Würden
aus Frankreich nur landein landaus gefeierte Komödien wie Bienvenu chez les Chtis oder Les
Intouchables in unsere Kinos und DVD-Tankstellen kommen, ich hätte das
Interesse an diesem Filmland schon längst verloren und mich – sagen wir mal –
Bulgarien, Nordkorea oder dem Feuerland zugewendet. Der Grund, weshalb mich
diese launigen Feelgoodgeschichten langweilen, ist nicht, weil sich wirklich every Tom, Dick und Harry (englisch hat so tolle Wendungen) dafür begeistern.
Sondern weil sie so absehbar sind wie ein Besuch in einem der umsatzstarken amerikanischen Spezialitätenrestaurants,
um einen befreundeten Berliner Stadtbilderklärer zu zitieren. Familientauglich,
weichgekocht, ausgeleiert, konventionell. Im Westen nichts Neues.
Ganz anders zumindest zwei der drei Filme, die hier vorgestellt werden. Alle drei mit politischer Aussage und alle drei Überraschungseier.
Ganz anders zumindest zwei der drei Filme, die hier vorgestellt werden. Alle drei mit politischer Aussage und alle drei Überraschungseier.
Der gute Mensch von Marseille
Les Neiges du Kilimandjaro (2011) von Robert Guédiguian
Am
zahmsten kommt noch Robert Guédiguians Les
Neiges du Kilimandjaro (2011) daher. Der überzeugte Genosse
Michel (Jean-Pierre Daroussin) hat sich aus freien
Stücken um seine Beschäftigung gebracht. Er wollte sich aus Solidaritätsgründen
nicht der Auslosung entziehen, welche die Gewerkschaft im Auftrag der
Firmenleitung als Maßnahme durchführte, um eine Schließung zu verhindern,
und hat sich selber aus dem Erwerbsleben gelost. Immerhin: Das Häuschen ist
abbezahlt, seine Frau Marie-Claire (Ariane
Ascaride) liebt ihn für seinen Idealismus und die Kinder sind aus
dem Haus. Es gibt sicherlich schlimmere Schicksale, als im schönen Stadtteil
von Marseille in den Frühruhestand zu treten, sofern die Kasse stimmt. Bei der
Abschiedsfeier sind alle Freunde und Leidensgenossen eingeladen, die Kinder
schenken dem Paar eine Reise zum Kilimandscharo.
Doch
das Elend des Midi ist nahe, zu nahe, und trifft die beiden in Form eines
Raubüberfalls im eigenen Haus. Die Reisegutscheine wechseln den Besitzer, die
Konten werden geleert, Michel bricht sich den Arm, ansonsten kommt man mit dem
Schrecken davon. Durch einen Zufall kommt Michel dem Täter auf die Spur und
schaltet die Polizei ein. Die Ernüchterung ist groß, als sich herausstellt,
dass es ein ehemaliger Mitarbeiter ist. Dem ebenfalls entlassenen, aber 30
Jahre jüngeren Christophe (Grégoire
Leprince-Ringuet) ist in seiner Not nichts Besseres eingefallen, als bei
dem Mann einzubrechen, an dessen Fest er mittrank.
Michel
versteht die Welt nicht mehr. Ist das der Dank für seine Solidarität? Für
solche Menschen hat er sich ein Leben lang als Gewerkschafter eingesetzt? Der Film erzählt von einer politischen Haltung
auf dem Prüfstand, und davon, wie Michel mit seiner Verbitterung umgeht. Spielt
es in seiner Lage noch eine Rolle, dass Christophe zwei kleine Brüder zuhause
hat, der Vater unbekannt ist und sich die alleinerziehende Mutter nicht um sie kümmert?
Der
Film, der auf Victor Hugos Gedicht Les
pauvres gens (1859) beruht, hat gewisse dramaturgische Schwächen und
fordert Geduld vom Zuschauer, aber er ist heartwarming
und stellt eine wichtige Frage: die nach der Festigkeit unserer Vorstellung von
sozialer Gerechtigkeit und nach unserem Umgang mit dem konkreten Elend vor
unserer Tür. Kein neues Thema, zugegeben, auch kein sehr erbauliches, aber auch
keines, das man sich wegwünschen kann, denn Marseille ist überall.
