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Donnerstag, 14. April 2016

Juli Zeh: Unterleuten (2016)




Jeder gegen jeden in Brandenburg 

»Mit dem Dorf stimmt was nicht. Ganz massiv.« (434)
Sagt Mirjam, die 18-jährige Tochter des Kfz-Mechanikers Schaller, der seit einem schweren Verkehrsunfall zwei Jahre zuvor unter einer Teilamnesie leidet und sich am wohlsten fühlt, wenn er alleine und ungestört an kaputten Autos arbeiten kann, der Duft von Motorenöl in der Nase. Doch alleine zu leben ist ein frommer Wunsch. Jeder hat ökonomische Bedürfnisse, Nachbarn, eine Geschichte – gerade in einem abgelegenen Dorf, in dem oft schon die jeweiligen Großeltern miteinander zu tun hatten. Wenn dann noch die Routine gestört wird, zum Beispiel durch Neuzuzüger oder in Form eines geplanten Windparks, gerät das soziale Gefüge in Bewegung, Bündnisse kommen auf den Prüfstand, Risse treten zutage, Leichen im Keller erweisen sich als Untote.

Juli Zehs 6oo-seitiger Roman über die brandenburgische Gemeinde mit dem programmatischen Namen Unterleuten erzählt von der Schwierigkeit eines friedlichen Zusammenlebens auf Dauer. Das Personal besteht aus rund einem Dutzend Figuren, deren Familiennamen am Beginn eines Kapitels jeweils ankündigen, aus wessen Optik das Folgende erzählt wird: Gombrowski, Kron, Franzen, Seidel, Schaller etc. Literarische Vorbilder für dieses Erzählverfahren sind z.B. ›Manhattan Transfer‹ (Dos Passos, 1925) oder ›Tauben im Gras‹ (Koeppen, 1951) und wie dort besteht der Mehrgewinn darin, dass wir viele Ereignisse und Geschichten mit unterschiedlichen Wertungen und Färbungen erfahren. Den spezifischen Blickwinkel, das individuelle Biotop, das jede Figur darstellt, kommen mehr zu ihrem Recht. Das Gesamtbild schillert und changiert, was die Lektüre bereichert und auch anspruchsvoller macht.

Die Abwechslung, die daraus folgt, mag nebst dem Namen der Autorin einer der Gründe dafür sein, warum ich mich mit einem Roman befasse, dessen Schauplatz mich erstmal gar nicht interessiert. Aber so richtig gar nicht. Warum ich mir also in epischem Breite von den üblichen Belanglosigkeiten eines durchschnittlichen Kaffs erzählen lasse.

Ein zweiter Grund ergibt sich durch die Wahl des Personals. Hier ist es bestimmt kein Zufall, dass meine Favoriten die beiden Berliner Paare sind, die aus ganz unterschiedlichen Motiven aufs Land gezogen sind. Denn eins ist klar: Berlin und Unterleuten sind zwar geografisch gesehen bloß 70 km weit voneinander entfernt, de facto aber müsste man die Differenz zwischen der Hauptstadt und dem brandenburgischen Hillibillycountry so beschreiben, wie ich es einmal in einem (ansonsten leider schlechten) Sci-Fi-Film ganz grandios formuliert gehört habe und in dem sich eine amazonenhafte Schöne von einem sie anhimmelnden Jüngling abgegrenzt hat. Das klang etwa so: ›Wenn dein Universum explodierte, würde es Lichtjahre dauern, bis ich in meinem Universum etwas davon mitbekäme‹.

In den Augen der alteingesessenen Unterleutnern  ist eine Stadt wie Berlin allenfalls »eine Ansammlung von haushoch gestapelten Heimatlosen« (249). sagt der bärbeißige Gombroski, und übrhaupt verhandelt Juli Zeh dieses dankbare Konfliktpotenzial zwischen Stadt und Land auf sehr humoristische Weise. In diesem wie auch in anderen Bereichen gibt es bedeutend mehr zu lachen als in ihrem letzten Roman ›Nullzeit‹ (2012).

