ammerspiele
haben auch im Film ihren ganz eigenen Reiz, erst vor wenigen Tagen erwähnte ich
Hitchcocks Lifeboat im Zusammenhang
mit Verschwörung im Berlin-Express. Die
Außenwelt ist keine Option oder bietet kein Entrinnen an. Jean-Paul Sartres
Theaterstück Huis Clos (1944) war wohl
meine erste Begegnung mit dieser Gattung, Eugene O’Neills A long day’s journey into the night (1956), beide las ich im
Gymnasium, später dann Samuel Becketts Endspiel
(ebenso 1956) und in Cambridge sah ich einmal eine grandiose Aufführung von
Athol Fugards berührendem Apartheid-Stück My
children! My Africa! aus dem Jahre 1989. Dass Kammerspiele oft auf
Theaterstücken beruhen, ist natürlich kein Zufall, da wird aus der Not eine
Tugend gemacht. Man nehme einen Raum und lasse ein paar Figuren los, die
aufeinander angewiesen, füreinander verantwortlich, einander ausgeliefert sind.
Los. Versuchsanordnung mit garantiert explosivem Potenzial.
Filme
aus diesem Genre, die mir sofort in Erinnerung kommen, sind John Hughes’ The Breakfast Club (1985), James Foleys
großartige Umsetzung von David Mamets Vorlage Glengarry Glenn Ross (1992), Romuald Karmakars Der Totmacher (1995, siehe Bild oben) mit einem atemberaubenden Götz
George oder Theo van Goghs Interview (2003),
das 2007 von und mit Steve Buscemi neu verfilmt wurde und vor zwei Jahren in
einer schönen Inszenierung im Zürcher Theater Neumarkt lief (mit Birgit
Minichmayer). Das jüngste Beispiel für ein wirklich überzeugendes Kammerspiel ist
Polanskis tolle Umsetzung von Yasmina Rezas Carnage (Der Gott des Gemetzels) von 2011 (siehe Bild unten).
Cloaca beruht auf dem gleichnamigen
Stück von Maria Goos (2002), die auch das Drehbuch zum Film schrieb. Die Themen
sind Freundschaft und Loyalität. Der Titel lässt noch tiefer schürfen: ›Cloaca‹
kann stellvertretend für den menschlichen Verdauungsvorgang gelesen werden, so
hat der belgische Konzeptkünstler Wim Delvoye im Jahre 2000 eine Simulation des
menschlichen Verdauungstrakts mit diesem Namen erschaffen. Mehr dazu unter http://de.wikipedia.org/wiki/Wim_Delvoye
und am Ende dieser Rezension.
Zur
Handlung: Vier Mittvierziger, die seit über zwanzig Jahren miteinander
befreundet sind, stolpern mehr oder weniger gleichzeitig über das Leben. Zentraler
Schauplatz ist die mondäne Wohnung des frustrierten Büroangestellten und homosexuellen
Single Pieter. Der zurückhaltende, beruflich steckengebliebene
Kunstgeschichtsabsolvent lässt Joep und Tom vorübergehend bei sich wohnen, die
aus ganz unterschiedlichen Gründen gerade ohne Bleibe sind.
Joep
ist ein erfolgreicher smarter Politiker, der kurz davorsteht, zum Außenminister
ernannt zu werden. Bei seinem beruflichen Aufstieg ist seine Familie auf der
Strecke geblieben und seine Frau hat ihn rausgeworfen. Dabei mag seine
außereheliche Beziehung eine Rolle spielen, aber auch seine Entfremdung vom
ganz normalen Wahnsinn des familiären Alltags. Seine ersten Auftritte sind
unglaublich lustig, er kann gar nicht mehr aufhören, sich bei seinen Freunden
über alltägliche Kleinigkeiten auszulassen: hat er doch hunderte Kugelschreiber
von Sitzungen mitgebracht, aber wenn er einen braucht, sind alle verschwunden.
Hat seine Frau doch tatsächlich eine Schlafzimmerlampe neben das Wohnzimmersofa
gestellt, in deren schwachem Licht er seine Dokumente nicht entziffern kann.
Macht die doch tatsächlich einen Salsakurs und legt ihm bloß ein fieses
Sandwich auf den Abendbrottisch. All das
demonstriert, wie überflüssig und überfordert er sich dabei fühlt, verbindliche
Beziehungen zu Menschen zu pflegen, deren Existenz sich frecherweise nicht in
erster Linie um ihn und seine Bedürfnisse drehen.
