Sonntag, 19. August 2012

Incendies (Kanada 2010)



Regie: Denis Villeneuve
☞ Trailer
Das Thema ›Krieg im Film‹. Ein Prolog. 
Was macht der Krieg aus uns? Wie viel Schmerz und Leid hält ein Mensch aus?  In den meisten erfolgreichen Filmen, die sich mit den Auswirkungen des Krieges auf das einzelne menschliche Leben befassen, geht es um Soldaten, Männer an der Front, die Waffen tragen und töten, um zu überleben. Frühe berühmte Beispiel dafür sind die Verfilmungen von Erich Maria Remarques Remarques Im Westen nichts Neues, v.a. die frühere von Lewis Milestone (1930), dann Bernhard Wickis Kindersoldatendrama Die Brücke von (1959, Bild unten) oder William Wylers The Best Years of Our Lives (USA 1946), in dem es um die Schwierigkeiten geht, die auf den Soldaten nach dem Ende des Krieges warten, wenn er die Uniform ablegen muss und ihm der Feind abhanden gekommen ist – und mit ihm der Lebenssinn.


Besonders der Vietnamkrieg inspirierte das amerikanische Kino, sich kritisch mit dem Thema auseinanderzusetzen. Es entstanden eine ganze Reihe großartiger Filme. Sie zeigen, wie Männer von der Gewalt infiziert werden, z.B. in The Deer Hunter (Michael Cimino, USA 1978), Apocalypse Now (Francis Ford Coppola, USA 1979), Full Metal Jacket (Stanley Kubrick, USA 1987, Bild unten) oder Jarhead (Sam Mendes, USA 2005), wie ihnen der Krieg den Verstand raubt (Birdy von Alan Parker, USA 1984), sie verstümmelt (Born on the Fourth of July von Oliver Stone, USA 1989) oder psychisch schädigt (American Beauty von Sam Mendes, USA 1999).



Filme, die sich mit Schicksalen befassen, in denen es um Zuschauer des Kriegsgeschehens geht, um Zivilisten, haben es auf dem großen Markt schwerer, weil die Identifikation mit den Protagonisten einen zwingt, dessen Ohnmacht auszuhalten. Er oder sie entwickelt nicht plötzlich ungeahnte kriegerische Fähigkeiten oder mutiert gar zum Rambo. Die rettende Kavallerie bleibt aus, die Gewalt lebt weiter, ihre Verursacher tun es auch. Zwei der wenigen guten und erfolgreichen Beispiele des amerikanischen Kinos dazu sind The Killing Fields (Roland Joffé, USA 1984, Bild unten), in dem ein Pressefotograf Zeuge der Blutbäder der Rothen Khmer in Kambodschas Bürgerkrieg wird, und Hotel Ruanda (Terry George, USA 2004), in dem ein Hotelmanager das internationale Renommée seiner Institution zu nützen versucht, um möglichst viele Tutsies vor dem sicheren Tod zu bewahren. Das erinnert an Schindler's List (Steven Spielberg, USA 1993), wobei der Industrielle Schindler selbst zu wenig gefährdet ist und zu fast jedem Zeitpunkt zu souverän wirkt, um dem oben genannten Muster zu entsprechen, dazu sind auch seine Beziehungen zu den Kriegsherren zu gut.


Noch weniger große Filme aus dem westlichen Kulturraum stellen Frauen ins Zentrum, die dazu verdammt sind, dabei zuzusehen, wie ihre Väter, Brüder, Gatten und Söhne töten, verrohen, als Helden sterben oder verschwinden. Auf Anhieb fällt mir kein einziger Titel dazu ein, allenfalls Geschichten in denen es um die Verarbeitung von Traumata geht, wie z.B. in dem sehenswerten The Secret Life of Words (Isabel Coixet, USA 2005, Bild unten), wo eine Frau an den Folgen des Krieges auf dem Balkan in den 90ern leidet. Euripides Tragödie Die Troerinnen aus dem Jahr 415 v. Chr. wäre jedenfalls das große Vorbild aus der abendländischen Literatur.

Nr. 72 (Incendies)


Und tatsächlich hat Incendies etwas von einer griechischen Tragödie, thematisch und was die Radikalität des Drehbuchs betrifft. Bereits in der ersten Szene zeigt sich das. Eine Frau ist gestorben, Immigrantin und alleinerziehende Mutter zweier erwachsener Kinder, die nun bei einem Anwalt in Kanada sitzen, um sich von ihm das Testament vorlesen zu lassen. Sie trauen ihren Ohren nicht. Nackt, mit dem Gesicht nach unten wolle die Mutter beerdigt werden. Kein Grabstein solle ihren Namen tragen. Und einen Auftrag erhalten sie, sie sollen zwei Briefe überbringen, an ihren Erzeuger und an ihren Bruder. Doch der Vater ist tot, hieß es immer. Und von einem Bruder war nie die Rede.  


