Dienstag, 15. Juli 2014

Angelika Klüssendorf: Das Mädchen (2011)

In Familiengewittern

Nach zwanzig Seiten fragte ich mich, wieso ich mir so einen Text antue, nach vierzig Seiten erneut, nach sechzig Seiten wollte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Dieser Roman einer abgefuckten Kindheit in der ehemaligen DDR entwickelt enorm Zug und beeindruckt inhaltlich und sprachlich, je länger man darin liest. 

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Wie bewahrt man die Selbstachtung, wenn man solch einer Mutter ausgeliefert ist und solchen Vätern? Solchen Behörden, solchen Lehrern und solchen Menschen? 
Falsche Frage. Sie müsste lauten: Verliert man nicht notwendig diese Selbstachtung, wenn man andauernd angeschrieen und geschlagen wird, zu hören bekommt, man sei eine Missgeburt, die leider nicht verhindert worden wäre, wenn man regelmäßig entweder Stubenarrest erhält (ein Monat, ein Jahr, ein weiteres Jahr, absurd) oder aus der Wohnung verbannt wird? Und dann plötzlich wieder geherzt wird, aus heiterem Himmel, »mein Pferdchen« genannt wird, bis der nächste Sturm aufzieht, der nächste Einschlag. Den die beiden Kinder schon vorhersehen, erwarten, fürchten. Bis das alles so normal ist, dass es trotzdem die Heimat darstellt, nach der man sich sehnt. Das letzte vor allem, immer wieder Geschenke, Aufmerksamkeiten, Briefe an die Mutter. Stockholm-Syndrom oder unkaputtbare natürliche Liebe zur Erzeugerin? Wer kann das schon beurteilen?

Mein lieber Schwan, das ist sehr dicke Post, was Klüssendorf hier an Szenen schwärzester Pädagogik aneinanderreiht. In Familiengewittern, um mit Jünger zu kalauern, dessen Kriegstagebücher mich diesen Frühling mit einer vergleichbaren Repetitivität absurder Brutalität überraschten, eine Lektüre, die nachwirkt und Spuren hinterlässt, wenngleich auf anderen Schlachtfeldern und in anderen Dimensionen.