Die Nutten von Paris und die unheimliche Sehnsucht nach dem Begehren
Elles (2011) von Małgorzata Szumowska
In
einer Art Vorruhestand befindet sich auch Anne (Juliette Binoche) in
Małgorzata Szumowskas anspruchsvollem Film
Elles
(2011). Allerdings ist es eher ein Ruhestand der Leidenschaften und der
Erwartungen an das Leben in einem Alltag des gehobenen mitteleuropäischen
Erwerbsbürgertums. Um es vorwegzunehmen: Es ist derjenige unter den drei
ausgewählten Filmen, der mich am meisten berührte und dramaturgisch am meisten
überzeugte.
Die arrivierte Journalistin und Mutter zweier Kinder arbeitet an einer Reportage über Prostitution unter Pariser Studentinnen, und zu Beginn sieht alles danach aus, als sorge sich hier eine abgeklärte Intellektuelle mit professioneller Neugier und Routine um das seelische und körperliche Wohl der jungen Frauen, die ihr freimütig von ihren teils krassen Erlebnissen mit den Freiern erzählen. Womit Anne und wir als Zuschauer nicht rechnen: beide Frauen, sowohl Lola (Anaïs Demoustier) als auch Alicja (Joanna Kulig), mögen ihren Alltag und stehen dazu. Das Geld, das sie damit verdienten, sei wie eine Sucht, wie das Rauchen, man könne nicht aufhören, und dafür nehmen sie bereitwillig manches in Kauf. Wie bitte? Sofort ist man skeptisch, vermutet Naivität und mangelnde Reflexion der eigenen Ausgeliefertheit.
Die
Polin Alicja beispielsweise begann aus Not mit der Prostitution. Die Vermietung
des Zimmers, das ihr die Mutter von Polen aus gemietet hatte, wurde vom
Besitzer an die unverschämte Bedingung geknüpft, sich vor ihm zu entblößen, sie
müsse sich doch darüber im Klaren sein, dass sie sonst kein so günstiges Zimmer
in dieser Lage bekäme. Weil sie dazu nicht bereit war und nachdem sie
feststellen musste, dass man ihr an der universitären Zimmervermittlungsstelle nicht
weiterhalf, kam sie zunächst bei einem Kommilitonen unter, der ihr erklärte,
dass sicher jeder Mann gerne mit ihr ins Bett wolle. Diesen Umstand machte sie
sich zunutze.
Alicja
wie Lola (die eigentlich Charlotte heißt) genießen es, begehrt zu werden, ihre
handverlesenen Freier erzählen ihnen viel aus ihrem Alltag und verwöhnen sie
mit ihrer Bewunderung und Aufmerksamkeit, sie bekochen sie, singen ihnen Lieder
vor, machen sie mit dem Begehren vertraut. Die Demütigung, nach der Anne immer
wieder fragt, findet zwar statt, sie wird weder ausgeblendet noch schöngeredet,
sie scheint aber eine untergeordnete Rolle zu spielen, dazu treten Lola und
Alicja viel zu selbstbewusst auf. Und es scheint, als ob die Erfahrungen und
deren Grenzwertigkeit sie mitunter mit einer Seite des Lebens vertraut machen,
die Anne in ihrem eigenen Leben vermisst, und zwar schmerzlich.
Grenzerfahrungen der Leidenschaft und des Begehrens.
Denn
parallel zu ihren Gesprächen mit den beiden jungen Frauen erleben wir Anne in
ihrem Alltag als zunehmend fahrig und unzufrieden, sowohl unter- als auch
überfordert. Einkaufen und raffiniert kochen für den Chef ihres Mannes, der zum
Abendessen eingeladen ist, den Kleinen vom Spiel mit der Playstation abhalten,
sich vom Größeren sagen lassen müssen, dass er ja nicht so werden wolle wie
seine Eltern und ihr rät, auch mal zu kiffen. Auf dem Computer des Mannes (Louis-Do de
Lencquesaing) entdeckt sie Pornos. Und dann ist da dieser verdammte
Kühlschrank, der einfach nicht schließt.
