Textauszug 1
Themen: Intersexualität, fragwürdige
Normativität, Überforderung mit dem Leben, Geschlechtzugehörigkeit als
Rollenspiel und -zwang
Bis ins 18. Jahrhundert war es rechtliche Praxis, Hermaphroditen auf
Wunsch ihre Zweigeschlechtlichkeit zuzugestehen oder sie selbst entscheiden zu
lassen, welchem Geschlecht, Mann oder Frau, sie angehören wollten.
Ab 1830 wurde eingeschränkt, dass Hermaphroditen bis zu ihrem
18. Geburtstag selbst entscheiden müssen, welchem sozialen Geschlecht sie
zugeordnet werden wollen. Aber eine Zuordnung muss stattfinden, sie muss, das
hat ja keine Ordnung sonst. 1895 wurden Hermaphroditen im Gesetzbuch juristisch
für nicht existent erklärt. Das ist bis heute unverändert. Intersexualität gilt
als medizinisches Problem, also als Krankheit, und fällt nicht in den
politischen und rechtlichen Zuständigkeitsbereich.
Nein, Toto hatte diesen Text nicht gesehen, er wusste nur, dass er Nichts
war und sich gut fühlte. Er verstand nicht, wozu eine klare Zuordnung dienen
soll, wenn doch keiner weiß, wie man ein Leben erfreulich verbringt, wenn doch
ein Krieg zwischen Männern und Frauen herrscht und keiner einem sagen kann, was
genau eine Frau und ein Mann sind und wozu es eine Klarheit benötigt in
einem Dasein, das nach achtzig Jahren in völliger Unklarheit zu Ende gehen
wird. Warum muss alles seine Ordnung haben, wenn doch nichts in einer Ordnung
befindlich ist in diesem Universum. Toto war so müde, dass er sich nicht einmal
für Pfleger Peter verantwortlich fühlte, der sich neben sein Bett gesetzt hatte
und ihn hungrig ansah. Vielleicht hatte er einfach zu wenig Energie für dieses
Leben, das ständig eine Anstrengung zu erwarten schien. Hast du schon mal einen
wie mich gesehen, fragte Toto, und Peter der Pfleger nickte, seltsam schwer.
Sein Pferdeschwanz hing betrübt in seinem Nacken, als er aufsprang und sofort
wieder arbeiten musste, wie er sagte. Toto blickte ihm nach. Da waren Menschen,
die dringend irgendetwas mussten, nur er hatte nie gemusst, gewollt,
gearbeitet. Vielleicht war sein unkonzentrierter Lebensentwurf eine Folge
seiner, ja, was eigentlich. Toto hatte sich nie behindert gefühlt. Es schien
ihm eher so, dass viele Männer und Frauen ihre Rollen darstellten, weil sie
glaubten, dass das erwartet wird. Er hatte die Mann- und Frau-Darstellungen nie
richtig ernst genommen. In seiner kommunistischen Jugend war kein großes
Aufhebens um Geschlechter und ihre Rollen gemacht worden. Waren die Eltern
weder Intellektuelle oder anderweitig Staatsfeinde, gab es für alle die
gleichen Chancen auf ein wunderbar erfülltes volkseigenes Leben im Arbeiter-
und Bauernstaat. Hier im Kapitalismus schien die Frage nach den Rollen von Mann
und Frau von einer außerordentlichen Wichtigkeit. Es wurde unentwegt darüber
geredet, gestritten, geschrieben. Es schien, als müsse man, um seine
Zugehörigkeit zu einem der beiden Geschlechter zu demonstrieren, gezieltes
Kaufverhalten entwickeln. Die Frauen mussten sich Brüste kaufen, unbedingt, und
an jeder Nachttankstelle müssen die erhältlich sein, und die Brüste müssen dann
in Dessous geschlagen werden, während die Männer ihr Gesicht ständig rasieren
müssen, mit muskelbepackten Armen. Toto war das alles unverständlich. Da steht
doch keiner auf, am Morgen, und streicht sich bewundernd über seinen
geschlechtszugehörigen Körper, da sind doch alle gleich müde und gleich nicht
vorhanden, mit sich allein.
