Sonntag, 2. Februar 2014

›Built to Last‹ (Meg Stuart / Damaged Goods und Münchner Kammerspiele, 2014)


Theater Gessnerallee

Festival ›No Limits‹
Aufführung vom 24.1.14

Mit: Kristof Van Boven, Dragana Bulut, 
Davis Freeman, Anja Müller, Maria F. Scaroni



Der Mensch ist ein Hampelmann – 

die Musik gewinnt


Windmühlen und Menschenwürde


Wer gegen Windmühlen anrennt, um sie zu erobern, zumal mit großer Geste, gilt in aller Regel als bemitleidenswert, lächerlich oder bescheuert. Das ist heute nicht anders als vor 400 Jahren und hängt wohl kaum von der Windmühlendichte ab. Man wird ja wohl noch bei Trost sein, wo gibt es denn so etwas. 

Wieso eigentlich? Die Welt ist unsere Vorstellung, sagt Schopenhauer, und wenn wir Windmühlen zu Burgen deklarieren, dann mag das zwar unsinnig und juristisch gesprochen ein untauglicher Versuch sein, doch das Gefühl während des Anrennens bleibt dasselbe. Ich nehme jetzt eine Burg ein. Und – tusch. Und ist es nicht das, was zählt? Das eigene, das ureigene Gefühl, etwas ganz Großem auf der Spur zu sein?

So sah es wohl auch Cervantes, als er mit seinem ›Don Quijote‹ metaphorisch verdeutlichte, dass der Mensch eine Würde besitzt, und zwar gerade indem uns der Dichter unsere Lächerlichkeit vorführte. Vorstellungskraft (Imagination) und Selbsttäuschung sind zwei Seiten derselben Münze.

These: Wir haben alle unsere Windmühlen, sprich unser ganz persönliches Drama, unsere Mission. Wir galoppieren vielleicht nicht dauernd durch die Gegend auf der Suche nach feindlichen Gebäuden, aber bei Lichte betrachtet nehmen wir unsere täglichen Beschäftigungen mindestens so ernst wie der ›Ritter von der traurigen Gestalt‹ seine Windmühlen. Nur nennen wir sie anders. Unsere Windmühlen heißen Beruf, Sport, Politik oder Nation, Romeo oder Julia oder ganz einfach ICH. 


Wir können gar nicht anders. Wir sind Don Quixote – und nicht der Dalai Lama. Wir spielen die Hauptrolle in unserem eigenen Film. Und dieser Film ist die Welt. Unsere Welt. Und das ist die einzige, die zählt. 

Denn: Wer will schon kampflos den Kopf einziehen und im richtigen und einzigen leben den Woyzeck mimen? Das Bauernopfer? Den Torpfosten? Hey! Wichtig! Ernst! Attacke! 


Unser aller Kampf 


Im Rückblick auf Meg Stuarts ›Built to Last‹ aus einer zeitlichen Distanz von acht Tagen dominiert der Eindruck einer Groteske mit sehr viel Wucht. Für die Wucht ist ausschließlich die Musik zuständig, für das Groteske sind es die fünf Tänzer. 

Tänzer? – Fünf Menschen bewegen sich zwei Stunden zu wechselnder symphonischer Musik. Sie sehen ziemlich alltäglich aus, mäßig attraktiv, blass, weder besonders frisiert noch geschminkt. Als seien sie direkt vom Callcenter, der Supermarktkasse oder der Cafeteria auf die Bühne geraten. 

Eine der drei Frauen hat etwas von Bridget Jones, zehn Jahre und zwanzig Kilo später. Ihre Haare sind gerade mal lang genug, dass sie von einem Haargummi zusammengehalten werden können, was ihr wächsern-schwammiges Gesicht noch sichtbarer macht. Der grausam gemusterte Strickpulli, der schon vor 30 Jahren eine Bestrafung gewesen wäre, hätte man ihn geschenkt bekommen, komplettiert das Bild. Fast unwillkürlich hört man sich denken: Und die soll jetzt zwei Stunden lang tanzen? Gehört die nicht ins MuKi? Aber hey, sie scheint es ernst zu meinen, genauso wie die beiden anderen Frauen, auf ihre Weise unscheinbar und zurückgenommen. 



Von den beiden Männern erweckt der kleinere vom ersten Moment an den Eindruck, dass seine geringe Körpergröße ihn dazu antreibt, auf besonders unangenehme Weise um Aufmerksamkeit zu ringen, umso größere Schritte und Bewegungen zu vollführen. Männliche Bonsais haben bekanntlich keinen leichten Stand. Besonders wenn der Kollege umso längere Beine hat und mit George Clooney verwandt sein muss, und zwar in der Comedyfassung. Der kommt dann auch bald mal mit dem Silbershirt auf die Bühne, das er bis zuletzt nicht mehr hergibt. Die Art und Weise, wie er immer wieder die Zähne bleckt, hat etwas Zwanghaftes, gleichzeitig Anrührendes, ein verbissener Athlet, der verzweifelt zu kommunizieren versucht, wie viel Spaß er hat. Und dass das, was er gerade vollführt, ganz großes Theater ist. 

