Montag, 16. Juli 2012

Cloaca (Holland, 2003)


Regie: Willem van de Sande Bakhuyzen

Trailer

Kammerspiele haben auch im Film ihren ganz eigenen Reiz, erst vor wenigen Tagen erwähnte ich Hitchcocks Lifeboat im Zusammenhang mit Verschwörung im Berlin-Express. Die Außenwelt ist keine Option oder bietet kein Entrinnen an. Jean-Paul Sartres Theaterstück Huis Clos (1944) war wohl meine erste Begegnung mit dieser Gattung, Eugene O’Neills A long day’s journey into the night (1956), beide las ich im Gymnasium, später dann Samuel Becketts Endspiel (ebenso 1956) und in Cambridge sah ich einmal eine grandiose Aufführung von Athol Fugards berührendem Apartheid-Stück My children! My Africa! aus dem Jahre 1989. Dass Kammerspiele oft auf Theaterstücken beruhen, ist natürlich kein Zufall, da wird aus der Not eine Tugend gemacht. Man nehme einen Raum und lasse ein paar Figuren los, die aufeinander angewiesen, füreinander verantwortlich, einander ausgeliefert sind. Los. Versuchsanordnung mit garantiert explosivem Potenzial.



Filme aus diesem Genre, die mir sofort in Erinnerung kommen, sind John Hughes’ The Breakfast Club (1985), James Foleys großartige Umsetzung von David Mamets Vorlage Glengarry Glenn Ross (1992), Romuald Karmakars Der Totmacher (1995, siehe Bild oben) mit einem atemberaubenden Götz George oder Theo van Goghs Interview (2003), das 2007 von und mit Steve Buscemi neu verfilmt wurde und vor zwei Jahren in einer schönen Inszenierung im Zürcher Theater Neumarkt lief (mit Birgit Minichmayer). Das jüngste Beispiel für ein wirklich überzeugendes Kammerspiel ist Polanskis tolle Umsetzung von Yasmina Rezas Carnage (Der Gott des Gemetzels) von 2011 (siehe Bild unten).



Cloaca beruht auf dem gleichnamigen Stück von Maria Goos (2002), die auch das Drehbuch zum Film schrieb. Die Themen sind Freundschaft und Loyalität. Der Titel lässt noch tiefer schürfen: ›Cloaca‹ kann stellvertretend für den menschlichen Verdauungsvorgang gelesen werden, so hat der belgische Konzeptkünstler Wim Delvoye im Jahre 2000 eine Simulation des menschlichen Verdauungstrakts mit diesem Namen erschaffen. Mehr dazu unter http://de.wikipedia.org/wiki/Wim_Delvoye und am Ende dieser Rezension.

Zur Handlung: Vier Mittvierziger, die seit über zwanzig Jahren miteinander befreundet sind, stolpern mehr oder weniger gleichzeitig über das Leben. Zentraler Schauplatz ist die mondäne Wohnung des frustrierten Büroangestellten und homosexuellen Single Pieter. Der zurückhaltende, beruflich steckengebliebene Kunstgeschichtsabsolvent lässt Joep und Tom vorübergehend bei sich wohnen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen gerade ohne Bleibe sind.
Joep ist ein erfolgreicher smarter Politiker, der kurz davorsteht, zum Außenminister ernannt zu werden. Bei seinem beruflichen Aufstieg ist seine Familie auf der Strecke geblieben und seine Frau hat ihn rausgeworfen. Dabei mag seine außereheliche Beziehung eine Rolle spielen, aber auch seine Entfremdung vom ganz normalen Wahnsinn des familiären Alltags. Seine ersten Auftritte sind unglaublich lustig, er kann gar nicht mehr aufhören, sich bei seinen Freunden über alltägliche Kleinigkeiten auszulassen: hat er doch hunderte Kugelschreiber von Sitzungen mitgebracht, aber wenn er einen braucht, sind alle verschwunden. Hat seine Frau doch tatsächlich eine Schlafzimmerlampe neben das Wohnzimmersofa gestellt, in deren schwachem Licht er seine Dokumente nicht entziffern kann. Macht die doch tatsächlich einen Salsakurs und legt ihm bloß ein fieses Sandwich auf den Abendbrottisch.  All das demonstriert, wie überflüssig und überfordert er sich dabei fühlt, verbindliche Beziehungen zu Menschen zu pflegen, deren Existenz sich frecherweise nicht in erster Linie um ihn und seine Bedürfnisse drehen.