S. 237f.
Textauszug 2
Themen: DDR, Tristesse, Alltag der Werktätigen, Mangelwirtschaft
Es war kurz nach neun. Die meisten Bewohner der kleinen Stadt, die um das
Heim gebaut worden war, arbeiteten schon. Sie taten, was nach der kollektiven
Verabredung notwendig war, um nicht aus der Gesellschaft verstoßen zu werden.
In den Fabriken begannen Arbeiter in blauer Arbeitskleidung Teile für
irgendetwas herzustellen. In den Büros saßen Beamte an Tischen und tranken, die
Uhr nicht aus dem Auge lassend, schlechten Kaffee. In den Läden standen die
Verkäuferinnen, und frei jedes Servicegedankens, ordneten sie missmutig Nichts
in die Regale. Die Wohnungen standen leer und zugig, nur wenige Asoziale
hielten sich daheim auf, selbst für die niederste Kreatur hatte sich in dem
kleinen Staat eine Verwendung gefunden. Der Ton in Fabriken, Büros, Arztpraxen
und Läden war vorwiegend unfreundlich, den Menschen war unwohl, ihre strahlende
Zukunft wollte sich nicht einstellen, und es gab keinen Grund, freundlich zu
sein, außer dass es das Leben angenehmer gemacht hätte, aber das wusste ja
keiner. Nachdem die Werktätigen exakt acht Stunden mit ihrer Tätigkeit
verbracht hatten, würden sie auf dem Heimweg nichts mehr einkaufen, was denn
auch, und wo denn auch, da alle Geschäfte bereits geschlossen waren. Sie
würden in ihre nicht besonders attraktiven Wohnungen verschwinden. Schön
wohnten nur hervorragende Parteimitglieder, da gab es schon manchmal ein Haus
am See, das irgendwann einem Juden gehört hatte und nun, nach dem Verschwinden
der Nazis, von einem Kadermitglied oder einem Genossen Künstler bewohnt wurde.
Die Werktätigen hatten ihre Kinder aus den Betreuungseinrichtungen geholt. Es
gab Kohlgerichte, es wurden Nachrichten gesehen, die so interessant waren wie
in jeder Diktatur, dann wurde noch ein wenig Westfernsehen geschaut oder
gelesen. Getrunken wurde in jedem Fall, weggegangen kaum, da gab es nichts zum
Weggehen; ein Restaurant aufzusuchen wäre den wenigsten eingefallen, die drei,
die es gab in der Stadt, arbeiteten mit Vorbestellung und Kundenplazierung, da
ging man nur zur Jugendweihe hin, um erlesen zubereiteten Kohl zu sich zu
nehmen. Im Kino liefen russische Filme.
Wer jung war, traf sich irgendwo auf der Straße, begab sich in Wohnungen
von irgendwem, um ein wenig zu trinken, oder in den Studentenclub, um sich da
zu betrinken. Die Jungen kannten kein anderes System, sie fragten sich nicht,
warum die Läden so leer waren, die Zeitungen keine Informationen enthielten, sie
waren voll Kraft und träumten von irgendwas, das sie nicht kannten, es
sollte nur anders sein. Nicht so unendlich ockerfarben.
Der einzig erkennbare Vorteil des Systems war, dass es niemals den Neid
der Menschen herausforderte, denn da gab es nicht viel, worum man den Nachbarn
beneiden konnte. Die anders waren, hatten das Land verlassen, die
Hinterbliebenen waren sich zu ähnlich oder zu müde, um einander zu hassen.