Tom,
ein Hüne von Mann, hat gerade eine Kokainentzugskur hinter sich, redet aber
noch derart wirres Zeugs, als befände er sich nach wie vor auf einem Trip,
weshalb Pieter ihn vorsorglich bei sich aufgenommen hat. Tom ist eigentlich
Anwalt, aber die Klientel ist ihm abhanden gekommen, resp. sie existierte wohl
gar nie, weshalb er sich mit dem Texten von Versandkatalogen der
Textilindustrie über Wasser hält. Deren Floskeln kann er ansatzlos und im
unpassendsten Moment auswendig herbeten. Obwohl er alles andere als
zurechnungsfähig scheint, ist er gewillt, Pieter bei einem existenziellen
Problem juristisch beizustehen, das im Verlauf des Films immer mehr aus dem
Ruder läuft. Es geht um acht Gemälde eines vermeintlich gescheiterten
Künstlers, die sich der Kunstliebhaber Pieter anstelle der alljährlichen
Dienstgeschenke vom Kunstarchiv, wo er angestellt ist, hat schenken lassen. Blöderweise
ohne schriftliche Bestätigung, was nun ein Problem darstellt. Denn der
vermeintlich gescheiterte Künstler ist inzwischen zum Star der Kunstszene
avanciert, der Wert seiner Gemälde bewegt sich inzwischen im sechs- bis
siebenstelligen Bereich und Pieters Chef fordert die Kunstwerke zurück. Die
sind aber mittlerweile gar nicht mehr alle in Pieters Besitz.
Der
vierte im Freundschaftsbund heißt Maarten. Er ist Theaterregisseur und sein
neues Stück steht kurz vor der Premiere. Sein Problem hat einen weiblichen
Vornamen und heißt Laura. Die 18jährige steht bei seiner Inszenierung in einer
Nebenrolle auf der Bühne, nackt, dafür spielt sie die Hauptrolle in seinem
Sexleben, auch nackt. Vor allem: Laura ist Joeps älteste Tochter, der nichts
von der Affäre weiß und sich vorerst nur über den Umstand aufregt, dass Laura
nackt auftritt. Warum ihm das so wichtig ist, das darf man getrost fragen, zumal ihm am gleichen Tag bewusst wird, dass er ihren 18. Geburtstag vergessen hat; ausgerechnet Maartens muss ihn daran erinnern. Ihm steckt das Geständnis in der Kehle, aber vorerst kommt es nicht dazu. Die Premiere ist dann auch einer der emotionalen und filmischen
Höhepunkte von Cloaca.
Was
die vier Freunde vereint und auszeichnet, ist vor allem ihre ihre Selbstbezogenheit. Ihre grandiose
Fähigkeit, einander nicht zuzuhören,
die Probleme der anderen nur an der Peripherie wahrzunehmen, ein leises
Nebengeräusch, während das eigene Leben wie ein Laubbläser die Aufmerksamkeit
jedes einzelnen beansprucht. Allenfalls Pieter hat eine Fähigkeit zur Empathie
beibehalten, die anderen drehen sich fast ausschließlich um sich selbst.
Erstmal plappern sie eine ganze Weile munter aufeinander ein und aneinander
vorbei, ohne sich dieses Umstands bewusst zu werden, was den Film sehr
vergnüglich und unterhaltsam macht. Erst nach und nach bröckelt die
handgreiflich demonstrierte Freundesfassade (schulterklopf, bruststoß).
Ausgangspunkt ist ein Callgirl, das Maartens als Geburtstagsgeschenk für Joep
gerufen hat, als wäre er ein Teenager, der sich die Hörner abstoßen müsste. Dann
plötzlich steht die Loyalitätsfrage im Raum, so nackt und unübersehbar wie
Laura auf der Bühne, so unerbittlich wie das Gesicht des Callgirls, deren
Kaiserschnittsnarbe Joep die Lust vergällt. Ihm dämmert: Er hat ja schon ein
Leben, sie alle stehen schon mitten drin, in diesem Leben, auch wenn sie das
nicht gemerkt haben und sich gerne weismachen, es stehe ihnen noch so viel
bevor. Und es tun sich auch Gräben zwischen den Freunden auf, die die Jahre durch übersehen wurden, weil sie sich nicht nah genug waren. Maartens spottet über Pieters Homosexualität, Tom schimpft Joep einen Feigling, weil er die Auseinandersetzung mit seiner Familie scheut, und alle gestehen Maartens, dass sie seine Theateraufführungen nur mit vier Espressi (pro Person) durchstehen – und dennoch einschlafen.
Cloaca ist eine wirklich gelungene
Mischung von Drama und Komödie, die Dialoge haben Tiefgang, das Timing ist
exzellent, die Fotografie auch, es wird viel experimentiert mit Licht, Farbe und Überblendungen.
Mit
Blick auf den provokativen, unappetitlichen Titel kann man den Film auch
als ein Essay verstehen über die Schwierigkeit von uns Menschen, zu
verdauen, was uns widerfährt, uns auseinanderzusetzen mit dem, was uns zu denen macht, die wir sind.
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