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Die Odyssee des jungen Scheidungskindes umfasst rund sechs Stationen, verteilt auf 26 Kapitel, und endet, als sich abzeichnet, dass sie mit 17 ihre Lehre abbricht, zu der sie verdonnert wurde. Dazwischen lebt sie mal beim Vater, mal im Heim, mehrmals nimmt sie Reißaus, besucht mehrere Schulen an verschiedenen Orten, vergleichbar mit Toto, dem zwangsoptimistischen Zwitter aus  Sibylle Bergs ›Vielen Dank für das Leben‹ (2012), einem Roman, der von vergleichbaren Umständen erzählt. 
Die äußeren Kämpfe, die das namenlos bleibende Mädchen mit allen möglichen Menschen und Institutionen austragen muss, wirken dabei nicht schlimmer als diejenigen, die sie mit sich selbst austrägt. Denn sie muss sich ja auch zu sich selbst verhalten, an sich festhalten, irgendwie die Zeiten der Abhängigkeit übersehen und überleben und etwas in ihrem Inneren finden, woran sie sich klammern kann.
Symptomatisch dafür: sie spielt gerne Verkehrstod, rennt ansatzlos auf die Straße vor herannahenden Autos, um zu testen, ob die es schaffen, rechtzeitig zu bremsen. Als ihr Bruder Alex alt genug dazu ist, bringt sie ihn dazu, mitzuspielen. So was geht dann auch mal schief. Aber wovor soll man noch Angst haben, wenn die schiere Existenz bereits Anlass genug ist, zuhause misshandelt zu werden? Andererseits ist für sie der Tod kein Thema, suizidal veranlagt ist sie nicht. Da es ja so nicht ewig weitergehen kann, bleibt das Leben ein offenes Versprechen, auf dessen Einlösung sie nicht zu verzichten bereit ist. 
»Es gelingt ihr nicht, sich vorzustellen, dass sie sich einfach auflösen wird, denn sie ist überzeugt davon, dass alles, was auf dieser Welt geschieht, etwas mit ihr zu tun hat; die Luft, die sie atmet und die sie umgibt, ist nur da, weil es sie gibt, würde sie nicht atmen, gäbe es auch keine Luft.« (41)
Natürlich leidet ihr Selbstbild noch viel mehr, als das bei Heranwachsenden eh die Regel ist. Sie ist vor sich selbst ein Freak, äußerlich wie innerlich. Sieht man ihr nicht an, aus welchem Stall sie kommt, welcher Hölle sie gerade mal wieder entronnen ist? Am meisten leidet sie darunter, dass sie eine Spätentwicklerin ist (sie stopf sich Socken in den BH und trägt stets zwei Paar Hosen übereinander) und so langgliedrig und dünn, dass sie nur Hungerhaken, Speiche oder Kleiderständer gerufen wird. Selige Kindheit.
Richtig schlimm allerdings wird es, wenn sie Aggressionen in sich spürt und sie reproduziert, was ihr vorgelebt wurde und das sie kaum kontrollieren kann. Sie äußern sich nicht nur in Träumen, sondern auch in bewussten Gedanken und ggen unschuldige Offer wie z.B. den streunenden Hund namens Hugo, den ihr Vater irgendwann mal nach Hause bringt und den er regelmäßig sorgfälig badet – während er seine Tochter konsequent ignoriert.
»In ihr wächst ein übermächtiger Zorn auf Hugo, sie hat das Gefühl, als befänden sich kleine, spitze Messer unter ihrer Haut, und hielte der Zorn noch länger an, würden diese Messer ihre Haut durchstoßen.« (95)
Verzweifelt kämpft das Mädchen um Selbstachtung, immer wieder versucht sie sich selbst zu stärken, indem sie die Lächerlichkeit der ihr überlegenen Erwachsenen, die sie quälen und ihr Steine in den Weg legen, sucht und findet. Sie spuckt ihnen mit Worten vor die Füße, ein probates Mittel der Distanznahme, Spott und Hohn als Mittel zum zweck der Selbstbehaupung. Da muss man nicht selten lachen beim lesen, tatsächlich. Zum Beispiel wenn sie den übergewichtigen Heimleiter beschreibt:
»Seine halslose Gestalt erinnerte sie an eine Rohrdommel, der Bauch scheint schon am Kinn zu beginnen, und er läuft etwas steifbeinig, als müsse er das gehen noch üben.« (116)

Die verbreitete geduckte Obrigkeitsgläubigkeit der Bürger und Bürgerinnen des DDR-Staates, gegen die sie rein instinktiv und gänzlich unpolitisch im Verlauf des Romans immer mehr revoltiert, indem sie sich zu allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten renitent gibt, äußert sich in der folgenden Szene, als im Krankenhaus eine sehr selbstbewusste Patientin die Zimmergenossinen lauthals begrüßt:
»Grüß Gott, alle miteinander. Ich bin die Marianna. Die anderen Frauen tauschen Bicke aus, eine solche Begrüßung sind sie nicht gewohnt. Sie grüßen so leise zurück, als würde Honecker, der natürlich auch hier von den Wänden lächelt, sonst vor Schreck aus dem Bilderrahmen fallen.« (154)
Ihr liebstes Buch: Dumas' Ausbruchsgeschichte ›Der Graf von Monte Christo‹. 

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Fazit: Ein beeindruckendes Portrait einer Amazone, notgeboren. Mit kindlichem Trotz und sich immer weiter steigernder Renitenz bringt sie sich zwar in immer neue Probleme, kommt aber auf diesem Weg auch immer mehr zu sich und wehrt sich gegen die Rolle eines Opferlamms. Auf diesem Weg macht sie sich so gut das geht zur Herrin über ihre weitere Geschichte – mit unsicherem Ausgang.  

Angelika Klüssendorf: Das Mädchen. Fischer Taschenbuch. Frankfurt a.M. 2011. 183 Seiten.

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