Tom, ein Hüne von Mann, hat gerade eine Kokainentzugskur hinter sich, redet aber noch derart wirres Zeugs, als befände er sich nach wie vor auf einem Trip, weshalb Pieter ihn vorsorglich bei sich aufgenommen hat. Tom ist eigentlich Anwalt, aber die Klientel ist ihm abhanden gekommen, resp. sie existierte wohl gar nie, weshalb er sich mit dem Texten von Versandkatalogen der Textilindustrie über Wasser hält. Deren Floskeln kann er ansatzlos und im unpassendsten Moment auswendig herbeten. Obwohl er alles andere als zurechnungsfähig scheint, ist er gewillt, Pieter bei einem existenziellen Problem juristisch beizustehen, das im Verlauf des Films immer mehr aus dem Ruder läuft. Es geht um acht Gemälde eines vermeintlich gescheiterten Künstlers, die sich der Kunstliebhaber Pieter anstelle der alljährlichen Dienstgeschenke vom Kunstarchiv, wo er angestellt ist, hat schenken lassen. Blöderweise ohne schriftliche Bestätigung, was nun ein Problem darstellt. Denn der vermeintlich gescheiterte Künstler ist inzwischen zum Star der Kunstszene avanciert, der Wert seiner Gemälde bewegt sich inzwischen im sechs- bis siebenstelligen Bereich und Pieters Chef fordert die Kunstwerke zurück. Die sind aber mittlerweile gar nicht mehr alle in Pieters Besitz.
Der vierte im Freundschaftsbund heißt Maarten. Er ist Theaterregisseur und sein neues Stück steht kurz vor der Premiere. Sein Problem hat einen weiblichen Vornamen und heißt Laura. Die 18jährige steht bei seiner Inszenierung in einer Nebenrolle auf der Bühne, nackt, dafür spielt sie die Hauptrolle in seinem Sexleben, auch nackt. Vor allem: Laura ist Joeps älteste Tochter, der nichts von der Affäre weiß und sich vorerst nur über den Umstand aufregt, dass Laura nackt auftritt. Warum ihm das so wichtig ist, das darf man getrost fragen, zumal ihm am gleichen Tag bewusst wird, dass er ihren 18. Geburtstag vergessen hat; ausgerechnet Maartens muss ihn daran erinnern. Ihm steckt das Geständnis in der Kehle, aber vorerst kommt es nicht dazu. Die Premiere ist dann auch einer der emotionalen und filmischen Höhepunkte von Cloaca.



Was die vier Freunde vereint und auszeichnet, ist vor allem ihre ihre Selbstbezogenheit. Ihre grandiose Fähigkeit, einander nicht zuzuhören, die Probleme der anderen nur an der Peripherie wahrzunehmen, ein leises Nebengeräusch, während das eigene Leben wie ein Laubbläser die Aufmerksamkeit jedes einzelnen beansprucht. Allenfalls Pieter hat eine Fähigkeit zur Empathie beibehalten, die anderen drehen sich fast ausschließlich um sich selbst. Erstmal plappern sie eine ganze Weile munter aufeinander ein und aneinander vorbei, ohne sich dieses Umstands bewusst zu werden, was den Film sehr vergnüglich und unterhaltsam macht. Erst nach und nach bröckelt die handgreiflich demonstrierte Freundesfassade (schulterklopf, bruststoß). Ausgangspunkt ist ein Callgirl, das Maartens als Geburtstagsgeschenk für Joep gerufen hat, als wäre er ein Teenager, der sich die Hörner abstoßen müsste. Dann plötzlich steht die Loyalitätsfrage im Raum, so nackt und unübersehbar wie Laura auf der Bühne, so unerbittlich wie das Gesicht des Callgirls, deren Kaiserschnittsnarbe Joep die Lust vergällt. Ihm dämmert: Er hat ja schon ein Leben, sie alle stehen schon mitten drin, in diesem Leben, auch wenn sie das nicht gemerkt haben und sich gerne weismachen, es stehe ihnen noch so viel bevor. Und es tun sich auch Gräben zwischen den Freunden auf, die die Jahre durch übersehen wurden, weil sie sich nicht nah genug waren. Maartens spottet über Pieters Homosexualität, Tom schimpft Joep einen Feigling, weil er die Auseinandersetzung mit seiner Familie scheut, und alle gestehen Maartens, dass sie seine Theateraufführungen nur mit vier Espressi (pro Person) durchstehen – und dennoch einschlafen.

Cloaca ist eine wirklich gelungene Mischung von Drama und Komödie, die Dialoge haben Tiefgang, das Timing ist exzellent, die Fotografie auch, es wird viel experimentiert mit Licht, Farbe und Überblendungen.
Mit Blick auf den provokativen, unappetitlichen Titel kann man den Film auch als ein Essay verstehen über die Schwierigkeit von uns Menschen, zu verdauen, was uns widerfährt, uns auseinanderzusetzen mit dem, was uns zu denen macht, die wir sind.






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