Nein, man beneidet sie nicht um diesen ganz normalen Alltag, und man sorgt sich plötzlich nicht mehr die beiden jungen Frauen, sondern um die Frau, die doch alles richtig gemacht hat in ihrem Leben: Familie, Karriere, schöne Wohnung. Sie fragt sich natürlich unweigerlich: Wenn so viele Männer zu solchen Frauen wie Lola und Alicja gehen, was ist dann mit meinem Mann? Und plötzlich sitzt sie wie eine Fremde am eigenen Küchentisch, bei Coq au Vin und inmitten einer belanglosen Konversation über Feriendestinationen. Elles verschafft uns einen ganz neuen Blick auf Annes Leben, das sich doch ganz erstrebenswert zeigte zu Beginn, wie auch auf das Leben der jungen Pariser Prostituierten, vielleicht beschönigend, vielleicht gefährlich, aber jedenfalls frei von einer fragwürdigen Moral.
Der sorgfältig gemachte Film ist schwierig insofern, als man bis zuletzt seiner eigenen Wahrnehmung
nicht traut, er fordert einen und mutet einem allerhand zu (freigegeben ab 16
Jahren), aber dadurch löst er auch etwas aus in einem, emotional und
intellektuell. Und was kann man mehr von
einem Film erwarten, der nicht bloß unterhaltend sein will?
Amoklauf der besonderen Art
Im
Vergleich dazu ist der dritte Film streckenweise eine Zumutung, von der man
nicht zu jedem Zeitpunkt sicher ist, ob man sie aushält oder aushalten möchte. Das Roadmovie Notre Jour Viendra (F
2010) von Romain Gavras erzählt von einer Art Amoklauf eines ungleich gleichen
Paars, dem jugendlichen Rémy (Olivier
Barthelemy) und dem Psychologen Patrick (Vincent Cassel in seiner
bisher krassesten Rolle). Was die beiden Männer verbindet, sind zwei Dinge: der
Umstand, dass sie rothaarig sind, und dass sie beide aus ihrem Leben ausbrechen
wollen. Wer eine mutige Prämisse für einen Langspielfilm sucht, voilà, diese
hier ist schwer zu toppen.
Was
ist genau ihr Problem? Der schlaksige Rémy fühlt sich zuhause und von
Gleichaltrigen gegängelt, er flüchtet sich in die World-of-Warcraft und verliebt sich in eine Mitspielerin, die er noch nie gesehen hat und die
sich später als Mann entpuppen wird. Patrick langweilt sich derart über die
Erzählungen seiner Patienten, dass er während der Sitzung eine Tüte Chips
rausholt. Vincent Cassel scheint keine Probleme damit zu haben, von Beginn an
die Rolle des unsympathischen Größenwahnsinnigen zu spielen und erinnert in den
besten Passagen an Klaus Kinski, was
unbedingt als Lob zu verstehen ist.
Per
Zufall lernen sich Patrick und Rémy kennen und im Handumdrehen macht sich der
Ältere zum Mentor des Jüngeren. In mephistophelischer Manier fordert er ihn
dazu auf, für sich einzustehen und alle Freiheiten zu nützen, um sich andere
untertan zu machen und damit sein Selbstwertgefühl zu stärken. Die Rothaarigen
gegen den Rest der Welt, scheint die Parole zu lauten. Opfer war gestern –The Empire Strikes Back. Die Rothaarigen seien ein Volk ohne Land und ohne Armee. Mit dieser hanebüchenen Kampfansage im Köcher sieht sich Patrick ins Recht gesetzt, Vertreter anerkannter Minoritäten wie Juden und Muslime, die ihren Weg kreuzen, zu beleidigen und anzugreifen, und schlägt mit seiner aggressiven Energie Rémy in seinen Bann: ›Willst Du Exilant sein oder Messias?‹, fragt er ihn, und die Antwort lässt nicht auf sich warten.
