Dienstag, 11. Dezember 2012

Cloud Atlas (USA 2012)

Bildquelle

Regie: Tom Tykwer, Lara Wachowski, Andrew Wachowski
Darsteller: Tom Hanks, Halle Berry, Hugo Weaving, Ben Whishaw, Bae Doo-na, Zhou Xun etc.



Bildgewaltig und verspielt, mit akuter Kitschgefahr

eleos und phobos soll eine tragische Erzählung bei uns auslösen, damit wir geläutert, bewegt und berührt den erzählerischen Raum verlassen, sei das im Kino, im Theater oder in Buchform. Sagt Aristoteles in seiner Poetik. Mitleid und Furcht.
Man muss kein Aristoteliker sein, um dem einigermaßen zuzustimmen. Das Schlimmste, was einer Geschichte passieren kann, ist, dass sie uns nicht interessiert, weil uns die Figuren egal sind oder die Handlung oder die Atmosphäre bei uns nichts auslösen.
Aber stimmt das denn? Wir folgen einer Geschichte unter Umständen auch gerne, weil uns die Form fasziniert, in der sie erzählt wird. Das gilt sowohl für Texte (Sprache, Erzählstruktur) als auch für Bühneninszenierungen – Shakespeare und die Bühnentechnik des Globe Theatre, die opulente Ausstattung bei Opern, nicht nur bei Wagners Vorstellung vom Gesamtkunstwerk. Und besonders natürlich für Filme.
Im Film sind der Form dank der Montage und der Tricktechnik, die wegen der Langsamkeit unseres Auges nicht mal auf die Digitalisierung der Bilder angewiesen ist, fast keine Grenzen gesetzt. Von der Taiga via Bangkok auf den Kilimandscharo, von Shanghai über die Anden nach New York und direkt in das Auge des Sturms am Kap der Stillen Hoffnung in ein paar Sekunden. D. W. Griffith verknüpfte in Birth of a Nation bereits 1915 zeitlich und räumlich weit auseinanderliegende Geschichten. Die Bond-Filme verdankten schon von Beginn ihres 50-jährigen Bestehens einen guten Teil ihrer Sexiness den abrupten und häufigen Ortswechseln, das wird inzwischen von den meisten Filmen dieses und anderer actionorientierter Genres erwartet.
Was das Verflechten von scheinbar voneinander unabhängigen Geschichten zu einem filmischen Ganzen betrifft, haben Regisseure wie Altman (Short Cuts, Prêt-à-Porter) oder Iñárritu (21 Grams, Babel) mit ihren Episodenfilmen Pioniersarbeit geleistet. Das Spiel mit der Zeit jenseits des Vor- und Zurückspringens auf der Zeitachse hat Tom Tykwer mit Lola rennt betrieben.
Cloud Atlas setzt einen drauf. Die Verfilmung des als unverfilmbar geltenden Romans von David Mitchell verbindet die Reise durch Raum und Zeit mit einer Menge von Geschichten, die nicht nur auf mehreren Erdteilen und in den unterschiedlichsten Milieus spielen – Buch und Film erheben auch den Anspruch, dass die Episoden miteinander in Bezug stehen. Die sechs Schau- und Zeitplätze (um es mal mit einem Neologismus zu versuchen) sind mit wiederkehrenden Gesichtern besetzt, die aber unterschiedliche Charaktere zu verkörpern scheinen. Und das Ganze ist in eine Bilderflut getaucht, die uns zeitweise den Atem raubt. Match Cuts à la Kubrick in 2001: A Space Odyssey gibt es gleich in der Familienpackung – mit Türen und Brücken etc., aber auch auf thematischer und akustischer Ebene. Das ist oft sehr schön anzusehen. Große Panoramen, kräftige Farben und bunte Kostüme, grandiose Architekturen und krasse Kamerafahrten machen Anleihen bei etlichen Genres, bei Kostüm- und Piratenfilmen, beim politischen Thriller, bei der Atmosphäre, Architektur, Styling und Setting von legendären Sci-Fi-Trendsettern wie Metropolis, Blade Runner und Twelve Monkeys, bei Endzeitspektakeln wie The MatrixMad Max oder Waterworld. Hab' ich was vergessen? Wahrscheinlich. Aber es reicht trotzdem.
