Von Mensch und Tier
›Die Wand‹ schildert auf
dreihundert Seiten die Robinsonade einer Frau im postnuklearen Zeitalter,
geschrieben vor einem halben Jahrhundert. Vor der Lektüre hatte ich meine
Zweifel, ob ich das durchhalte. Eine Geschichte um den Rückzug und den Umgang
mit der Einfachheit und Einsamkeit, ohne Ausblick, ohne Zukunft. Reduziert auf
das zum Überleben Notwendige. Schlaf, Nahrungsbeschaffung, Arbeit. Berge, Wald,
Wiesen. Wetter, Jahreszeiten, Ruhe. Die einzigen relevanten Beziehungen sind
diejenigen der Protagonistin zu sich selbst und zu ihren Tieren: Kühe, Katzen,
ein Hund. Klar, ein Rousseau hätte seine Freude daran. Aber was geht mich das
an?
Die Wand ist durchsichtig, aber
undurchlässig und unüberwindbar. Und das ist auch gut so, denn ohne sie gäbe es
keinen Roman: dahinter ist alle bewegte Natur tot. Ein freundliches Freilichtmuseum,
ein großes Pompeji, nur etwas grüner, denn wir befinden uns in den Alpen. Versteinerte
Menschen sitzen erstarrt auf Bänken, Vögel liegen unbeweglich im Gras, nach und
nach wächst über alles grüne Natur. Am Morgen nach einer verschlafenen Nacht war
sie plötzlich da, die Wand, ohne Anfang und Ende, wie eine auf die Erde
gefallene Käseglocke ohne Deckel. Durch sie ist die Protagonistin vom Rest der
Welt getrennt, ihr verdankt sie ihr Leben. Die Wand ist die Grenze, die ihr
sagt: bis hierher und nicht weiter. Und jetzt: lebe.
So weit, so allegorisch.
Genauso kafkaesk wie die jähe
Umkehrung der Welt ist die Reaktion der Frau: Analog zu Gregor Samsa, der sich
kaum darüber wundert, dass er über Nacht zum Ungeziefer verwandelt wurde, nimmt
auch sie das groteske Neue hin, als handelte es sich bloß um eine beliebige weitere
Laune des Lebens. Da ist jetzt eben diese Wand. Vielleicht hat sie ja was
Gutes? Vielleicht war sie ein heimlicher oder lange verdrängter Wunsch, der
wahr geworden ist? Vielleicht verkörpert sie die plötzlich sichtbar gewordene
Wirklichkeit, auf die vorher der Blick verstellt war? Natürlich stellt sie sich
diese Fragen nicht selber, aber sie beschleichen einen, während man staunend
weiterliest, wie pragmatisch diese Frau daran geht, ihr Überleben zu organisieren.
Die neue Einschränkung, der Eintritt des Unsagbaren, haben von Anfang an kaum
etwas Erschreckendes, eher etwas Befreiendes. Das erinnert jetzt schon mehr an Kirsten
Dunst in Lars von Triers Melancholia:
die Geschichte einer depressiven junge Frau, die sich gerade verzweifelt dem
optimistischen Akt einer dekadent-opulenten Trauung entwunden hat, und die das
Ungeheuerliche begrüßt, das absehbare Ende von Allem, weil es für sie nur eine
Frage der Zeit war, dass es eintritt, weil es ihrer Ansicht nach überfällig war,
weil es im Grunde immer schon most
obvious war. The world is foul.
Nun, da ihr die Ungewissheit genommen wurde, kann sie sich damit gut
arrangieren.
Zwar rechnet Haushofers
Protagonistin zu Beginn noch damit, dass der Zustand der kompletten Isolation
ein vorübergehender sei („wenn sie kommen«), es wird aber deutlich, dass sie
allenfalls gewisse Annehmlichkeiten vermisst und sich unsicher ist, wie sie
alleine zurechtkommt. Mit der Zeit erübrigt sich auch das. Sie braucht
niemanden. Sie passt sich an, und zwar erstaunlich leicht. Im Grunde scheint
sie ihr altes Leben schon lange abgestreift zu haben, mitsamt ihrem Mann, den
sie verlassen hat, und ihren entwachsenen Töchtern im Teenageralter, die sie
nur als kleine Kinder in Erinnerung bewahrt, weil danach ein wohl unumkehrbarer
Entfremdungsprozess einsetzte; sie verstand sie nicht mehr, fühlte sich nicht
mehr von ihnen gebraucht, die Liebe ging verschütt. Sie hat alles im Tal
gelassen und vermisst nichts, höchstens gewisse Nahrungsmittel, aber jedenfalls
keinen Menschen, im Gegenteil. Wie die teuren Schuhe, die stets ein wenig drückten
und die man aus Nachlässigkeit in einem Hotelzimmer liegen lässt; als man es
merkt, ist man im Grunde erleichtert – waren Sie nicht immer vor allem eine
Qual?