Es geht um eine Suche nach den Wurzeln der Mutter. Nawal Marwan hat ein Rätsel hinterlassen, das die Kinder nun lösen sollen. Der zornige Simon verweigert sich, die Verstorbene sei ihm keine gute Mutter gewesen. So macht sich Jeanne vorerst alleine auf den Weg, mit nichts als einem alten Pass und einer Fotografie der Mutter im Gepäck, als sie jung war und im Nahen Osten lebte. »Der Tod ist nie das Ende einer Geschichte, Spuren finden sich immer« , sagt der Anwalt.


Schnitt. Libanon in den 1970ern, am Rande eines kleinen Dorfs, es ist heiß und trocken. Die junge Nawal will mit ihrem Geliebten fliehen, ihre beiden Brüder stellen sie und erschießen den jungen Mann. Warum? Er hatte die falsche Herkunft und mit der heimlichen Beziehung habe Nawal die Ehre der Familie aufs Spiel gesetzt. Sie selbst überlebt nur, weil die Großmutter dazwischenkommt. Gerade noch rechtzeitig. Sie schimpft mit den beiden Brüdern, als hätten sie bloß einen Ast des Obstbaums abgebrochen. So gesehen herrscht bereits Krieg.


Das Kind, das Nawal im Bauch trägt, darf sie austragen, unter der Bedingung, dass sie es ins Heim geben lässt und selbst in die ferne Stadt geht, um dort zu studieren. Sie solle diesem Elend entkommen, sagt die Großmutter – was zeigt: wir bewegen uns an einer Schnittstelle zwischen atavistischen Traditionen und dem Wunsch nach einem autonomen Leben als freie Frau. Oder was ist das für eine Welt, in der es heißt, ein Mensch sei eine ›Schande‹ für sein Dorf, auch noch viele Jahre später? Wenn alles, was sie tat, war, dass sie den falschen Mann liebte? (siehe Die Fremde von Feo Aladağ, D 2010)
Das Kind wird geboren, ein Junge, und Nawal verlässt das Kindsbett mit dem Versprechen, ihn zu sich zu holen. Nach einem Zeitsprung von wenigen Jahren bricht der Bürgerkrieg aus, die Uni wird geschlossen und die junge Frau begibt sich auf die Suche nach ihrem Sohn, die zu einer Odyssee durch ein verrohendes Land wird. Männer mit Maschinengewehren terrorisieren die Bevölkerung, unversöhnliche Gräben haben sich aufgetan. Was kann da eine einzelne Frau ausrichten, selbst wenn sie amazonengleich über sich hinauswächst? Irgendwann wird Nawal ihren Namen abgeben müssen und heißt fortan nur noch Nr. 72, worin sich des Rätsels Lösung verbirgt. Denn das vermag der Krieg mit uns zu machen. Er raubt uns unsere sicher geglaubte Identität und zwingt uns eine neue auf.


So beschreibt der Film zwei Frauen, die auf der Suche sind: Nawal sucht ihren Sohn, Jeanne nach Spuren des vergangenen Lebens ihrer Mutter in einem ihr völlig fremden Land, um herauszufinden, woher sie und ihr Bruder stammen. Eine Suche auf zwei zeitlichen Ebenen, aber an den gleichen Orten, getrennt durch ein paar Jahrzehnte und einen langen Krieg (1975-1990). Die Suche wird begleitet von unendlichem und unabwendbarem Leid, und das verbindet Incendies mit der griechischen Tragödie.


La femme qui chante lautet der paradox klingende Untertitel. Wenn man gegen eine übermächtige Gewalt nicht ankommt, dann kann man immer noch gegen sie ansingen, und sei es, um nicht den Verstand zu verlieren, weil man den noch brauchen wird. Dieser zähe Kampf ums physische und seelische Überleben, weil man sich etwas geschworen hat, das wird hier auf extrem eindrückliche Weise erzählt. Was ich extrem wohltuend finde: Das Drehbuch verzichtet auf jede Larmoyanz, auch Musik wird zumeist nur dezent eingesetzt. Es sind vor allem die Blicke, die sich einem einprägen, Blicke von Männern und von Frauen, die stellvertretend dafür stehen, dass es für manches einfach keine geeigneten Worte gibt. The rest is silence.



Die eindrückliche Leistung der Schauspielerinnen, vor allem Lubna Azabal trägt dazu bei, dass man manche Bilder nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Und ich vermute, dass diese Art von Filmen weiterhin wenig Chancen auf dem Markt haben werden, weil wir solche konsequente Darstellung von menschlichem Leid nur schwer aushalten. Um so mehr, wenn es darum geht, wenn es auch um Kinder geht.



Der Krieg sei der Vater aller Dinge, so wird Heraklit seit über 2500 Jahren zitiert. Eine mögliche Lesart wäre: Der Krieg zerstört so vieles in uns, dass danach notwendigerweise fast alles wieder von vorne beginnen muss, weil der Verlust und das Erlebte uns zu Versehrten, zu Anderen gemacht hat.

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