Sonntag, 15. Juli 2012

Die besten Absichten (Den goda viljan)

Regie: Bille August 1991
Drehbuch: Ingmar Bergman

☞ Trailer




So, und damit komme ich zu Bille August Film Die besten Absichten.
Der Film beginnt mit einer hammerharten Szene. Sie erzählt von der Rache des Ohnmächtigen, vom Triumph der Jugend über Alter und Tod. Konkret: Der junge Henrik lässt sich von seinem Großvater bitten, er möge doch die sterbenskranke Großmutter im Krankenhaus besuchen, zum Dank winken eine lebenslange Pension – das anscheinend lange versagte Geld für den Jungen und seine Mutter. Geld für Liebe und Zuwendung. Man ahnt, hier wurde Porzellan zerschlagen, hier ist eine Familie zerbrochen, hier wurde jemand verstoßen. Der Enkel lässt den Großvater im Namen der Sterbenden betteln und bitten – regungslos, mit schmalem Mund, hört er dem Alten zu, beinahe neugierig, wie weit dieser bereit ist, sich herabzulassen, wie viel Erniedrigung er bereit ist auszuhalten. Dann lehnt er ab, genauso regungslos, aber bestimmt, streng, leise genüsslich. Ende der Szene. Schnitt. Die eigentliche Erzählung setzt jetzt erst ein – Jahre später.



Fast drei Stunden lang (Epik! Geduld!) begleitet man ihn, den halbwaisen ärmlichen Theologiestudenten Henrik, und Anna, die Tochter aus gutem Hause, auf dem schwierigen gemeinsamen Weg ihrer Liebe und Ehe. Es vergehen rund zehn Jahre, zuletzt sind sie irgendwo um die dreißig. Wir befinden uns in Schweden um die Jahrhundertwende. Im Sommer herrscht Tschechowsche Atmosphäre: summende Hitze, Frauen und Männer in weißen Kleidern, Ausgelassenheit, make the most of it, bevor der lange Winter kommt. Schnell wird klar, dass Annas Mutter mit den Neigungen ihrer Tochter nicht einverstanden ist, sie traut dem stets blassen, schmallippigen, zuweilen leblos scheinenden Henrik mit seinem immer etwas schief wirkenden Schnurrbart nicht, sie wünscht sich jemand anderes für ihre Tochter. Lange ist unklar, ob sich Anna fügt, daran ist Henrik mit seinem kargen, enigmatischen Wesen nicht unbeteiligt. Kalt kann er sein, störrisch und aufbrausend, man erschrickt, man denkt, bei dem stimmt was nicht, in dem steckt ein Trauma, und man erinnert sich an die erste Szene. Zuweilen denkt man, bei dem ist irgendwie eine Schraube locker, aus dem Stoff sind Selbstmörder und Amokläufer gemacht. Und man wundert sich: was sieht Anna in ihm? Warum begehrt sie ihn? Warum riskiert sie den Familienfrieden. Hier entzieht sich der Film einer plausiblen Antwort. Er überlässt die Antwort einem selbst. Sie liebt ihn eben, will ihn für sich. Ick will det – und det reicht! Anna erinnert mich in ihrer stillen Bestimmtheit an die lautstarke Vehemenz der tollen Kathrin Angerer, die diesen Satz in Castorfs Inszenierung von Dostojewskis Der Spieler an der Berliner Volksbühne im September 2011 immer wieder rausbrüllte, wie nur eine Kathrin Angerer es kann. Und auch nur bei Castorf. Ick will det – und det reicht!
Kann schon sein, dass es Anna reizt, aus der Familienzwangsjacke auszubüchsen, sie ist eben keine Tony Buddenbrook, die in Thomas Manns gleichnamigen Roman von 1901 ihren Frauentraum Morten Schwarzkopf für den greulichen Betrüger namens Grünlich (!) fahren lässt, weil der geliebte Herr Papa letzteren für standesgemäß hält – irrtümlich und zu ihrem Leidwesen, wie sich später herausstellt. Anna will Henrik einfach, vermutlich weil in ihr eine Stimme sagt: Der ist es. Kein anderer. Damit müssen die Eltern leben, und mit ihnen auch der Betrachter. Mehr gibt’s nicht. Und Henrik? Liebt er Anna? Was an ihr liebt er? Man weiß es nicht. Er gibt sogar seine – schönere – Geliebte für sie auf, die wie er aus ärmlichen Verhältnissen kommt. Sie ist Kellnerin, während Anna eine Ausbildung zur Krankenschwester macht. Auch seine Mutter, die erst nach der Hälfte des Films eingeführt wird, hat ihre Zweifel an der Beziehung, bittet Gott um Vergebung dafür, dass sie sie nicht lieben kann. Ach, die Liebe, was sie vermag und wo sie uns einen Streich spielt. Am Beispiel des kleinen Petrus, einem armen Wurm, der von zuhause wegläuft, exerziert der Film vor, was sie mit uns anstellt. Auch wenn es sich bei ihm nur um eine Nebenfigur handelt, sind die Szenen mit ihm extrem berührend – eine stellt für mich sogar den emotionalen Höhepunkt des Films dar.