Zurück zu den vier Stadtmenschen: Da ist Linda Franzen, eine 25-jährige geschäftstüchtige Pferdeflüsterin: burschikos, ehrgeizig,  gescheit, scharfe Kanten, ein »Mover« (264), um es in der Terminologie Ihres Lieblingsratgebers Mein Erfolg zu sagen, den die Erzählerin mehrfach und zwar sarkastisch zitiert – Buch wie Autor sind übrigens erfunden und von Zeh aufwendig virtuell inszeniert worden. Ihr Partner Frederik Wachs ist – es genügt der Name – ein Computernerd mit dem Spezialgebiet Spiele-Software, langhaarig und unpraktisch veranlagt, er »sah nett aus und ein bisschen albern, typischer Wahl-Berliner, mit ausgelatschten Turnschuhen, künstlerischen Ambitionen und dem festen Entschluss, lieber zu sterben als erwachsen zu werden.« (174)

Der geschäftlich enorm erfolgreiche Frederik hat sich nicht aus bloßer Liebe darauf eingelassen, seinen Techniktempel in die Pampa zu verlegen, sondern aus schierer Alternativlosigkeit. Einschlägigen Internetforen, in denen sich betroffene Partner sogenannter »Rossfrauen« austauschen, verdankt er die Erkenntnis, dass eine solche, von einem Gangster vor die Wahl gestellt, ganz bestimmt den Mann und nicht ihr Pferd opfern würde.
»Dass die Teilnehmer ›man(n) muss wissen‹ schrieben, nervte Frederik nicht weniger als das weibliche Pendant ›frau weiß nie‹ in feministischen Quasselgruppen. trotzdem hatten seine Schicksalsgenossen recht mit ihrer Analyse. Der Kern des Problems bestand darin, dass ›man(n)‹ mit einer fremden Spezies konkurrieren musste, Man(n) konnte von Natur aus nicht größer, schneller, behaarter, muskulöser sein als ein Pferd. Jede Form von Wettkampf war chancenlos. (137)
Die Autorin hat hier ein hübsches Paar kreiert, von dem man aufgrund gewisser Untiefen wirklich gespannt ist, wie es sich im Nahkampf des Brandenburgischen Dschungels weiterentwickelt. Spektakulär ist auch die Szene, wenn eine Frau vom Kaliber einer Linda Franzen mit dem 6o-jährigen, selbstgefälligen Geschäftsmann Meiler (!) aus Ingolstadt die Klingen kreuzt, und zwar im Berliner Adlon. Eine meiner Lieblingszenen.

Das zweite zugezogene Paar besteht aus dem Ex-Politologieprofessor und Neuornithologen Gerhard Fließ und seiner ehemaligen Studentin Jule Weiland. Zwischen ihnen beiden liegen nicht nur glatte 20 Jahre, sondern auch die Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Sophie sechs Monate zuvor. Während der bis in die Knochen politisierte Fließ sich ganz seiner Veranlagung gemäß umweltschützerisch verausgabt und sich mit seinen Briefen und behördlichen Drohgebärden im Dorf vor allem Feinde macht, ist die junge Mutter vor allem erstmal Mutter im fortgeschrittenen Hormonhoch:
»Sie begriff die Nichtigkeiten nicht mehr, mit denen sich andere Menschen beschäftigten. Die Welt bestand nur noch aus Leuten, die nicht in der Lage waren, Sophie angemessen zu behandeln. […] Gelegentlich erinnerte sich Jule daran, was sie vor der Geburt über Mütter gesagt hatte, die wie Affen an ihren Babys hingen. Das galt immer noch. Aber es waren eben andere Babys und nicht Sophie.« 120
Beide Paare sind als Neulinge noch Fremdkörper in Unterleuten, beiden droht Ungemach. Hier setzt die Romanhandlung an. Der militante Vogelschützer Fließ will alle baulichen Maßnahmen verbieten, die seine Vögel gefährden könnten, Franzen braucht Land für ihre geplante Pferdezucht. Wer aber die bestehenden Strukturen und Gepflogenheiten nicht kennt oder nicht kennen will, gerät so ungewollt wie unweigerlich auf Widerstand und betritt früher oder später das verminte Gelände einer alten Fehde zwischen den beiden dörflichen Widersachern Kron und Gombrowski. Deren Konflikt reicht Generationen zurück, hier spielt die DDR-Geschichte eine nicht unwichtige Rolle, und es ist einer der Spannungsbogen des Romans, wie sich dieser Erzählstrang entwickelt.

