Freitag, 1. Januar 2016

Victoria (D 2015)



Regie: Sebastian Schipper
Es spielen:
Laia Costa (Victoria), Frederick Lau (Sonne),
Franz Rogowski (Boxer), André Hennicke etc. (siehe hier


Der Charme der Freiheit

Sonne, Boxer, Blinker, Fuß. So muss man heißen, wenn Freundschaft mehr als eine Floskel ist und die Nacht erst dann zu Ende, wenn das Kollektiv es absegnet. Kraft durch Assoziation, gelebte Bande. Daneben verblassen all die netten und zuvorkommenden Michis, Thomis & Danis schon mal zu traurigen Pappkameraden mit zwei Jahren Blockflötenerfahrung und jetzt aber mal heim ins Bett.

Sonne ist eine Art Kopf der Viererbande, er ist es auch, der Victoria aufgabelt, die eigentliche Protagonistin. Die Spanierin hat sich in einem Club müde getanzt und will gerade aufbrechen, als sie von ihm ausgespäht und aufgegabelt wird. Sonne, schon mit leichter Schlagseite, macht seinem Namen alle Ehre, er strahlt sie an und wirbt mit radebrechendem Englisch um ihre Aufmerksamkeit. Dauernd will sie heimradeln, weil sie früh raus muss, und immer wieder will er ihr nur was zeigen, was das echte Berlin ist. Weil er und seine Kumpels sind doch echte Berliner und keine Zugezogenen, die sich nur Berliner nennen. Das wollen wir hier mal festhalten.

Und eh sie sich versieht, ist die mutige Victoria aufgenommen und wird mitgeschleppt, wie eine kleine Schwester, die mal mitdarf, wenn die Großen auf Tour sind. Sie spürt: bei denen bin ich gu aufgehoben, die wollen mir nicht an die Wäsche, die wollen nur Hier-und-Jetzt, und das möglichst lange. Jeder der vier Männer wollen ihr gefallen, sie beschützen, ihr was zeigen, jeder versuchts auf seine Tour, das elleine ist schon sehr sweet anzusehen.  

Der Charme der Freiheit ist sehr anziehend, auf die vor Erwartung leuchtende Victoria wie auf uns, wenn wir den fünf Mittzwanzigern dabei zusehen, wie sie einander auf den Arm nehmen und umarmen, wie sie einander umschwirren und anblaffen, denn Freunde schulden sich Direktheit ohne Fehl, besonders in Berlin. Die ganze Zeit wird geredet, alles ist dringend und muss jetzt gesagt werden, denn wenn man es jetzt nicht sagt, geht es womöglich vergessen oder man gerät in die Peripherie der kollektiven Aufmerksamkeit. Im Grunde verhandeln sie nichts Wesentliches, es ist mehr ein Gruppenflirt mit Sonne und Victoria im Zentrum. Solonummern sind allerdings verpönt und kaum haben sich die beiden mal kurz abgesetzt – der große Moment der Ruhe, der den Film in zwei Teile trennt – holen die anderen sie wieder ein.

Es gibt nämlich noch etwas zu erledigen, das sie Victoria verschwiegen haben. Boxer saß mal im Gefängnis und war dort auf den Schutz eines älteren Knastbruders angewiesen – nun soll er dem einen Gefallen erweisen. Wobei die Kumpels nicht fehlen dürfen.

Bei Victoria wirken die Dialoge und moves wie frisch von der Improbühne. So spontan, ungeplant bis chaotisch und mit viel Drive, wie sich die Nacht entwickelt, bewegt sich auch die Kamera, als würde sie der Gruppe angehören. Der Charme der Freiheit spielt eben auch auf dieser Ebene. Bei ganz vielen, eigentlich den meisten Filmen, die ich mir so ansehe, denke ich irgendwann: ah ja, so läuft das, klar, jetzt wird wohl … genau. Muss ich das wirklich zu Ende sehen? Und dann gibt es Filme, die erlebe wie diese Achterbahn im Europapark, die durchs Dunkel führt. Du weißt nicht, was als Nächstes kommt. Du bist nicht sicher, wo es dich durchführt und ob du das nun genießen darfst oder etwas fürchten musst. Sie mögen alte Geschichten erzählen, aber sie erzählen sie neu und anders. Das sind so Filme, die mich bewegen und die mir deshalb bleiben. 

Einen Haufen anderen Kram zum Film kann man beispielsweise hier erfahren:
BZ
SPIEGEL online
SPIEGEL online (Interview)
The Guardian

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