Irgendwann ist es einfach zu viel. Und gleichzeitig zu wenig. Zu viel Dekor zu viel Disney, zu viel Guckmalhier und Hastegesehen und Wowdasistdochder. Wenn man noch nach der Hälfte des Films vor allem damit beschäftigt ist, sich in irgendeine der anarchistisch wechselnden Zeitebenen und Figuren hineinzudenken und zu -fühlen und es beim Versuch bleiben muss, weil das Drehbuch schon wieder zwei Zeitebenen weiter ist; wenn man spürt, dass der eigentliche Höhepunkt des Films nicht seine Figuren, sondern sein dramaturgischer Verlauf ist; wenn also alles ein einziger Höhepunkt sein soll, na dann geht es einem, wie wann man youtube-Videos ansieht, auf denen die schlimmsten Unfälle, die lustigsten Katzenszenen, die krassesten Fußballtore in Rekorddichte aneinandergereiht wurden: Überdosis. Poesieverlust. Exitus. Wie spät ist es eigentlich?
Eben. Aristoteles. Eleos ond phobos. Mitleid und Furcht. Wie soll ich mit einer Figur mitleiden, die kaum aus den Startlöchern gekommen ist? Etwa mit dem leidenden Abgesandten, der auf dem Schiff langsam vergiftet wird – was weiß ich eigentlich über ihn, außer dass er seine junge Braut in der Ferne – hach! – vermisst? Oder dem so gewieften wie talentierten schwulen Komponisten (tolle Musik!), der in der Gesellschaft aufsteigen möchte, der mutigen Reporterin und Tochter einer Legende des Journalismus, die – in einem coolgrünen VW-Käfer(!), aber komplett ungebrochen edel – einen Skandal der Energielobby aufzudecken trachtet. Besonders seltsam berührend und gleichzeitig unterkomplex unausgegoren: die reichlich ätherisch wirkende, silberstimmig hauchende, rehäugige asiatische Mutantin, die wie die Jungfrau zum Kinde den ihren Charakter komplett überfordernden Auftrag bekommt, eine Rebellion zu verkörpern. Und dann mit ihrem heldenhaften Rächer schläft, weil wir noch keine Sexszene hatten und das so schön anzusehen ist und – wieso eigentlich nicht? Aber Liebe? Gefühle? Diese Frau? Wie unplausibel, wie unmotiviert kann eine Handlung sein, bevor sie zum Abziehbild, zum Versatzstück, zum so beliebigen wie konventionellen ingredient eines massentauglichen Kassenschlagers wird?
Und dann die märchenhaft Bösen: weiße Sklavenhändler und Rassisten, blutrünstige Kannibalen auf Neuseeland, roboterähnliche Wächter in New-Seoul. On top: der Teufel himself, mit Zylinder, grünlicher Visage und schlechten Zähnen. Give me a break!, möchte ich ausrufen, würde ich dies nicht ohnehin schon zu oft tun.
Ja, klar hofft man mit den edlen Geschöpfen auf den Sieg des Guten Wahren Schönen, wünscht die so veranchtenswert niedrigen Charaktere, die nur Gold, Blut und das Gegenteil des sogenannten true-true wollen (pleeeaaase!) an den Galgen, ans Messer, in den Schlund der Großstadt, ins Feuer, wasweißichwohin.
Aber zum Mitfühlen fehlt einfach die Zeit. Und irgendwann ziemlich bald auch die Lust. Leider –, muss ich hinzufügen, denn ich war mit dem festen Willen ins Kino gegangen, diesen Film zu mögen, und das nicht nur, weil ich Tom Tykwers Filme im Großen und Ganzen so ziemlich cool finde.
Weiter im text. Wenn man phobos mit Schrecken übersetzt, dann wird man reichlich bedient. Allerdings auf blutigste Weise: Als sich der schöne junge Komponist zum zweiten Mal die Pistole in den Mund hielt, entfuhr mir ein: «Nein, nicht schon wieder!». Bittebitte nicht schon wieder ein zerschossener Kopf – nach all den Hinrichtungen, den durchgeschnittenen Kehlen, den geschändeten Frauenkörpern.