Den zweiten großen Spannungsbogen und das Handlungsmoment, das für die gesellschaftliche Ordnung einer Zerreißprobe darstellt, bildet der Einbruch der Realpolitik in Form eines Windparks. Der smarte Firmenherold namens Pilz, der in der Dorfkneipe die windbewegte Zukunft des Dorfs rosa ausmalt, tritt mit dem Selbstbewusstsein desjenigen auf, der weiß, dass der Entscheid bereits gefallen ist und sich einzig noch die Frage stellt, wer daran verdienen will und wird.

Mit dieser Frage ist der Roman endgültig lanciert. Verteilkampf und Grabenkrieg, Gerüchteküche, üble Nachrede und und fliegende Lagerwechsel. Wer hat die Finger im Spiel, wusste schon vorher davon und hat was mit wem vereinbart? Man erfährt immer mehr über die Vergangenheit der einzelnen Individuen und Familien, und je mehr man über sie erfährt, desto weniger weiß man, wem man welches Schicksal gönnt oder wünscht, so unüberschaubar ist die Kette von unglücklichen Existenzen und Liaisons, geplatzten Träumen und verpufften Energien.

»Jeder sitzt auf seiner Beute und schlägt nach den anderen.« (Schaller, 354)

Getragen wird das Ganze zum einen von in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden luziden und inspirierenden Betrachtungen, zum Beispiel zur Opfer-Täter-Thematik in der rumorenden Nachwendezeit:
»Wer sich enteignet fühlte, nahm sich etwas anderes zur Entschädigung und erzählte über jenen, dem es gehörte, die schlimmsten Geschichten. Grundsätzlich waren die eigenen Kinder nicht aus Dummheit, sondern aus politischen Gründen durchs Abitur gefallen. Berufliches Scheitern taugte plötzlich als Beweis für geleisteten Widerstand gegen das Unrechtssystem, so dass die größten Versager mit geschwellter Brust umherstolzierten und den Erfolgreichen vorwarfen, sie hätten auf den Schößen der Bonzen gesessen.« (438) 
Oder über die tiefere Wahrheit der gerne idealisierten Hilfsbereitschaft:
»Jeder geleistete Gefallen stellte eine Investition in die Zukunft dar. Denn so lautete die Definition von Macht: die Möglichkeit, in Zukunft von einem anderen etwas zu verlangen. Entsprechend groß war die Hilfsbereitschaft« (362) 
Zum andern lebt der Roman wie zuletzt ›Spieltrieb‹ (2004) von der sprachlichen Brillianz und Formulierungslust Juli Zehs, ihren schräschönen Vergleichen und zugespitzten Beschreibungen. Sie retten einen auch über das eine oder andere etwas längliche Kapitel, in dem sich eine Figur um sich selbst dreht.

»Linda war das Gegenteil der Loveparade, und die Loveparade war tot.« (418)
»Dann sehnte er sich nach dem Holz- und Farbgeruch von Objekt 108 und nach Lindas Art, das Leben mit beiden Händen zu würgen – so wie er sich jetzt nach der Berliner Uneigentlichkeit sehnte.« (244)
»Das neue Wundergerät hatte Frederik bei einem Potsdamer Fachgeschäft bestellt, in dem über Kaffeesorten so blumig geredet wurde wie andernorts über moderne Kunst.« (296)
»Fließ holte tief Luft und bemerkte erstaunt, dass die Sprechmaschine keinen Nachschub lieferte.« (271)
»Die Worte ›gesundheitsschädlich‹ und ›Sophie‹ ließen Jules Verstand in den nächsten Gang schalten. Sie schaute sich im Saal um. es roch noch immer nach Bratenfett und war viel zu warm. Um sie herum saßen die Dörfler wie Vieh, das nicht wusste, ob es auf Schlachtbank oder Futter wartete. Vorne stand die Brillenschlange vor den Photos von Windmühlen im Sonnenuntergang.« (125)

