Dieser Text ist ein vorsichtiges Plädoyer für etwas Geduld
mit ›langsamen‹ Filmen. Es steht im Zusammenhang mit meiner Rezension von ›Den goda viljan‹ (›Die besten
Absichten‹) von Bille August.
Langsame Filme. Zeit zum Hinsehen. Plansequenzen.
Meditatives Sehen und Eintauchen in Geschichten. Es gibt Menschen, die schwören
darauf. Es sind in der Regel ältere Semester, gerne auch Kulturpessimisten, die
auf die ›Zeitenklage‹ setzen: Früher, ja früher, da hatte man noch Zeit. Was
ziemlicher Unsinn ist. Wann soll dieses ›Früher‹ denn gewesen sein? Klammer
auf: Schon Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Zeitenwandel Einzug gehalten,
häuften sich die Klagen von Menschen über die nervliche Belastung, mit der sie
die Neue Zeit konfrontierte, die sich mit ›Moderne‹ nur ungefähr beschreiben
lässt. Es entstand sogar ein Krankheitsbild, ›Neurasthenie‹; der Befund kam aus
dem Nichts und wurde massenhaft diagnostiziert, gerade in der Schicht der
Intellektuellen, ein Phänomen, das in seiner Häufung mit dem heutigen Burn-Out
vergleichbar ist. Auch heute sind viele von uns überarbeitet und überreizt. Zu
viele Möglichkeiten, zu viele Angebote, die man nicht alle abschlagen kann oder
glaubt zu können oder nicht abschlagen möchte, zu viele Anforderungen, denen
man gerecht zu werden versucht. Schon vor über hundert Jahren offenbarte sich
eine gewisse Überforderung mit dem beschleunigten Alltag und seinen Begleiterscheinungen.
Der Kulturwissenschaftler Joachim Radkau hat dazu ein schönes Buch geschrieben
und damit möchte ich die Klammer schließen: Es heißt „Das Zeitalter der
Nervosität“ (München, Wien 1998) und ist eine sehr spannende Lektüre für
Interessierte.
Zurück zum Filmischen – und ein kurzer Blick in
einen wichtigen Aspekt der Filmgeschichte: Der Anstieg der Schnittfrequenz in
filmischen Erzählungen war unter anderem eine Reaktion auf die relativ hohe
Schnittfrequenz der frühen TV-Werbung und hat seinen Ursprung in den 50ern. Die
Werbespots waren flott geschnitten, sie mussten viele Informationen in kurzer
Zeit vermitteln. Time is money, Sendezeit kostet. Daneben
wirkten die langsam geschnittenen Filme, Sendungen und Serien gemächlich, mit
der Zeit etwas zu gemächlich, eine Gefahr für die
Einschaltquoten. Also musste die Branche nachziehen. Es dauerte eine Weile, bis
sich die Beschleunigung durchsetzte. Wer heute Serien und Filme aus den
Achtzigern sieht, und zwar den Jahren, bevor Musikclipsender
wie MTV loslegten, wähnt sich teilweise noch in der Vorkriegszeit. Andererseits
gibt es auch Ausnahmen, sogar relativ frühe, z.B. die Mordszene unter der
Dusche in Hitchcocks Psycho (1960): 2:16 Minuten und 54
Schnitte bedeuten eine durchschnittliche Einstellungslänge von 2.5 Sekunden,
was aus heutiger Sicht nicht sehr beeindruckend ist, trotzdem ist es eine tolle
Sequenz (siehe Bild unten). Überhaupt waren Actionfilme, also etwa Thriller,
Agenten-, Science-Fiction- und Horrorfilme wohl schon immer tendenziell rascher
geschnitten als Melodramen. Der Einzug der sogenannten ›Blockbuster‹ ins Kino
brachte gut zehn Jahre vor der Zäsur durch die Videoclips eine weitere
Beschleunigung mit sich , z.B. Steven Spielbergs Jaws (Der
Weiße Hai, 1976) oder George Lucas’ Star Wars (1977).
Unabhängig von dieser Entwicklung gab und gibt es
immer Regisseure, Filmkulturen und Genres, die langsamer erzählen. Sie erhalten
eine Kultur aufrecht, die eine Nähe des Films zur Fotografie behauptet. Sie
sagt: Sieh hin. Mach Dir ein Bild. Sei nicht ungeduldig. Lass es auf Dich
wirken.
Allerdings – und um die Gegenperspektive
einzunehmen: es reicht nicht, wenn ein Spielfilm einfach Plansequenz an
Plansequenz reiht, es kommt immer noch darauf an, wie interessant das ist, was
erzählt wird. Wer jemals einen Film des im Januar 2012 verstorbenen Griechen
Theo Angelopoulos gesehen hat, weiß vielleicht, was ich meine. Langsam
geschnittene Filme können auch sehr seeeehr langweilig werden, dröge, kopfig,
bedeutungsschwanger. Ächz. Das ist teilweise schwer auszuhalten, nicht erst
heute. Als Beispiele könnte ich Antonionis gerne hochgelobten Zabriskie
Point (1970) anführen (1968)– und zwar den gesamten Film vor der
berühmten Explosion der Villa am Schluss, eine einzige Qual, trotz durchaus
attraktiven Darstellern (siehe Bild unten). Oder Der Blick des Odysseus (1995)
des oben genannten Angelopoulos – der Film hat mich dermaßen gelangweilt, das
ich heute vergessen habe, ob ich rausgelaufen oder eingeschlafen bin, oder ob
ich mit meiner Begleitung zu knutschen begonnen habe. Vielleicht war ich ja
auch alleine im Kino. Egal. Und: nichts gegen Angelopoulos im Generellen, dazu
kenne ich ihn zu wenig.