Und das ist das eine, was an diesem Theaterabend wirklich großartig ist. Denn in diesem Kontrast liegt die Pointe: was die fünf tapferen Gestalten da vollführen, ist – so gar nicht großartig, sondern – befremdlich, (vermeintlich) unkoordiniert, virtuos ungelenk, tragikomisch. 



›Built to Last‹ ist in jedem Fall die Musik


Egal, wie ernst oder gefasst, wild oder entschlossen sie im Kreis auf den Knien kriechen, im Kollektiv den Laufschritt in verschiedenen Tempi proben oder spastische Sprünge vollziehen, ob sie tierhafte Masken anhaben, Schwerelosigkeit mimen (toll!) oder sich brünstig wälzen – es sieht alles irgendwie nach einer rätselhaften Form von gruppendynamischer Bewegungstherapie aus. Voll lauter bedeutungsschwangerer Posen und Gesten. Seht her! Nun seht doch her! Seht mich an, was ich alles zu zeigen habe, was ich alles ausdrücke.


Man sieht hin, verwundert, erstaunt darüber, wie selbstverständlich und selbstbewusst sie die groteskesten Verrenkungen und vermeintlich symbolhaften Bewegungen vollziehen, zumeist vollkommen unzusammenhängend.  Stückwerk ohne Anfang und Ende. Eine Posse?

Sicher, eine Posse, was sonst, wäre da nicht die eigentliche Hauptfigur, das andere Großartige: die Musik. Sie ist omnipräsent und superdominant, vibrierend bis tosend füllt sie den Saal, zwei Stunden lang Klassik im Quadrat. Nebst Bekanntem von Bruckner, Dvorak, Beethoven hört man Stockhausen, Schönberg, Monk, Rachmaninov und einige mehr, deren Namen dem musikgeschichtlich bloß durchschnittlich Gebildeten weniger geläufig sind.


Dank ihrer majestätischen Geschlossenheit, ihrer Wucht und ihrem Pathos wird aus der Posse menschlichen Treibens auf der Bühne ein existenzielles Drama. Zwar fehlen die Windmühlen, die muss man sich malen. Dafür schweben hoch droben die Planeten. Passt. Ein Weltheater, großes All, kleine Fäuste, fünf an der Zahl. Und ganz viele, die ihnen dabei zusehen.


Auch ohne György Ligetis schrill-sphärische Musik (sie erklingt zweimal) denkt man bei diesem Bühnenbild an die Kälte des Raums in Kubricks ›2001‹ und an Lars von Triers ›Melancholia‹ – die eitle Vergeblichkeit des menschlichen Treibens. Das kommt dann sehr schön ironisch, wenn die Grausamer-Pulli-Trägerin mit großer Geste auf einem Container stehend die sich plötzlich bewegenden Planeten zu dirigieren vermeint.


Sie alle sind wir selbst – das ist es, was einem durch den Kopf geht. Sie sind alle am Rennen,  am Kämpfen, am Sichaufplustern, sie stehen im Zentrum ihres ganz individuellen Dramas, das man von außen gesehen gar nicht verstehen kann, unkoordiniert und kryptisch, während in ihren Köpfen dieses Musikdrama spielt. 

***

Der Mensch ist ein Hampelmann. Seine Würde beruht auf einem ›Trotzdem‹. 


Die Kunst überragt ihn. Er hat sie immerhin geschaffen. Aber sie überragt und überlebt ihn. 

Auch sie wird vergehen, genau wie die Dinosaurier vergingen, die in Form eines einzelnen Exemplares aus Holz auf der Bühne präsent sind.



Was ist das mit dem Performancetheater?


Im Performancetheater von dieser Machart und Qualität – Meg Stuart ist ja eine der ganz Großen Ihres Fachs – ist es mir gestattet, den Menschen auf der Bühne ungestört beim Menschsein zuzusehen, ohne von irgendwelchen Plots, Dramaturgien oder besonders augenfälligen Fähigkeiten abgelenkt zu werden. Die Absichten eines Molière, Tschechow oder Beckett können mir egal sein. Die Tänzer sind keine durchtrainierten, in Szene gesetzten Bewegungsübermenschen, die ich bewundern muss etc.. Ich darf sie einfach ansehen.

Das – und anderes mehr – erlaubt mir eine unbefangene Neugier, eine innere Entspanntheit, eine gedankliche und emotionale Freiheit, die größer ist als bei anderen Formen von Theater, die Scheinwerfer Richtung Bühne sind immer auch eine Art Scheinwerfer in mein Ich. In den Don Quijote in mir. Sehr inspirierend. Sie leuchten was aus. Mehr davon.


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