Donnerstag, 2. August 2012

Für immer und ewig (Dänemark 2002)



Regie: Susanne Bier

☞ Trailer

Kontingenz, Biologie und Überforderung

Ein starker, ein sensibler, ein melancholischer Film, ein Film, der sich einem einprägt. Ich spüre es genau, ich bin jetzt versucht, ein Plädoyer für solche Drehbücher zu halten, die wie ein Schlag in die Magengrube wirken, aber ich tu es nicht, eine besondere Form des Tinnitus hindert mich daran: eine Stimme im Hinterkopf, die flüstert: ›Heuchler, Prophet in der Wüste‹ und ähnlich unschöne Dinge. Denn natürlich, I confess, man kann konsequent engagierte Filme wie Elsker dig for evigt nicht mit derselben Ruhe genießen (und ergo bedenkenlos empfehlen) wie – sagen wir – Les intouchables (Olivier Nakache & Eric Toledano; F 2011). Letzterer, die kommerziell erfolgreiche Komödie über den querschnittgelähmten Reichen und unterprivilegierten Gesunden, ruft uns zu: Hey, ob du laufen kannst oder nicht, schwarz bist oder weiß, alles nicht so schlimm, alles eine Frage der richtigen Einstellung. Leb dein Leben. Ausrufungszeichen. Sieh nach vorn. Ausrufungszeichen. Just do it. Undsoweiter. Und wer es bis dann noch nicht glaubt: Hey, es ist eine wahre Geschichte. Na dann, dann muss es ja wahr sein, was da suggeriert wird. Nein, nichts gegen diesen Ansatz, Humor als Regenschirm der Weisen, Katharsis durch Lachen, die Nähe von Tragödie und Komödie, schon klar. Dennoch langweilt mich daran die so absehbare wie penetrante Mischung von Rührseligkeit und Fingerzeigerei mehr, als dass sie mich zu unterhalten vermag oder gar bewegt. Und ich will manchmal von Themen bewegt werden, gerade solchen, die nah am Leben sind. Wie Krankheit, Verlust und Tod.
Elsker dig for evigt tut das, und darin erinnert der Film an Schulddramen wie Wolfsburg (D 2000) von Christian Petzold, mit Nina Hoss (atemberaubend) und Benno Führmann, oder an den fulminanten 21 grams von Alejandro González Iňárritu (USA 2003, mit Sean Penn, Naomi Watts, Benicio Del Toro Charlotte Gainsbourg). Alle drei erzählen auf kompromisslose Weise davon, was Verkehrsunfälle mit unseren Leben anstellen und in unseren Seelen anrichten.



Willkommen in Dogma-Land. Wo man die Gnade der Drehbuchschreiber für trostbedürftige Herzen beim Eingang an der Garderobe hängen sieht. Die Geschichte beginnt mit einem Faustschlag, dass einem der Atem stockt. Ein kleiner Moment der Unaufmerksamkeit – und schon hat ein junger Mann seine Zukunft verloren, jedenfalls die, die er sich als einzige vorstellen kann, als körperlich unversehrter Mensch. Vom Hals abwärts gelähmt liegt Joachim in seinem Krankenhausbett und wie ein verwundetes Tier knurrt er alle an, die sich ihm nähern, besonders Krankenschwester Hanne – und seine Freundin Cecilie. Diese ignoriert das verwirrt, interpretiert es als Hilferuf, versucht nach dem ersten Schock umzuschalten, will ihm zeigen: Ich bin für dich da, ich liebe dich, wir schaffen das. Man hat seine Zweifel, denn so sehr sie sich das vielleicht wünscht, so sehr spürt man: sie weiß nicht, was sie da sagt. Beide sind komplett überfordert. Wer wäre das nicht. In poetischen kleinen Einschüben erfahren wir etwas über die Wunschträume Cecilies. Wie er seine Hand nach ihr ausstreckt. Lächelt.
Das war einmal. Ein Schnitt holt uns zurück in die Wirklichkeit, die neue Wirklichkeit, und wir merken, wie nahe sich die beiden inkommensurablen Wirklichkeiten sind, wie nahe wir selbst am Abgrund stehen. Das Reale zeigt uns seine Fratze. Da kann man schon mal an Büchner denken, z.B. Dantons Tod: »[D]ie Erde ist eine dünne Kruste, ich meine immer ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist.« Wie lange versucht sich ein Mensch vorzumachen, dass die bekannte Wirklichkeit nicht mehr zu haben ist? Einmal zieht sich Cecilie vor ihm aus, präsentiert ihm ihren nackten Körper in der neckischen Reizwäsche, die er ihr noch als Unversehrter gekauft hatte. Sie will sich ihm begehrenswert zeigen, will ihn erinnern, bietet sich an, ein untauglicher Versuch, nein, ein kontraproduktiver, es quält ihn, und sie versteht nicht, drängt ihm ihre Nähe auf, zieht seine erschlafften, aber noch kräftig wirkenden Arme auf ihren Körper, doch sie gleiten natürlich ab. Der Film erzählt mit mehreren solcher Bilder und Episoden, wie ohnmächtig der himmeltraurige Joachim plötzlich der ebenso ohnmächtigen Cecilie ausgeliefert ist. Weglaufen kann er ja nicht. Also bleibt ihm nichts anderes übrig, als sie so lange anzuschreien, bis sie geht. Das nackte Grauen.



