Sonntag, 15. Juli 2012

Essay: Langsame Filme



Dieser Text ist ein vorsichtiges Plädoyer für etwas Geduld mit ›langsamen‹ Filmen. Es steht im Zusammenhang mit meiner Rezension von ›Den goda viljan‹ (›Die besten Absichten‹) von Bille August.


Langsame Filme. Zeit zum Hinsehen. Plansequenzen. Meditatives Sehen und Eintauchen in Geschichten. Es gibt Menschen, die schwören darauf. Es sind in der Regel ältere Semester, gerne auch Kulturpessimisten, die auf die ›Zeitenklage‹ setzen: Früher, ja früher, da hatte man noch Zeit. Was ziemlicher Unsinn ist. Wann soll dieses ›Früher‹ denn gewesen sein? Klammer auf: Schon Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Zeitenwandel Einzug gehalten, häuften sich die Klagen von Menschen über die nervliche Belastung, mit der sie die Neue Zeit konfrontierte, die sich mit ›Moderne‹ nur ungefähr beschreiben lässt. Es entstand sogar ein Krankheitsbild, ›Neurasthenie‹; der Befund kam aus dem Nichts und wurde massenhaft diagnostiziert, gerade in der Schicht der Intellektuellen, ein Phänomen, das in seiner Häufung mit dem heutigen Burn-Out vergleichbar ist. Auch heute sind viele von uns überarbeitet und überreizt. Zu viele Möglichkeiten, zu viele Angebote, die man nicht alle abschlagen kann oder glaubt zu können oder nicht abschlagen möchte, zu viele Anforderungen, denen man gerecht zu werden versucht. Schon vor über hundert Jahren offenbarte sich eine gewisse Überforderung mit dem beschleunigten Alltag und seinen Begleiterscheinungen. Der Kulturwissenschaftler Joachim Radkau hat dazu ein schönes Buch geschrieben und damit möchte ich die Klammer schließen: Es heißt „Das Zeitalter der Nervosität“ (München, Wien 1998) und ist eine sehr spannende Lektüre für Interessierte.

Zurück zum Filmischen – und ein kurzer Blick in einen wichtigen Aspekt der Filmgeschichte: Der Anstieg der Schnittfrequenz in filmischen Erzählungen war unter anderem eine Reaktion auf die relativ hohe Schnittfrequenz der frühen TV-Werbung und hat seinen Ursprung in den 50ern. Die Werbespots waren flott geschnitten, sie mussten viele Informationen in kurzer Zeit vermitteln. Time is money, Sendezeit kostetDaneben wirkten die langsam geschnittenen Filme, Sendungen und Serien gemächlich, mit der Zeit etwas zu gemächlich, eine Gefahr für die Einschaltquoten. Also musste die Branche nachziehen. Es dauerte eine Weile, bis sich die Beschleunigung durchsetzte. Wer heute Serien und Filme aus den Achtzigern sieht, und zwar den Jahren, bevor Musikclipsender wie MTV loslegten, wähnt sich teilweise noch in der Vorkriegszeit. Andererseits gibt es auch Ausnahmen, sogar relativ frühe, z.B. die Mordszene unter der Dusche in Hitchcocks Psycho (1960): 2:16 Minuten und 54 Schnitte bedeuten eine durchschnittliche Einstellungslänge von 2.5 Sekunden, was aus heutiger Sicht nicht sehr beeindruckend ist, trotzdem ist es eine tolle Sequenz (siehe Bild unten). Überhaupt waren Actionfilme, also etwa Thriller, Agenten-, Science-Fiction- und Horrorfilme wohl schon immer tendenziell rascher geschnitten als Melodramen. Der Einzug der sogenannten ›Blockbuster‹ ins Kino brachte gut zehn Jahre vor der Zäsur durch die Videoclips eine weitere Beschleunigung mit sich , z.B. Steven Spielbergs Jaws (Der Weiße Hai, 1976) oder George Lucas’ Star Wars (1977).



Unabhängig von dieser Entwicklung gab und gibt es immer Regisseure, Filmkulturen und Genres, die langsamer erzählen. Sie erhalten eine Kultur aufrecht, die eine Nähe des Films zur Fotografie behauptet. Sie sagt: Sieh hin. Mach Dir ein Bild. Sei nicht ungeduldig. Lass es auf Dich wirken.


Allerdings – und um die Gegenperspektive einzunehmen: es reicht nicht, wenn ein Spielfilm einfach Plansequenz an Plansequenz reiht, es kommt immer noch darauf an, wie interessant das ist, was erzählt wird. Wer jemals einen Film des im Januar 2012 verstorbenen Griechen Theo Angelopoulos gesehen hat, weiß vielleicht, was ich meine. Langsam geschnittene Filme können auch sehr seeeehr langweilig werden, dröge, kopfig, bedeutungsschwanger. Ächz. Das ist teilweise schwer auszuhalten, nicht erst heute. Als Beispiele könnte ich Antonionis gerne hochgelobten Zabriskie Point (1970) anführen (1968)– und zwar den gesamten Film vor der berühmten Explosion der Villa am Schluss, eine einzige Qual, trotz durchaus attraktiven Darstellern (siehe Bild unten). Oder Der Blick des Odysseus (1995) des oben genannten Angelopoulos – der Film hat mich dermaßen gelangweilt, das ich heute vergessen habe, ob ich rausgelaufen oder eingeschlafen bin, oder ob ich mit meiner Begleitung zu knutschen begonnen habe. Vielleicht war ich ja auch alleine im Kino. Egal. Und: nichts gegen Angelopoulos im Generellen, dazu kenne ich ihn zu wenig.