Die besten Absichten erzählt von der Liebe und ihren Grenzen, und zwar auf eine sehr intensive Weise, indem er den Figuren, besonders Henrik und Anna, viel Raum einräumt. Immer wieder – und eben dank langen Einstellungen – hat man Zeit, in den Gesichtern und Mienen der beiden zu lesen, oft begleitet von einer sehr feinen Klaviermusik, einem sehr einfachen Motiv, das immer nur angespielt wird, sehr dezent. Und immer wieder stellt man sich die Fragen: Was spielt sich hinter dieser Stirn ab? Was denkt er jetzt? Was fühlt sie? Kippt sie jetzt? Rastet er jetzt aus? Auch das ist Spannung, und sie fordert kaum Handlung, nur (und das ist nicht eben wenig) ein sorgfältiges Drehbuch, gute Gesichter und eine sorgfältige Regie. Das mag nicht aufregend klingen, aber die Geschichte dieser beiden einander ausgesetzten Menschen setzt sich einem mehr im Kopf fest als viele andere aufgeregten Filme. Sie wirkt wie ein exemplarisches Essay über die Stärke und Unbestimmtheit unserer Gefühle, die Fragilität des Glücks und die existenzielle Not von uns einsam Liebenden und liebend Einsamen.
Denn alle haben sie beste Absichten. Der Titel ist Programm. Beide wollen den andern nur das Beste – aber eben auch für sich selbst; Henriks Mutter für Henrik, Annas Tochter für Anna und Anna für ihren Sohn, das Paar für den dahergelaufenen Petrus, Henrik als Pfarrer für seine Gemeinde. Die besten Absichten erzählt uns: Liebe ist vielleicht nicht gerade eine Quadratur des Kreises, aber sie ist auch nicht weit davon entfernt.
Der Film ist auch optisch schön anzusehen und geht dabei sorgfältig vor, ist nicht schwelgerisch veranlagt, beutet keine Stimmungen aus. Die Landschaften Schwedens in den verschiedenen Jahreszeiten tragen viel zur Atmosphäre bei, der natürliche und soziale Kosmos, in dem sich diese Geschichte abspielt, die spröde Schönheit Uppsalas, demgegenüber die strenge Kargheit des Nordens (selbst der Norden hat seinen Norden), die Armut und Anmut der bescheidenen Menschen, aber auch ihre Selbstsucht und der gesellschaftliche Brand, der sich selbst in entferntesten Landschaften am frühen Klassenkampf jener Zeit entzündet. 



Zuletzt noch ein Wort zu Ingmar Bergman, der 2007 verstorbenen schwedischen Theater- und Filmlegende. Er verfasste das Drehbuch zu Die besten Absichten, und ohne das zu wissen, fühlte ich mich während des Films immer wieder an seine Bildsprache erinnert, kein Wunder. Nicht alle seine Filme interessierten mich, aber manche haben sich mir für immer eingeprägt. Dazu vier Beispiele: Das Schweigen (1963) blieb mir als eindrückliches (wenn auch schwer aushaltbares) Psychogramm zweier ungleicher Schwestern im Gedächtnis (siehe Bild unten), Das Schlangenei (1977) als eine frühe Begegnung mit dem Phänomen Faschismus, Das siebente Siegel (1957) als Begegnung mit dem Thema Tod und Fanny und Alexander (1982) als bilderstarke Auseinandersetzung mit den Schrecken und Freuden der Kindheit sowie den unvereinbaren Weltbildern von Protestantismus und Katholizismus.




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