihren Erinnerungen der Mutter an Kindheit und Jugend in Mitteldeutschland, deren Inhalt den langen Schluss dieser letzten Erzählung bilden.

Exkurs: Pause von der Textkrake 

Wenn ich an die vier unterschiedlich langen Erzählungen von ›Die Ausgewanderten‹ denke, wird mir bewusst, wie selektiv ich beim Lesen wahrnehme, wie flüchtig Lektüre sein kann und wie ephemer infolgedessen die Aufnahme von Fremdgedachtem ist, sofern man sich nicht dauernd dazu diszipliniert, den Fokus zu wahren. Manches prägt sich einem ein, anderes überliest man – und wer sich nicht die Zeit nimmt, nochmals in den gelesenen Seiten zu blättern, bevor man fortfährt, dem entgehen vielleicht schöne Wendungen, Bilder, kleine Pointen, die einen unter anderen Umständen bewegt hätten, die einem ein Licht angezündet hätten, einen Gedanken eingegeben. Man war so nah an ihnen dran, sie standen einem vor Augen, boten sich an, still – um dann unbemerkt weggeblättert zu werden, ausgelassen, übersprungen. Vielleicht war man gerade unaufmerksam, hing noch in den Sätzen von eben, während die Augen gedankenlos weitereilten, suchte in den Zeilen nach etwas anderem oder weilte mit den Gedanken beim eigenen Leben etc.
Mit jedem überlesenen Satz stirbt man ein wenig. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass man genau diesen Band nochmals in die Hand nehmen wird und sich die Zeit für eine zweite und sorgfältigere Lektüre nimmt? Stunden des eigenen Lebens daran verwendet, in diesem gebundenen Haufen Papier noch einmal nach etwas zu suchen, von dem man nicht weiß, was es ist, während im Nebenzimmer so viele andere ungelesene Bände sich stapeln. Und dabei ausgerechnet diese Stellen liest, die beim ersten mal überlesen wurden?

***

Zwei abschließende Anmerkungen: Wer schon mal Arbeiten im Bereich der Geistesgeschichte schreiben musste, kennt den Effekt der feindlichen Übernahme des eigenen Textes durch den fremden, über den man schreibt: Oft unbewusst übernimmt man Duktus und sound, Stil und Stimmung, das zeigt sich etwa am Bilderreichtum, Rhythmus, an Erscheinungen wie der Hypotaxenepidemie oder am Pathos. So ging es mir bei diesen Erzählungen. Die beiden vorangehenden Abschnitte bergen Anzeichen einer ›Versebaldisierung‹ im frühen Stadium. Sie führen mir vor, wie sehr manche Lektüre das eigene Denken und Schreiben beeinflussen kann, wie sehr sie die Kopfkamera neu ausrichten, das Objektiv verstellen und den Sprechmund steuern kann.
Lesen heißt unter anderem, sich einzulassen auf eine andere Wahrnehmung, Perspektive, Gangart, Sprache. Sebald zu lesen, bedeutet für mich, mir die Frage zu stellen  – schöner: mich der Frage zu stellen –, wieso ich überhaupt lese, sofern es nicht um den spröden Prozess des Sichinformierens geht. Und die Antwort gibt mir meine eigene Herangehensweise: Sebald bremst mich ab auf Zeitlupe, ihn schnell zu lesen, erscheint mir sinnlos, denn er fordert Zeit, sich auf sein schweifendes, geduldiges Erzähltempo einzulassen. Sein idealer Leser ist eine Art Buchseitenflaneur. So gesehen, ist Sebald eine Art Therapie, eine Therapie von der funktionsorientierten Aufnahme von Geschriebenem, wie sie aus dem modernen Leben nicht wegzudenken ist, schon gar nicht seit dem Quantensprung der Elektrifizierung der Kommunikation. Die Welt – eine Textkrake.


W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Fischer-Verlag. Frankfurt 2002. 355 Seiten.
Mit ca. 30 Fotografien.

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