Doch halt: Dies soll keine pauschale Abrechnung sein, mitnichten. Cloud Atlas bietet natürlich die erwartet starken Bilder: So schockierend wie unappetitlich die nackten, enthaupteten Mutanntinnenkörper an den Fleischerhaken in der Industriehalle anzusehen sind, so sehr frappiert mich diese antikantische Distopie einer letztgültigen konsequenten Verzweckung des Menschen. Sie lässt mich an Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe denken, an Upton Sinclairs The Jungle, an Fritz Langs Arbeiterunterweltallegorie in Metropolis sowieso. – nebenbei ist es eine augenzwinkernde Selbstreferenz der Wachowskis auf ihre Matrix und dauert kurz genug, um sich nicht mehr als nötig in der Seele einzubrennen. Das kann keinen fühlenden Menschen kalt lassen und wird doch nicht ausgebeutet.
Anders die vielen anderen Szenen, in denen das Hobbessche omnia contra omnes als Gemetzel zelebriert wird – so viel Gewalt löst bei mir einen Gegenreflex aus: ich distanziere mich emotional, fühle mich zugedröhnt und zugeknallt, nicht für voll genommen. Ganz schlecht das.
Was angesichts von so viel Blutkonserven und Lust aufs gewalttätige Detail gar nicht passt, ist der zumindest teilweise infantile Humor, der irgend einer beliebigen Disney-Pictures-Produktion entnommen sein könnte und im Falle der Geschichte der flüchtigen Alten (was sollte eigentlich diese Geschichte inmitten der anderen?) auf Mr. Bean-Niveau herabsinkt.
Bleibt die metaphysische Dimension, die – so ist jedenfalls zu hoffen – in Mitchells Roman sicherlich mehr zum Tragen und etwas komplexer daherkommt als das im Film der Fall ist. Alles Böse rächt sich irgendwie, alles Gute lohnt sich a priori, auch die Suche nach der Wahrheit, was immer das sein soll und wenn sich auch niemand gerade dafür interessiert. Platons Höhle leuchtet kurz auf. Aber nur sehr kurz. MannMannMann, wenn das mal nicht zu Weihnachten passt.
Trotz aller verquaster Esoterik möchte ich dem Film im Nachhinein dennoch ein kleines Kränzchen winden: Das Verspielte an Cloud Atlas und der Wille, das Unmögliche miteinander zu verknüpfen und zu erzählen, das gefällt mir sehr, und Szenen wie beispielsweise die der zerspringenden Teller, mit Lust durch die Luft geworfen, das ist Kaviar fürs Auge.

2 Kommentare:

  1. Du bist netter, als ich es wäre: Ich war seit langem wieder mal im Kino und fand den Film eine Zumutung. »Verspielt« ist nett formuliert: Das Drehbuch ist einfach untauglich. Keine der Geschichten geht auf oder fesselt, die Spielerei mit verschiedenen Genres könnte offensichtlicher nicht sein, die Gesamtaussage ist das, was sich Boris Becker unter Philosophie vorstellt. Und dabei ging es mir wie dir: Ich wollte den Film mögen.

    AntwortenLöschen
  2. Meine Nettigkeit wird mein Verderben. Hat auch biographische Gründe, die ich hier jetzt mal glatt unterschlage. Story of my life. Es ist ein Film zum Vergessen, absolut. Sehr sympa von Dir, dass Du mit der gleichen Absicht in den Film bist. Ich habe die Philosophie bis heute nicht kapiert, ist mir aber in diesem Falle ehrlich genauso egal wie Boris Becker. Frage ist: Life of Pi wird jetzt ja auch wieder so von notorischen Filosofilmfreunden gelobt … soll ich es wagen? Wirst Du es wagen?

    AntwortenLöschen