Andererseits: Wenn der Gegenstand der Erzählung
interessant ist und wenn die Länge der Einstellungen tatsächlich etwas
transportiert, was ansonsten verloren ginge, also etwa Atmosphäre, Raum für
Reflexionen, Fragen und Erkenntnisse, dann sind lange Einstellungen ein ganz
starkes Mittel, um dem Film, den Schauspielern, aber auch dem Betrachter Zeit
zu geben, mitzufühlen, mitzudenken, sich auszumalen, was gerade vor sich geht.
Es gibt einen so einfachen wie plausiblen Grund dafür: Nicht alles im Leben
lässt sich beschleunigen, auch nicht im filmischen Leben, es sei denn auf
Kosten der Glaubwürdigkeit. Manche Situationen dauern ihre Zeit, manche
beanspruchen Momente des Schweigens, manchmal erwischt einen das Leben dermaßen
auf dem falschen Fuß, dass man einfach mal eine Weile ungläubig vor sich hin
starren muss, manches muss verdaut werden, manche Begegnungen sind wortlose
Ewigkeiten. Die Leere muss spürbar sein, sie frisst Sekunden, wenn nicht
Minuten. Die Authentizität, die Lebensechtheit solcher Momente – das können lange
Einstellungen vermitteln. Da geht es nicht sofort weiter im Text, resp. im
Leben, resp. im Film, da wird geschwiegen, da treffen sich sprachlose Blicke –
oder sie treffen sich eben nicht. Es braucht nicht mal Musik. Die kann auch
stören, oder dem Betrachter vormachen: Fühl jetzt so oder denk das. Stille kann
sehr gut sein trotz langer Einstellungen.
PS. Weil ich oben davon schrieb, wie lange manche
Dinge im Leben wie in Filmen dauern können, hier noch abschließend ein Hinweis
auf einen kuriosen Filmmord, der Geschichte geschrieben hat. Es ist wieder mal
ein Film von Hitchcock; an ihm scheine ich derzeit anscheinend nicht
vorbeizukommen. Also: Normalerweise wird in Filmen relativ rasch gestorben. Am
raschesten sterben unwichtige Vertreter der Bösen, besonders wenn sie in Massen
auftreten (egal ob in Fantasyfilmen wie Lord of the Rings oder
in Kriegsfilmen wie Platoon). Aber auch wenn sie einzeln auftreten,
genügt oft ein Genickschlag oder ein Schuss – und zack! liegen sie da und
bewegen sich nicht mehr. Am langsamsten sterben umgekehrt die besten
Freunde des Protagonisten, aber auch die obersten Widersacher von James Bond
und Konsorten. Mehr dazu vielleicht ein andermal. Hitchcock jedenfalls wollte
in Torn Curtain (1966, siehe Bild oben), einem
Spionagethriller aus der Zeit des Kalten Kriegs, einmal illustrieren, wie lange
es dauern kann, bis jemand mal endlich tot ist, wenn man nicht kampfsportler
ist und mindestens Jason Statham oder Arnie heißt. Der amerikanische
Wissenschaftsspion Armstrong (Paul Newman) braucht in der Küche eines
ostdeutschen Bauernhauses gut und gerne 5 Minuten, bis der so schlaue wie zähe
Stasiagent Gromek (Wolfgang Kieling) endlich am ausströmenden Gas des Ofens (!)
erstickt, nachdem Küchenmesser und Spaten versagt haben, und das trotz der
Hilfe einer befreundeten einheimischen Bäuerin. Es ist der emotionale Höhepunkt
des Films – und zwar lange lange vor dem Ende des ansonsten eher schwachen
Films.
Habe diesen Essay erst jetzt bemerkt und mit Genuss gelesen.
AntwortenLöschenZwei Randbemerkungen:
Erstens stimmt mit der Schrift hier bei mir etwas nicht - die Unterlängen sind abgeschnitten. So sieht das bei mir aus: https://www.dropbox.com/s/8ffgbhbv4sho1hz/Bildschirmfoto%202013-01-19%20um%2017.51.10.png
Zweitens finde ich den Aspekt interessant, dass früher immer alles langsamer etc. war, es ist ein Fetischismus, eigentlich. http://schulesocialmedia.com/2012/07/16/der-real-life-fetisch-vom-wunsch-offline-zu-sein/
Mit ein paar Monaten (nicht mal ein ganzes Jahr!) Verspätung habe ich Deinen Kommentar gesehen – sorry! und danke!
AntwortenLöschenZu 1. Kannst Du es so besser lesen: http://lesensehendenken.blogspot.ch/search/label/Essay%3A%20Langsame%20Filme
2. Dein Eintrag ist sehr schön, die Zitate von Kühl sind so amüsant wie welthaltig.