Donnerstag, 12. Juli 2012

Filmrezension: "Ondskan" (Schweden, 2003)


Regie: Mikael Håfström

Trailer

Dass wir Menschen dumm und gewalttätig sein können, ist nichts Neues. In Filmen langweilt mich diese Gewalt oft, oder sie stößt mich ab, zum Beispiel beim hundertsten Mafiaepos oder beliebigen anderen Geschichten von sich bekriegenden Gangs, Drogenhändlern und anderem "Geschmeiß" (Zitat Klaus Kinski). Warum? Zum einen weil ja häufig nicht ganz unbeteiligt daran ist, wer sich auf der Suche nach schnellem Geld mit sinistren Gestalten einlässt, mit Drogen handelt oder Waffen spazieren trägt. Berufsrisiko halt, so ähnlich wie Formel-I-Rennfahrer. Knallt der gegen die Balustrade, war's halt das eine Mal zu viel gerast. Hätte ja Bäcker werden können. Oder Zeuge Jehovas. Whatever. Zum andern, weil die Mafia in meinem Leben bisher eine marginale Rolle gespielt hat. Und drittens überleben die Hauptfiguren – sofern sie nicht sterben – meist nur, weil sie in ihrer Ausübung der Brutalität noch erfolgreicher sind als ihre Widersacher. Damit kann ich mich nur schwer identifizieren. Aber klar, ich akzeptiere solche Filme aus Genregründen.
Wirklich berühren, interessieren und empören kann mich das Phänomen Gewalt in Erzählungen, wenn sie sich unter Menschen abspielt, die keine Wahl haben, die ungewollt mit ihr konfrontiert werden und ihr ausgesetzt sind.
"Ondskan" (englischer Titel: Evil) von Mikael Hafström (2003) knüpft an Internats- und Schulromane an, wie sie erstmals in wilhelminischer Zeit geschrieben wurden, besonders an die sadistischen Triebe der Protagonisten aus Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törless«. Aber auch an »Rebel without a cause« von Nicholas Ray mit James Dean, über den zwei Figuren auch sprechen. Und er erinnert an Hanekes furchterregend guten »Das weiße Band«, der einige Jahre später entstand.
Schweden in den 50er Jahren. Erik Ponti kommt an ein Internat, weil er sich durch Prügeleien an seiner Schule unmöglich gemacht hat. Woher diese Gewalt kommt, dafür hat der Film eine vielleicht etwas simple, aber eindrückliche Erklärung. Der zweite Mann von Eriks kettenrauchender Mutter ist ein Sadist aus der Schublade Schwarze Pädagogik und prügelt seinen Stiefsohn gerne nach dem Essen für Nichtigkeiten. Schlimmer als die Prügel selbst ist die Art und Weise, mit der der Prügelvater die Züchtigungen ankündigt: »Wie immer, wenn ich etwas nicht verstehe, sprechen wir uns nach dem Essen.« Die Mutter spielt derweil Klavier, um die Schläge und das eigene Schweigen zu übertönen.
Am Internat wird er schnell mit der internen Hackordnung vertraut gemacht, welche willkürliche Demütigungen der Jüngeren durch die Primaner vorsieht – nicht nur still geduldet, sondern als notwendig erachtet von der ehrwürdigen, ausschließlich männlichen Lehrerschaft. Darunter ist mindestens ein waschechter Nazi, ein nationalistischer Geschichtslehrer, der vor versammelter Klasse ‹südländisch‹ aussehende Schüler gegenüber nordischen verunglimpft. Auch bei solchen Menschen kann sich die jugendliche Gewalt ihre Vorbilder holen.
Bereits die Verteilung der Zimmer sieht eine Hierarchie vor: Je länger man an der Schule ist, desto komfortabler wohnt man, ›Olympia‹ heißt der Trakt der herrschenden Klasse folgerichtig, aus deren Reihen sich auch der sogenannte ›Schülerrat‹ bildet, eine schulinterne pseudoformelle Form instutionalisierter Selbstjustiz. Aber auch die Herkunft spielt eine Rolle: Zuoberst auf der Leiter stehen die adligen Sprösslinge, nach ihnen kommen die Vermögenden, der kleine Rest ist Ausschuss. Der aus einfachen Verhältnissen kommende Erik ist gewillt, alles über sich ergehen zu lassen, weil er seiner Mutter versprochen hat, die Schule abzuschließen. Schließlich hat sie sogar Teile ihres Mobiliars verkauft, um dem einzigen Sohn das teure Internat bezahlen zu können.
Was Erik nicht tut: Er weigert sich, den beiden Anführern der Primaner, allen voran der schnöselige Schlaks Silverhjelm, die Schuhe zu putzen. Und er verweigert die Teilnahme an einer inszenierten Prügelei, was ihm den Titel ›Ratte‹ einbringt, der ihn fortan begleitet. Bei diesem geselligen Demütigungsritual stehen alle Schüler im Kreis um einen sogenannten ›Ring‹, in dem zwei Primaner den willkürlich ausgesuchten vermeintlichen Übeltäter so lange prügeln, bis er aufgibt und aus dem Ring kriecht. »Kriech!« schreit es aus allen Kehlen. Die Einstellungen mit den geifernden Fratzen der Mitschüler sind stark, sie zeigen offen die Lustangst vor der Gewalt und holen einen emotional ab.

Man ahnt im Verlauf des Films, oder befürchtet vielmehr, dass Eriks Leidensfähigkeit irgendwann ein Ende haben wird. Er war ja an der vormaligen Schule derjenige, der andere verprügelte. Allerdings weiß er auch, dass, wer einen aus dem ›Schülerrat‹ schlägt, von der Schule gewiesen wird. Und man vermutet, dass es etwas zu tun haben wird mit seinem Zimmergenossen Tanguy – ein ideales Opfer der faschistoiden Primaner, weil Büchernarr und unsportlich – und seiner streng verbotenen Liebschaft zu einer jungen finnischen Küchengehilfin Marja. Das sind die Zutaten des Dramas, das sich nun abspielt. Keine neue Geschichte, aber eine, die davon lebt, dass man in dem Gesicht des Protagonisten nicht ablesen kann, wie weit er bereit ist, sich demütigen und schikanieren zu lassen.
Von den Fratzen der Gewalt bleibt mir nebst dem prügelnden Stiefvater und den beiden Rädelsführern vor allem die brüllende Menge, allesamt jugendliche Schüler, die ihre Gunst stets den jeweils Stärkeren zuwenden und Spaß an der Demütigung anderer finden. Jeder von ihnen ist froh, wenn es ihn nicht erwischt, und die Freude darüber äußert sich in der Begeisterung, das Heer zu bilden, das die sich abspielenden Ungerechtigkeiten durch schiere Masse legitimiert.
Der Film ist eine Gratwanderung zwischen engagiert und stillem Pathos, der stille Erik erinnert sehr stark an James Dean, den leidenden Einzelgänger. Aber im Zentrum steht für mich die Brutalität, mit der man als ein in die Welt geworfener ohne eigenes Zutun konfrontiert werden kann, ohne dass eine Notsituation wie z.B. ein Krieg besteht. Ganz im Gegenteil: Das Schweden der 50er sieht in diesem Film auf der Oberfläche eigentlich ganz ordentlich, beschaulich und harmlos aus.

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