»Wenn ich heute an die Frau denke, die ich einmal war
[…] empfinde ich wenig Sympathie für sie. Ich möchte aber nicht zu hart über
sie urteilen. Sie hatte ja nie die Möglichkeit, ihr Leben bewußt zu gestalten.
Als sie jung war, nahm sie, unwissend, eine schwere Last auf sich und gründete
eine Familie, von da an war sie immer eingezwängt in eine beklemmende Fülle von
Pflichten und Sorgen. Nur eine Riesin hätte sich befreien können, und sie war
in keiner Hinsicht eine Riesin, immer nur eine geplagte, überforderte Frau von
mittelmäßigem Verstand, obendrein in einer Welt, die den Frauen feindlich
gegenüberstand und ihnen fremd und unheimlich war. Von vielen Dingen wußte sie
ein wenig, von vielen gar nichts; im ganzen gesehen herrschte in ihrem Kopf
eine schreckliche Unordnung. Es reichte gerade für die Gesellschaft, in der sie
lebte, die genauso unwissend und gehetzt war wie sie selbst. Aber eines möchte
ich ihr zugute halten: sie spürte immer ein dumpfes Unbehagen und wußte, daß
dies alles viel zu wenig war.« (S. 82f.)
Der Roman hat die Form eines
Binnenberichts, den die Frau nach ca. zweieinhalb Jahren in der Einsamkeit
verfasst. Was angesichts des Zustands der Welt vorderhand als unsinnig
erscheint, kann man als Zeichen werten, dass sie die Hoffnung nicht aufgegeben
hat (oder nicht aufgeben kann), es gebe noch jemanden, der ihn lesen wird; oder
als Akt der Selbstvergewisserung, ein Eingeständnis an die conditio humana. Scribo ergo sum. Nachdem sie sich mit der
Situation arrangiert hat und sich eine gewisse Routine im Überleben eingestellt
hat, kann sie nur schreibend fortexistieren, sei es, um sich selbst aufrecht zu
halten, sei es, um Ängste zu bekämpfen, sei es, um dadurch am Leben zu halten,
was sie am Leben hielt, um damit eine Erinnerung zu schaffen an die Herausforderungen,
die Tiere, das Immerweiter. Wenn Hamlets The
rest is silence mehr als ein geflügeltes Wort ist – wer wenn nicht sie
selbst kann die eigene Geschichte schreiben?
Von leichter Hand geschrieben,
staunt man darüber, mit wie viel Neugierde man die sich wiederholenden Abläufe
liest, der sich ankündigende Winter, das regenverhangene Tal, das sich
anbahnende Sommergewitter, der Regenguss und die gereinigte Luft nach dem
Einbruch des Föhns, dann die Arbeit mit dem Holz, das Mähen der Wiesen, der
Anbau von Kartoffeln, die Ernte der Himbeeren (ihre Süße!), das Töten der Rehe
und Hirsche, an das sie sich gewöhnen muss, aber nicht kann, das Melken der
Kuh, die ihr zugelaufen ist. Überhaupt die Tiere: ›Hier eine Katzengeschichte‹, soll Haushofer geflachst haben, als sie dem Verleger das Manuskript überreichte (Nachwort, S. 281). Wenn es eine Gliederung in
dem ansonsten kapitellosen Roman gibt, dann wird sie von Ereignissen im Zusammenhang
mit den verschiedenen Katzen, den beiden Kühen und dem Hund vorgegeben, ein
Kollektiv anstelle von Freitag, der Defoes Robinson auf der einsamen Insel Gefährte ist. Sie ersetzen ihr die Menschen und wachsen ihr mehr ans
Herz, als es je ein Mensch geschafft hat. Sie lernt sie zu lesen und zu lieben,
lässt sich auf Verträge mit ihnen ein, ein Sammelsurium von Verhaltenscodices,
trauert um sie, wenn sie sterben oder verschwinden, beneidet sie um die
Unschuld ihrer Kreatürlichkeit:
»Das einzige Wesen im Wald, das wirklich recht oder
unrecht tun kann, bin ich. Und nur ich kann Gnade üben. Manchmal wünsche ich
mir, diese Last der Entscheidung liege nicht auf mir. Aber ich bin ein Mensch,
und ich kann nur denken und handeln wie ein Mensch. Davon wird mich erst der