Steht am Ende der Lektüre ein Erkenntnisgewinn über das trübe Dasein im brandenburgischen Land oder die Machenschaften in ländlichen Gefilden? Wohl kaum. Man konnte es sich so oder ähnlich vorstellen. Der Roman bietet eher ansprechende Unterhaltung auf gehobenem Niveau zum zwischenmenschlichen Allerlei mit Abstechern in die Psychologie und Sozialphilosophie.
Juli Zeh zu lesen, ist für mich immer ein Vergnügen, gerade auch wegen der Leichtigkeit und Schärfe ihres Tons. Und dass sie es schafft, dass man über mehr als 600 Seiten mühelos dran bleibt, spricht dafür, dass sie mich nach wie vor inspiriert und etwas zu erzählen hat, was andere so nicht erzählen.


Angaben:
Juli Zeh: Unterleuten.
Erste Auflage. 635 Seiten.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016.

Samstag, 11. August 2012

Juli Zeh: Nullzeit (2012)


Ein Vexierspiel zwischen Schein und Sein

Juli Zeh hat es mit den Dreiecksgeschichten. In ihrem Erstling Adler und Engel (2001) erzählt der Jurist Max von seiner Liebe zu der verstorbenen Jessie, die ihrerseits einem schönen Perser namens Shersha verfallen war. In Spieltrieb (2004) laviert die düsterzynische Schülerin Ada zusehends zwischen dem impotenten Alev, einem Altersgenossen und Seelenverwandten, und dem naiven verheirateten Lehrer Smutek, der sich in eine Erpressung verwickeln lässt. In Schilf (2007) ist der Familienvater Sebastian eingeklemmt zwischen Maike, seiner bodenständigen Frau, und seinem langjährigen Busenfreund Oskar, einem snobistischen Quantenphysiker. In Corpus Delicti (2009) findet die Dreiecksbeziehung auf ideologischer Ebene statt: Mia Holl muss sich zwischen der regierungskritischen Position ihres verstorbenen Bruders Moritz und dem Chefideologen Kramer entscheiden.
In Nullzeit (2012) ist es nun ein deutscher Tauchlehrer, der sich auf eine Affäre mit seiner Kundin einlässt.