S. 49f.
Textauszug 3
Themen: Dystopie
Toto hatte geahnt, dass sie irgendwann zu müde sein würde, um der
Tatsache, dass die Welt ohne sie weiterbestehen würde, große Beachtung zu
schenken. Kommst du mit in die Stadt, fragte Béatrice. Eine alte Obdachlose, im
letzten Jahrtausend geboren und aufgewachsen, geprägt von einer merkwürdigen
Welt, die noch gekämpft hatte. Gegen die Natur und gegeneinander. Heute hatte
man den Untergang akzeptiert und hing schlaff in den Seilen. Es gab doch
hervorragende Frühwarnsysteme; kippte irgendein ökologisches Gleichgewicht auf
der Welt, registrierte man es mit Achselzucken, denn die Wissenschaft wird eine
Lösung finden, sie finden immer eine Lösung, es wird gutgehen. Es geht immer
gut aus, für die meisten jedenfalls.
Schon längst gab es Hallen, in denen Winter nachgestellt wurden,
überdachte Gebiete, in denen Seen wuchsen. Man hatte sich arrangiert, und die
neue Generation vermisste nichts, ab und zu gab es ein Großes Sterben, aber das
ging einen ja auch nichts an, entweder war man dann eben tot, oder man gehörte
zu denen, denen so etwas nicht passierte. Menschliches Leben wird ja nur von
denen überbewertet, die etwas Geliebtes verlieren. Im Fluss der Zeit, in
der Aneinanderreihung der Evolution ist der einzelne meist komplett ohne
Bedeutung. Außer ein paar Revolutionären, Erfindern, Diktatoren war der Rest
völlig uninteressant.
Toto sah Béatrice an. Nein, ich bleibe heute hier, danke. Béatrice
schlurfte in die Stadt, um von Bäckereien und Touristen etwas zu erbetteln,
Toto sah in die Sonne, es würde wieder heiß werden, und ihr fielen
Folkloreblusen ein. Bestickte Scheußlichkeiten aus Bulgarien, nach denen die
Mädchen früher verrückt waren, als es Bulgarien noch gab und es nicht einfach
ein uniformer Teil der Welt war, in der fast alle nur mehr Englisch sprachen.
Früher, als Menschen noch nach etwas verrückt waren.
Toto legte sich wieder hin. Sie hatte es sich nett gemacht. Eine Villa
aus Styropor und Kartons, das war Totos Haus. Es war sauber, es sah reizend
aus, wollte einer der anderen unter der Brücke etwas von ihr, machten sie
klopfklopf. Mit ihr wohnten hier Béatrice, die früher Krankenschwester gewesen
war, und drei ehemalige Biologielehrer. Am Bild der fröhlichen Clochards hatte
sich nicht viel geändert in den letzten hundert Jahren, außer dass es keine
Zeitungen mehr gab, auf denen man hätte übernachten können. Toto sah in den
Himmel, den konnte man sehen neben der Decke des Tunnels, es gab nur noch
Regen oder nicht Regen, alle anderen Jahreszeiten waren auf elegante Art
zusammengeflossen zu etwas Warmem. Das würde wohl alles so weitergehen, ohne
sie. Die Menschen werden überleben, es wird noch wärmer werden, vielleicht
werden alle irgendwann braun, um die Haut vor der Sonne zu schützen, vielleicht
wachsen ihnen Schwimmhäute wegen der ständigen Überflutungen. Doch sie bauten
schon fleißig Dämme, und an die Hässlichkeit hatten sie sich doch auch gewöhnt.
Ab und zu kamen indische Touristen und fotografierten die Obdachlosen,
verschwanden jedoch schnell und verstört, wenn Béatrice sich zum Wasserlassen
hinkauerte.
S. 374f.
Textauszug 4
Leseprobe des Verlags Hanser (pdf): S. 148-161
Themen
Hamburg, die schmutzige Seite der Großstadt, Gosse, St. PauliHackordnung unter Bedürftigen
das Ausbleiben des Glücks in einer glitzernden Welt
das Problem der Sexualität:
- Qual, Verdrängung, Gewissenslast
- käufliche Liebe, pervertierte Formen
- Ehepaare im Vergnügungsviertel
- dem Pfarrer des Männerwohnheims (exemplarische Geschichte)
- der einsame hässliche Mann
Rechte:
Angaben:
Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben.
München, Hanser 2012. 400 Seiten.
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