Tod befreien.« (S. 128)
Wem das zu banal ist, der läuft
Gefahr, sich über den Roman zu ärgern. Zugegeben: Man lernt hier nichts Neues,
die philosophischen Passagen sind so simpel wie grundlegend und stets eingebettet
in konkrete Vorgänge, sie riechen nach Erde, für Höhenflüge ist diese Frau zum
einen zu beschäftigt (und erschöpft) und zum andern zu sehr der Scholle
verschrieben, wohl oder übel. Aber sie ufern auch nicht aus, sind nie kitschig,
und wirken in ihrer Einfachheit glaubwürdig und unprätentiös wie die
Naturbeschreibungen. In der folgenden Textstelle erklärt sie, wieso sie an
gewissen zivilisatorischen Angewohnheiten wie dem Aufziehen von Uhren und den
regelmäßigen Kalendereinträgen festhält
»Ich weiß nicht, wieso ich das tue, es ist fast ein
innerer Zwang, der mich dazu treibt. Vielleicht fürchte ich, wenn ich anders
könnte, würde ich langsam aufhören, ein Mensch zu sein, und würde bald
schmutzig und stinkend unherkriechen und unverständliche Laute ausstoßen. Nicht
daß ich fürchtete, ein Tier zu werden, das wäre nicht sehr schlimm, aber ein
Mensch kann niemals ein Tier werden, er stürzt am tier vorüber in einen Abgrund.«
(S. 44)
Mich fasziniert vor allem, wie
sie in der neuen Lebenslage sich und ihrem Körper nahe kommt, seine Grenzen
kennenlernt, sie je nachdem ausdehnt und auslotet, und wie unpathetisch sie die
Zustände hinnimmt, die die Situation in ihr auslösen. Man staunt über die
Zähigkeit dieser Frau, die vielen kleinen Schritte und Erkenntnisse, mit denen
sie sich und die Welt neu entdeckt, und der aufrichtige trockene Ton, mit dem das
beschrieben wird. Und man hat seltsamerweise auch viel zu lachen, weil Haushofer
ein Händchen dafür hat, den anthropomorphen Blick auf das Wesen der Tiere
in Sprache zu fassen und die Spiegelneuronen feuern zu lassen. Über ihren
Hund namens Luchs schreibt sie einmal:
»Ich konnte neben Luchs nie lange traurig bleiben. Es
war fast beschämend, daß es ihn so glücklich machte, mit mir zusammen zu sein.
Ich glaube nicht, daß wildlebende erwachsene Tiere glücklich oder auch nur
fröhlich sind. Das Zusammenleben mit den Menschen muß im Hund diese Fähigkeit
geweckt haben. Ich möchte wissen, warum wir auf Hunde wie ein Rauschgift
wirken. Vielleicht verdankt der Mensch seinen Größenwahn dem Hund. Sogar ich
bildete mir ein, es müßte an mir etwas Besonderes sein, wenn Luchs sich bei
meinem Anblick vor Freude fast überschlug. Natürlich war nie etwas Besonderes
an mir, Luchs war, wie alle Hunde, einfach menschensüchtig.« (S. 116)
Nebst vielem anderen ist es
auch der anarchistische Ésprit, der aus solchen Passagen spricht, dass mich das
Fehlen eines klassischen Spannungsbogens überhaupt nicht störte. Die Frau lebt
irgendwie weiter, was sonst.
Die Lektüre wurde mir in den
letzten paar Tagen zur zivilisatorischen
Atempause – ein doppelter geistiger Rückzug unter Verzicht auf sämtliche
Zutaten zeitgenössischen Lebens und Strebens, virtuell wie real, sozial, emotional.
Ein meditatives Bullerbü mit einer Messerspitze Philosophie. Für einmal kein
Krieg zwischen den Geschlechtern und Generationen, keine Zeitkrankheiten und
Begehrlichkeiten, keine Konsum- oder sonstige Sozialkritik, keine Liebes- oder
Lebenskrisen, nicht mal Sinnfragen. Es geht bloß – um alles oder nichts.
Ausgabe:
Haushofer,
Marlen: Die Wand. (erstmals 1963)
List/UllsteinBuchverlage GmbH, Berlin 2012.
List/UllsteinBuchverlage GmbH, Berlin 2012.
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