Der Roman spielt von A bis Z auf einer Insel im Atlantik, Kanaren oder Azoren, und ist vorwiegend aus der Perspektive von Sven Fiedler geschrieben. Er verließ Deutschland nach seinem bestandenen Juraexamen fluchtartig, weil er es in dem »Kriegsgebiet« nicht mehr aushielt. Kriegsgebiet?
»Ich hatte Deutschland verlassen, weil ich das Leben in einem allumfassenden Netz aus gegenseitigen Beurteilungen nicht länger ertrug. Urteilende und Beurteilte befanden sich im permanenten Kriegszustand, und jeder füllte, je nach Situation, die eine oder andere Rolle aus. Alle, was meine Kunden von zuhause erzählten, waren Berichte von der Urteilsfront […]« (S. 35f.)
Ein Zivilisationsflüchtling also, und ein ideologischer Epigone Rousseaus dazu. Statt der deutschen Rechtspraxis hat er sich dem Meer verschrieben. Das Tosen der Brandung nährt ihn, das Wasser ist sein Element und die Tauchgänge sind für ihn Heimspiele. Dort kommen ihm schon mal absonderlich klingende Gedanken:
»Ich wollte mich auf den Grund setzen, mir Kiemen wachsen lassen, um frei atmen zu können. […] Die Barrakudas hätten bestimmt nichts dagegen gehabt, es gab Platz genug für alle. […] Ich konnte hier heimisch werden. Schließlich wusste ich, wie das Leben unter Wasser funktionierte.« (S. 229)
Ganz abgeschieden lebt er allerdings nicht vom verdorbenen Menschengeschlecht. Zum einen sind da die zumeist deutschen Kunden, die jeweils mit erwartungsfrohen Urlaubsgesichtern ankommen, selig, ihrer bellizistischen Heimat entronnen zu sein, ferner einzwei Freunde aus derselben Branche – und dann ist da noch Antje, seine Lebensgefährtin. Sie ist zehn Jahre jünger als er und in ihn verliebt, seit sie denken kann. Umgekehrt – nicht. Als er vierzehn Jahre vor Einsetzen der Romanhandlung seinen Abschied aus Deutschland ankündigte, schloss sie sich ihm an (er hatte sie nicht gefragt) und seither betreiben sie gemeinsam die Tauchschule, Antje am Schreibtisch, Sven im Neoprenanzug.  Man hat allerdings rasch verstanden, dass ihre Beziehung eher geschwisterlicher Natur ist. Keine Leidenschaft. Nirgends. Sven hat diese besondere, diese gefräßige Form der Liebe noch nicht entdeckt, und sie wäre von ihm unentdeckt geblieben, hätte sie sich ihm offenbart, und zwar in Form von Jola. Es knistert bereits bei der ersten Begegnung und Berührung in der Begrüßungsszene am Flughafen, die in wenigen Worten thematisch vieles vorwegnimmt und auf den Punkt bringt:
»Dann drückte ich die Frau. Sie war schmiegsam wie ein Stofftier. Für einen Augenblick glaubte ich, sie würde zu Boden fallen, sobald ich sie losließe.« (S. 9)
Verbotene Früchte schmecken besonders süß. Und Kunden resp. Kundinnen sind für einen Tauchlehrer verbotene Früchte, besonders wenn sie in Begleitung erscheinen. Das ist schlecht für den Ruf und damit schlecht fürs Geschäft. Deshalb ist Sven von Anfang an bemüht, sich die attraktive Jola vom Leibe zu halten. Jola heißt eigentlich Jolante Auguste Sophie von der Pahlen, und der Name ist Programm. Sie ist nicht aus irgendeiner Familie und sie ist keine beliebige Kundin, sondern sie ist umgeben von einer Aura, die sagt: nimm mich wahr, sieh mich an. Eine klassische Femme fatale, so klassisch, das es schon fast wieder kitschig ist. Zuweilen hört sich der Erzähler Sven wie der Voice-Over von Orson Welles in The Lady from Shanghai (1947) oder einem der anderen zahllosen Beispiele des Film Noir an, in denen der männliche Protagonist von seinem Schöpfer einer geheimnisvollen Schönen ausgeliefert und ihren Spleens, ihren Launen und ihren Obsessionen zum Fraß vorgeworfen wird. 
»Jola trug ein silbrigweißes Kleid, das, matt schillernd wie eine Flüssigkeit, auf die kleineste Bewegung reagierte. Die dunklen Haare hatte sie geflochten und zu einem Kranz um den Kopf gelegt. Sie war atemberaubend schön. Sie hatte dafür gesorgt, dass wir eine Viertelstunde zu spät kamen. Auf der Gangway nahm sie meinen Arm. An Bord verstummte das Gespräch. […]« (S. 194)
Seit Jahren ein Star der TV-Soap namens Auf und Ab, führt sie mit dem gut zehn Jahre älteren Schriftsteller Theo Hast eine reichlich undurchsichtige bis krude Beziehung und erhofft sich, mit dem zweiwöchigen Tauchkurs eine ideale Ausgangslage für ein Casting zu verschaffen für einen Film über das Leben der Taucherin Lotte Hass (Jahrgang 1928). Sie plant den großen Karrieresprung von der austauschbaren TV-Allerweltsware zum Großen Film.