Andererseits: Wenn der Gegenstand der Erzählung interessant ist und wenn die Länge der Einstellungen tatsächlich etwas transportiert, was ansonsten verloren ginge, also etwa Atmosphäre, Raum für Reflexionen, Fragen und Erkenntnisse, dann sind lange Einstellungen ein ganz starkes Mittel, um dem Film, den Schauspielern, aber auch dem Betrachter Zeit zu geben, mitzufühlen, mitzudenken, sich auszumalen, was gerade vor sich geht. Es gibt einen so einfachen wie plausiblen Grund dafür: Nicht alles im Leben lässt sich beschleunigen, auch nicht im filmischen Leben, es sei denn auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Manche Situationen dauern ihre Zeit, manche beanspruchen Momente des Schweigens, manchmal erwischt einen das Leben dermaßen auf dem falschen Fuß, dass man einfach mal eine Weile ungläubig vor sich hin starren muss, manches muss verdaut werden, manche Begegnungen sind wortlose Ewigkeiten. Die Leere muss spürbar sein, sie frisst Sekunden, wenn nicht Minuten. Die Authentizität, die Lebensechtheit solcher Momente – das können lange Einstellungen vermitteln. Da geht es nicht sofort weiter im Text, resp. im Leben, resp. im Film, da wird geschwiegen, da treffen sich sprachlose Blicke – oder sie treffen sich eben nicht. Es braucht nicht mal Musik. Die kann auch stören, oder dem Betrachter vormachen: Fühl jetzt so oder denk das. Stille kann sehr gut sein trotz langer Einstellungen.




PS. Weil ich oben davon schrieb, wie lange manche Dinge im Leben wie in Filmen dauern können, hier noch abschließend ein Hinweis auf einen kuriosen Filmmord, der Geschichte geschrieben hat. Es ist wieder mal ein Film von Hitchcock; an ihm scheine ich derzeit anscheinend nicht vorbeizukommen. Also: Normalerweise wird in Filmen relativ rasch gestorben. Am raschesten sterben unwichtige Vertreter der Bösen, besonders wenn sie in Massen auftreten (egal ob in Fantasyfilmen wie Lord of the Rings oder in Kriegsfilmen wie Platoon). Aber auch wenn sie einzeln auftreten, genügt oft ein Genickschlag oder ein Schuss – und zack! liegen sie da und bewegen sich nicht mehr.  Am langsamsten sterben umgekehrt die besten Freunde des Protagonisten, aber auch die obersten Widersacher von James Bond und Konsorten. Mehr dazu vielleicht ein andermal. Hitchcock jedenfalls wollte in Torn Curtain (1966, siehe Bild oben), einem Spionagethriller aus der Zeit des Kalten Kriegs, einmal illustrieren, wie lange es dauern kann, bis jemand mal endlich tot ist, wenn man nicht kampfsportler ist und mindestens Jason Statham oder Arnie heißt. Der amerikanische Wissenschaftsspion Armstrong (Paul Newman) braucht in der Küche eines ostdeutschen Bauernhauses gut und gerne 5 Minuten, bis der so schlaue wie zähe Stasiagent Gromek (Wolfgang Kieling) endlich am ausströmenden Gas des Ofens (!) erstickt, nachdem Küchenmesser und Spaten versagt haben, und das trotz der Hilfe einer befreundeten einheimischen Bäuerin. Es ist der emotionale Höhepunkt des Films – und zwar lange lange vor dem Ende des ansonsten eher schwachen Films.

2 Kommentare:

  1. Habe diesen Essay erst jetzt bemerkt und mit Genuss gelesen.
    Zwei Randbemerkungen:
    Erstens stimmt mit der Schrift hier bei mir etwas nicht - die Unterlängen sind abgeschnitten. So sieht das bei mir aus: https://www.dropbox.com/s/8ffgbhbv4sho1hz/Bildschirmfoto%202013-01-19%20um%2017.51.10.png
    Zweitens finde ich den Aspekt interessant, dass früher immer alles langsamer etc. war, es ist ein Fetischismus, eigentlich. http://schulesocialmedia.com/2012/07/16/der-real-life-fetisch-vom-wunsch-offline-zu-sein/

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  2. Mit ein paar Monaten (nicht mal ein ganzes Jahr!) Verspätung habe ich Deinen Kommentar gesehen – sorry! und danke!
    Zu 1. Kannst Du es so besser lesen: http://lesensehendenken.blogspot.ch/search/label/Essay%3A%20Langsame%20Filme
    2. Dein Eintrag ist sehr schön, die Zitate von Kühl sind so amüsant wie welthaltig.

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