Dienstag, 13. Mai 2014

Laurence Anyways (Kanada 2012)


Regie: Xavier Dolan


Mit: Suzanne Clément, Nathalie Baye, Mona Chakri
Dauer: 168 Minuten


Love her or leave him


Kanada in den 1990ern. Ein Mann will eine Frau sein und holt Anlauf. Der Imperativ steht laut und fordernd im Raum. Seine Geliebte will er mitnehmen, und sie will es auch. Lass uns das Verrückte versuchen. Doch ihr Instinkt macht nicht mit: sie will ihn, aber nicht sie. Sie will einen Mann. Der er nicht mehr sein möchte. Sein point-of-no-return ist erreicht, jetzt ist sie dran: Love her or leave him.

Das ist natürlich politischer Stoff für die Genderdebatte und als solcher so wichtig wie brisant.
Und es ist Stoff für ein großes Melodram im Quadrat.

Erzählt wird Leidensweg im Großformat, der dennoch nie ins Rührselige oder Hoffnungslose abdriftet. Klar ist: Laurence, Mittdreißiger, Lehrer für Literatur muss erst alles verlieren, von seiner Familie in Gestalt einer kühlen Mutter über seine Geliebte namens Fred bis zu seiner Stelle. Halt findet er bei einer Quasifamilie von Sängern, für die Fellini Pate gestanden sein muss. Was für Gestalten, was für Gesichter!

Überhaupt ist das eine der besonderen Eigenarten dieses Films: jede Menge Gesichter, gleich zu Beginn eine Einstellungsfolge, ganz dokumentarisch, und dennoch sorgfältig inszeniert. Ganz besonders schön dann jene Sequenz, als der bekennende Lehrer erstmals im Rock und geschminkt, aber noch mit ganz kurzen Haaren, durch die Gänge des Gymnasiums läuft. Wie auf einem Catwalk, sich in den Hüften wiegend.






Ähnlich schön, wenn auch ungleich abgründiger, die Sequenz, als sich Fred in ein Fest stürzt, um sich ihre Sorgen von der Seele zu tanzen und zu trinken. Da hat mir sogar ›Fade to grey‹ erstmals wieder gefallen, der alte Heuler aus den schwarzen 80ern. Wer ein Faible für eine gewisse Manieriertheit und Künstlichkeit hat, wird bei Dolan dem Ästheten reichlich bedient. Denn seine Filme sind zwischendurch genauso überdreht wie seine Figuren. Da verirren sich auch mal Sturzbäche ins Wohnzimmer:



Solche stilprägende Szenen, in denen mit überraschenden Einstellungen und viel Musik je nachdem schwüle, kühle oder grelle Atmosphäre geschaffen wird und Gefühle durcheinandergewirbelt werden, gibt es zuhauf. Sie schaffen einen Kontrast zu vielen sehr stillen Momenten und langen Einstellungen von den Beteiligten, die allesamt Leidende, aber immer auch wieder Feiernde sind. Nicht selten hätte man Lust, den Film anzuhalten und an den Gelagen teilzunehmen, in einer Art Umkehrung von Woody Allens ›The Purple Rose of Cairo‹. 

***

Seit ich Fassbinders legendäre Spätmelodramen gesehen habe, ›Lola‹ etwa, ›Lili Marleen‹ und das Epos ›Berlin Alexanderplatz‹, habe ich eine Schwäche für Melodramen. Und sie dürfen schwülstig sein. Almodovar kennt man inzwischen ja. Noch weniger bekannt ist Xavier Dolan. Und dessen Kanada ist so bunt und schräg, dass sich Fassbinder im jenseits bestimmt all seine Filme ansieht. 

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