Auf der Suche nach dem Gelobten Land geriert sich Patrick als großes Vorbild, provoziert den jüngeren nach Leibeskräften, um ihn anzustacheln, pöbelt willkürlich Leute an und heckt allerlei pubertär wirkende Vorhaben aus, die auch stante pede umgesetzt werden. A Clockwork Orange goes France, könnte man meinen. Nur geht es hier um eine Art Befreiungskrieg in Guerillaform, allerdings auf ähnlich willkürlichen Bahnen. Sie brechen in Supermärkte ein, reißen junge Frauen auf, kommen auf fragwürdige Weise in den Besitz eines roten (!) Porsche und ziehen marodierend und vorläufig ziellos durch die unwirtlichste Gegend Frankreichs, die ich seit langem in einem Film gesehen habe, eine postindustrielle Mondlandschaft. Eins ist klar: das Gelobte Land sieht anders aus.
Auf der Suche nach dem Gelobten Land geriert sich Patrick als großes Vorbild, provoziert den jüngeren nach Leibeskräften, um ihn anzustacheln, pöbelt willkürlich Leute an und heckt allerlei pubertär wirkende Vorhaben aus, die auch stante pede umgesetzt werden. A Clockwork Orange goes France, könnte man meinen. Nur geht es hier um eine Art Befreiungskrieg in Guerillaform, allerdings auf ähnlich willkürlichen Bahnen. Sie brechen in Supermärkte ein, reißen junge Frauen auf, kommen auf fragwürdige Weise in den Besitz eines roten (!) Porsche und ziehen marodierend und vorläufig ziellos durch die unwirtlichste Gegend Frankreichs, die ich seit langem in einem Film gesehen habe, eine postindustrielle Mondlandschaft. Eins ist klar: das Gelobte Land sieht anders aus.
Das entdeckt der selbsternannte Messias Rémy dann rein zufällig auf einem Werbeprospekt: Ab nach Irland, der Insel der Rothaarigen. Fragte man sich schon zuvor, wer hier eigentlich wessen
Defizit wettmacht, ist nun der Wendepunkt erreicht. Hielt zu Beginn klar Patrick das Ruder in der Hand, macht
sich nun der zu Beginn schüchterne Rémy – und mit einer Armbrust (!) bewaffnet – zum Anführer.
Und als ob sie zwei widerstreitende Teile eines Körpers wären, scheint parallel dazu Patrick an Kraft zu verlieren, er fällt in sich zusammen und wirkt zwischenzeitlich wie ein gebrochener Mann. Spätestens als er sich irgendwann den Kopf kahlrasiert, wird klar, dass die Rothaarigkeit den beiden nur Vorwand war, um sich aus einem dahindümpelnden Leben heraus- und in eine Piratenexistenz hineinzukatapultieren. Die Macht der Erzählens steht dabei über alles. Zwar bleiben viele Fragen offen und manches erscheint etwas wirr, dennoch strahlt Notre Jour Viendra eine Kraft und einen Anarchismus aus, inhaltlich wie formal, der ihn sehenswert und einzigartig macht.
sich nun der zu Beginn schüchterne Rémy – und mit einer Armbrust (!) bewaffnet – zum Anführer.
Und als ob sie zwei widerstreitende Teile eines Körpers wären, scheint parallel dazu Patrick an Kraft zu verlieren, er fällt in sich zusammen und wirkt zwischenzeitlich wie ein gebrochener Mann. Spätestens als er sich irgendwann den Kopf kahlrasiert, wird klar, dass die Rothaarigkeit den beiden nur Vorwand war, um sich aus einem dahindümpelnden Leben heraus- und in eine Piratenexistenz hineinzukatapultieren. Die Macht der Erzählens steht dabei über alles. Zwar bleiben viele Fragen offen und manches erscheint etwas wirr, dennoch strahlt Notre Jour Viendra eine Kraft und einen Anarchismus aus, inhaltlich wie formal, der ihn sehenswert und einzigartig macht.
Ein vorläufiges Fazit: Frankreichs
Filmmaschine bleibt ein Überraschungsei – und man tut gut daran, sich an die
kleinen Filme zu halten, die nicht in jedem Kino laufen und die einen mit ihren
Geschichten zu überraschen vermögen.
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