Allerdings gewinnt man aus Svens Perspektive bald den Eindruck, als wolle Jola den Urlaub mindestens zu gleichen Teilen dazu benützen, sich von dem zur Gewalt neigenden Theo zu trennen. Dabei scheint ihr der smarte und vertraglich gebundene und irgendwie vollumfänglich für ihr Wohlergehen zuständige Tauchlehrer gelegen zu kommen, jedenfalls wirft sie sich recht offensichtlich an Sven ran – und Theo lässt sie gewähren, nicht ohne seinen Rivalen vor ihr zu warnen, den er bald mal bloß noch »kleiner Scheißer« (S. 128) nennt.

Damit ist die Exposition für ein Beziehungsdrama ausgelegt, inmitten der rauhen atlantischen Atmosphäre. Im Zentrum steht Svens Überforderung und sein eroberungswilliger Blick auf die begehrenswerte femme fatale, seine Skrupel und die Nebenbuhlerschaft zu Theo. Ist Sven also Jolas Opfer? Na ja, it takes two to tango, wie man so sagt. Jedenfalls gerät er ganz schön in Teufels Küche, der Trieb will dem Kopf nicht folgen. Er gerät in ein mehrfaches Dilemma, weniger wegen Antje, bald auch nicht mehr wegen seines Rufs, sondern weil er Jola nicht durchschaut. Und wir tun es auch nicht. Und das, obwohl wir auch ihre Perspektive kennenlernen. Die Ich-Erzählung wird regelmäßig unterbrochen von kürzeren Auszügen aus Jolas Tagebuch. Das Reizvolle daran ist, dass man schon relativ früh feststellt, dass sie die Ereignisse in einem anderen Licht darstellt. Wer bewegt sich nun näher an der Wahrheit? Und was führt Jola im Schild?

Der krimiartig aufgebaute Plot ist recht konventionell erzählt und liest sich gefällig, es werden Spannungsbögen geschaffen, die wenigen Figuren geben dem Ganzen etwas Kammerspielartiges,  die klaustrophobische Stimmung in den zahlreichen Unterwasserszenen bleibt nicht ohne Wirkung. Dennoch entwickelt die Geschichte keinen rechten Zug, nimmt einen nicht so in Beschlag, wie ich es mir erhoffte, obwohl gut von der Autorin angelegt. Vielleicht liegt es daran, dass sich Juli Zeh sprachlich weiter zurückgenommen hat, der Duktus ist zwar nach wie vor geistreich und inspiriert,  aber sichtlich weniger bildergeladen und er lässt den für Zeh so typischen Humor vermissen, im Vergleich zu Schilf oder Corpus Delicti. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass man nicht so richtig Feuer fängt für den Erzähler, ein Problem, dem man schon in Corpus Delicti begegnete. Dreierkisten, gar eine ménage à trois, wie sie hier vorliegt,  können zwar spannend sein, dafür gibt es genügend Beispiele, aber man muss sich für die Figuren interessieren, sie müssen einem nahe kommen. Das geschieht hier nicht: Nicht nur ist einem der unterkühlte Tauchlehrer suspekt, zusätzlich ist die gesamte berichtartige Darstellung der Ereignisse durch den Blick durch seine Brille distanziert und unterkühlt.
Die letzten vierzig Seiten versöhnen einen, was die Spannung betrifft, mit den teilweise etwas zähen vorangehenden zweihundert, in denen mit dem ›Auf und Ab‹ von Sein und Schein gespielt wird, ein Vexierspiel, das im nachträglichen Blick zurück an Reiz gewinnt. Jedenfalls ist man nach Beenden der Lektüre versucht, noch einmal vorne zu beginnen und mit wachem Auge mindestens einzelne Passagen ein zweites Mal – und aufmerksamer – zu lesen. Und da ist ja nicht wenig, auch wenn der Roman nicht an Spieltrieb herankommt, den in meinen Augen gelungensten Roman dieser interessanten Autorin.

Angaben:
Juli Zeh: Nullzeit. Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt a.M. 2012.