Szenenwechsel: Marie, vor deren Auto Joachim lief, ist am Boden zerstört. Ihre älteste Tochter, die pubertierende Stine, hatte sie gedrängt, schneller zu fahren, nun macht sich Marie Vorwürfe und will helfen, irgendwie. Ihr Mann Niels, Arzt in dem Krankenhaus, in dem Joachim liegt, erklärt ihr, dass es da nichts zu helfen gibt. Als aber Cecilies Verzweiflung zusehends das Krankenhauspersonal in Schach hält, fordert Marie Niels auf, sich wenigstens um die junge Frau zu kümmern, und sei es miten in der Nacht. Das tut er dann auch, aber anders, als Marie denkt. Aus Kontingenz entwickelt sich Biologie, aus der Zufälligkeit eines Moments der Unachtsamkeit gerät eine vermeintlich feste Welt ins Wanken. Der Film bewegt sich fortan vorwiegend an zwei Schauplätzen, der möbel- und sinnentleerten Wohnung Cecilies und der bedrohten Familienidylle des Ehepaars. Und er bewegt sich vor allem ständig an der Grenze der diversen Möglichkeiten, die sich aus der Exposition ergeben. Ohne Partei zu ergreifen, erzählt er von dem, was den Figuren geschieht, wie sie schwanken, wie sie nicht begreifen, nicht fertig werden, wie sie ausschlagen, verdrängen. Alle sind überfordert, und alle fühlen sich irgendwie schuldig.



Eine der Stärken des Films liegt in seiner elliptischen Erzählweise, manches wird bewusst offengelassen. Hat sich Niels verliebt? – und falls ja, nur in Cecilies Schönheit und Jugendlichkeit oder weil sie ihm so entgegenkam in ihrer Bedürftigkeit und ihm damit eine verantwortungsvolle Rolle zuschrieb? Hat Cecilie sich ihrerseits nur in den rettenden Engel in ihm verliebt, in seine Umarmung, ist er bloß ein Sprungbrett, um aus ihrem Dilemma herauszukommen? Oder ist sie gar ein oberflächlicher Mensch mit flüchtigen Gefühlen? Das Konsequente am elliptischen Erzählen ist in diesem Fall, dass die beiden selber die Antworten nicht kennen, denn etwas ist ihnen geschehen, worauf sie nicht vorbereitet waren, also legt sich das Drehbuch auch nicht fest.



Eine weitere Stärke ist die Besetzung. Die dänischen Schauspielakademien haben wirklich einige begnadete Schauspieler hervorgebracht. Mads Mikkelsen, international bekannt geworden durch seine Rolle als James-Bond-Bösewicht in Casino Royal (Martin Campbell, GB 2006), spielt den unschlüssigen Ehemann und Vater dreier Kinder wunderbar zurückhaltend, man liest neugierig in seinem oft verschlossenen Gesicht mit der trotzigen Oberlippe, das sich oft der billigen Eindeutigkeit verweigert. Ebenso beeindruckend ist die Frau mit dem wunderbaren Vornamen, Paprika Steen, als Marie. Sie spielte unter anderem in Thomas Vinterbergs legendären Dogmafilm Festen (1999) die weibliche Hauptfigur als Ulrich Thomsens depressive Schwester. Aber auch die Nebenfiguren sind stark besetzt, z.B. treibt die junge Stine Bjerregard als aufmüpfige Tochter die Handlung mit ihrer wütenden Jugendlichkeit voran. Sie begreift lange vor der Mutter dass der Vater etwas zu verbergen hat, und setzt ihm die Pistole auf die Brust.



Die bewegendsten Momente gehören für mich der Mimik des regungslos daliegenden Joachim und seinen wütenden Dialogen mit der Krankenschwester Hanne. Good Bye Method Acting. Selten habe ich so ungeschönt in einem Film gesehen, was ein Schicksalschlag mit uns anrichtet, die Bitternis, die er in uns auslöst. Unglaublich starke Momente sind das. Die souveräne und doch verletzliche Hanne wird übrigens von Birthe Neumann gespielt, die in Festen die schwierige Rolle der Ehefrau eines inzestuös veranlagten Patriarchen spielte.
Es ist eine schöne Sache, einen Dogmafilm zu finden, den man noch nicht kennt. Susanne Biers Nach der Hochzeit (Efter brylluppet, Dänemark 2006) und Zwischen Brüdern (Brødre, Dänemark) sind im Übrigen beide ebenso empfehlenswert.

Quelle:
Georg Büchner: Dantons Tod (ersch. 1835), 2. Akt, 2. Szene. In: Georg Büchner. Werke und Briefe. dtv München 1988, S. 95. 



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